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Palästinensische Kinderbuchautorin Sonia Nimr

»Wie sieht es in der Höhle aus?«

Feature
Palästinensische Kinderbuchautorin Sonia Nimr
Sonia Nimr, 64, aus Palästina, fand, es gebe zu wenig gute Literatur für Kinder auf Arabisch. Tamer Institute for Community Education

Das Erfolgsrezept der Autorin Sonia Nimr: unterhalten und Fantasie anregen, statt Vorschriften einzubläuen. Die Kinder sollen selbst erklären, was sie lesen wollen.

Wenn Sonia Nimr über Bücher für Kinder und Jugendliche redet, verdreht sie die Augen und schüttelt den Kopf. »Putz brav die Zähne, hör auf deine Eltern, blabla.« Je mehr sie darüber spricht, desto mehr gestikuliert sie mit ihren Händen. Die meisten Bücher nehmen Kindern und Jugendlichen die Fantasie, findet sie. »Lehrbücher sind nicht nur langweilig, sie töten auch das, was von deinen Gehirnzellen übriggeblieben ist.«

 

Sonia Nimr möchte ihren Lesern keine Lektionen erteilen. Die 64-Jährige unterrichtet Kulturwissenschaften und Philosophie an der Universität Birzeit im Westjordanland. Und sie schreibt Bücher für Kinder und Jugendliche. Angefangen hat sie in den späten 1970er-Jahren. Damals saß sie wegen ihrer politischen Haltung in einem israelischen Gefängnis. Sie schrieb sie einfach drauf los, erzählt sie, ohne dabei an eine Karriere als Autorin zu denken. »Die entstandenen Werke wurden konfisziert und sind seitdem verschollen «, sagt Nimr.

 

Rund 20 Jahre später befasste sie sich schließlich das erste Mal professionell damit, für Kinder zu schreiben. Zwei dieser Geschichten basieren auf palästinensischen Märchen. Die kamen bei den jungen Lesern sehr gut an, sagt Nimr. Die Schriftstellerin glaubt, dies habe daran gelegen, dass es zu der Zeit lediglich Übersetzungen oder solche Bücher gab, die Kinder erziehen sollten.

 

Dass sie sich schließlich auch Büchern für Jugendliche widmete, lag nicht nur an ihren eigenen Vorlieben. »Es gab einfach keine gute Literatur für die Altersgruppe auf Arabisch.« Immer mehr Autoren schreiben für ihre jungen Leser, ohne sie zu bevormunden. Sie kommen aus Palästina, dem Libanon, Ägypten – aus dem gesamten arabischsprachigen Raum. Ihnen gemein ist das Bedürfnis, Kindern und Jugendlichen vor allem Spaß am Lesen zu vermitteln und deren Fantasie anzuregen.

 

Nimr schafft in ihren Büchern weibliche Figuren, die mit Humor die Welt retten. Oder eben den Prinzen.

 

»Gut erzählte und schön illustrierte Geschichten stehen bei den Verlagen hoch im Kurs – auch im Nahen Osten«, pflichtet Petra Dünges bei, die Kinderbücher aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt. Das Repertoire an herausragenden Kinderbüchern werde immer größer. Ein Zeichen dafür seien auch die zahlreichen Preise für arabischsprachige Kinderliteratur, findet Nimr.

 

Ägypten und der Libanon sind die Zentren für arabische Publikationen. In Kairo gründeten 1974 einige Palästinenser einen Verlag, um Kinderliteratur zu veröffentlichen. Nimr glaubt, dass Dar Al-Fata Al-Arabi nicht nur eine Plattform schuf, sondern einen Schreibstil. In Palästina begannen Autoren, Dichter und Intellektuelle vor allem nach der Ersten Intifada Ende der 1980er-Jahre damit, für Kinder zu schreiben. »Literarische Werke repräsentierten oft das, was Erwachsene von Kindern erwarten, wie diese denken und sich verhalten sollen«, sagt Sharif Kanaana, der an der Universität Birzeit Anthropologie gelehrt hat.

 

Für Sonia Nimr sind Kinderbücher keine Einbahnstraße. Ohne Feedback von Kindern und Jugendlichen verschickt sie keines ihrer Manuskripte. Da kommen Mädchen wie Yara Saleh Tabakhna ins Spiel. Tabakhna ist die Tochter einer Sekretärin an der Universität Birzeit. Die Zehnjährige bekommt die Texte vor den Verlegern zu lesen und bespricht sie mit ihren beiden Cousinen.

 

Andere Kinder besuchen die »Friends School« in Ramallah, wo die Bücher auch im Unterricht besprochen werden. Alle Feedbackgeberinnen lesen die Bücher bis ins kleinste Detail. Einem Mädchen habe eine Szene in einer Höhle in der Buchreihe »Donnervogel« nicht gefallen, erzählt Nimr. Das Mädchen wollte mehr wissen: Wie sieht es in der Höhle aus? Was trägt die Heldin? Kurzerhand habe sie sich die Stelle noch einmal vorgenommen, sagt die Autorin.

 

Für Nimr ist es wichtig, ihre Leser ernst zu nehmen. Sie ist davon überzeugt, dass Kinder eine große Vorstellungskraft haben. »Wir nutzen das viel zu wenig. Dabei ist die Fantasie der Beginn neuer Ideen. Und Ideen sind der Beginn von Entdeckungen. Und Entdeckungen sind der Beginn eines Abenteuers. Und ein Abenteuer ist der Beginn von Wissen.«

 

Nimr schreibt ihre Geschichten nicht nur auf, sie führt sie auf. Und so braucht sie bei Lesungen auch kein Buch. Sie erzählt frei. Mal redet sie leise, mal schreit sie plötzlich auf. Sie legt Pausen ein und wartet. Eine Minute, zwei Minuten, drei Minuten. Abrupt dreht sie sich danach schon einmal um und haut auf den Tisch. Nimr erzählt ihre Geschichten nicht nur mit Worten, ihr ganzer Körper tut das. Sogar Erwachsene hören in ihren Lesungen gespannt zu und tauchen in die Welt ein, die sie kreiert.

 

Palästinensische Kinderbuchautorin Sonia Nimr
Im illustrierten Märchenband »Der König der Geschichten« (2014) versammeln sich die Tiere jede Nacht am »Hügel der Geschichten«, um sich zu beraten.

 

»Wir möchten ihre Fantasie fördern und nicht begrenzen. Wir ermutigen Fragen und Antworten, die dabei auftauchen«, sagt Renad Qubbaj. Sie leitet das »Tamer Institute for Community Education«, eine NGO, die sich seit dreißig Jahren für Kinderthemen in Palästina engagiert und auch die Lesungen mit Sonia Nimr organisiert. 2009 wurde die Organisation mit Sitz in Ramallah für ihre Verdienste um die Förderung von Kinderliteratur mit dem Astrid-Lindgren- Gedächtnispreis ausgezeichnet. Qubbaj ist davon überzeugt, dass Kinder und Jugendliche durch das Hinterfragen beginnen, ihre eigene Umgebung zu erkunden, ihren eigenen Weg zu gehen und eine starke Persönlichkeit zu entwickeln.

 

Nimr glaubt, dass dieses Erlebnis insbesondere für palästinensische Kinder und Jugendliche wichtig sei. »Täglich unter der Besatzung zu leben lässt sie sich hilflos, ohnmächtig und manchmal nutzlos fühlen. Mit ihrer Fantasie können sie aber der Realität für einige Momente oder Stunden, in denen sie ein Buch lesen, entfliehen. Sie können sich eine andere, bessere Welt vorstellen. Und vielleicht kämpfen sie eines Tages tatsächlich für eine bessere Welt«, ist die Autorin überzeugt.

 

Nimr schreibt mal im Dialekt, mal in einfachem modernen Hocharabisch. Mal nutzt die Autorin palästinensische Fabeln und Märchen, die ursprünglich für Erwachsene gedacht waren, und schreibt sie für Kinder um. Regelmäßig greift sie historische Ereignisse und kulturelle Bezugspunkte Palästinas auf. Vor allem aber bricht sie mit Stereotypen.

 

In den meisten Büchern, insbesondere in aus anderen Sprachen ins Arabische übersetzten Werken rette eine weiße, männliche Person die Welt oder der Prinz das Mädchen. »Mädchen sollten nicht denken, dass sie schwach seien und nichts machen könnten«, findet Nimr.

 

Daher schafft sie in ihren Büchern auch weibliche Figuren, die mit Humor und Intelligenz die Welt retten. Oder eben den Prinzen. All das, ohne ihren Lesern vorzusagen, dass Gleichberechtigung wichtig sei. Nimr glaubt, dass ihre Leser dies allein auf Grund der Tatsache verstehen, dass es in ihren Werken auch weibliche Heldinnen gebe.

 

Inzwischen erreichen die Abenteuer von Sonia Nimrs Heldinnen nicht nur die jungen Zuhörer bei ihren Lesungen, sondern auch im Klassenzimmer, vor allem durch die Weiterempfehlungen der Leser selbst. Kinder in der ganzen Region verfolgen die Abenteuer.

 

Und auch in Deutschland können Kinder inzwischen die Geschichten aus dem Nahen Osten entdecken. Bereits 2006 erschien »Ein kleines Stück Freiheit«, das Nimr mit der renommierten britischen Kinderbuchautorin Elizabeth Laird verfasste, im Arena Verlag. 2018 erschien der illustrierte Sammelband »Märchen im Gepäck« beim Aphorisma Verlag. Nimrs Buch »Wunderbare Reisen in fremde Länder« wurde 2014 mit dem »Etisalat-Preis für Arabische Kinderliteratur« ausgezeichnet, einem der renommiertesten Preise für Kinderliteratur in der arabischen Welt.

 

Auch für »Donnervogel« hat Nimr mit Nour eine Protagonistin geschaffen: nicht-weiß, weiblich und stark. Seit Nours Eltern starben, wohnt sie im Haus ihres Onkels. Nicht gewollt und ohne Freunde. Dann stirbt auch noch ihre Großmutter, und sie ist alleine. Als auf einmal Drachen auftauchen, muss das Mädchen die Welt retten. Tabakhna sagt, »Donnervogel« habe ihr so gut gefallen, dass sie bis spät in die Nacht gelesen habe, um zu wissen, wie das Buch endet. »Ich mag es vor allem, weil ich das Gefühl hatte, dass ich mitten in der Geschichte lebe, als ob ich ein Teil davon bin«, erzählt Nimrs treueste Leserin.

 

Während die Zehnjährige den zweiten Band in der »Donnervogel«-Reihe bereits gelesen hat, müssen sich die anderen Kinder und Jugendliche noch ein wenig gedulden. Das Buch soll im Frühjahr 2020 erscheinen. Doch Sonia Nimr hat bereits Ideen für weitere Bücher, unter anderem ist ein dritter Band zu »Donnervogel« ist in Planung. Yara Saleh Tabakhna wird ihren Job als Vorableserin sobald nicht verlieren.

Von: 
Christina Heuschen

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