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Der Reporter und der Orientalismus

Relotius, die Araber und die Journalistenehre

Essay
Der Reporter und der Orientalismus
Illustration: Aroussi Tabbena

Die Fälschungen des Claas Relotius haben im deutschen Journalismus ein mittelschweres Erdbeben ausgelöst – leider eher aus formalen Gründen. Über Inhalte redet die Branche lieber nicht. Zeit für eine Abrechnung.

In Hamburg, einer deutschen Stadt am Saume des Blätterwaldes, 3.000 Kilometer Luftlinie von Damaskus, entstiegen zwei fiktive Geschwisterpaare und eine Ikone des Widerstands der Märchenwelt. Ein junger Mann, sein Name Claas Relotius, 33 Jahre alt, hockt sich in den Staub der Buchstabensuppe und legt den Stift zur Seite. Man hört ihn leise atmen, als er sagt: »Bei Gott, ich hätte das nie schreiben dürfen.«

 

Der junge Mann, so werden es Kollegen beschreiben, habe »Angst vor dem Scheitern« gehabt und deswegen Texte »von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz« fabriziert. Szenische Einstiege, pseudo-objektive Zahlenangaben und dürre Satzkonstruktionen, gerne mit den Verben »hocken«, »atmen«, »sagen«: Die Versatzstücke, aus denen die Texte des ehemaligen Spiegel-Reporters Claas Relotius bestehen, wären auch dann nur mit Ironie zu ertragen, wenn man nicht wüsste, dass so manches erstunken und erlogen war.

 

Beim Spiegel und den Preis-Jurys geht man seit gut einem Jahr in Sack und Asche – ein bisschen wenigstens. Die Texte seien an sich gut, ja zu gut gewesen, heißt es allenthalben, nur leider erfunden – in Teilen zumindest. Sie seien zwar »Anlass zur Gewissensforschung«, so Nikolaus Brender, selbst mehrfach ausgezeichneter Journalist. Vom Deutschen Reporterpreis lässt er sich allerdings weiter zitieren: »An diesem Beispiel Haltung gegen Handwerk und Weltanschauung gegen Anschauung ausspielen zu wollen, bringt die Sache nicht weiter.« Vielleicht doch.

 

Auffällig ist, dass drei der prominenteren Fälschungen im Spiegel Flucht, Krieg und Gewalt in der Türkei, in Syrien und im Irak zum Thema hatten. Diese Geschichten wurden nicht bloß für glaubwürdig gehalten, sondern mit Preisen überhäuft und animierten die Leserinnen und Leser sogar zum Spenden. Es handelt sich um das Stück »Königskinder« vom Juli 2016 über zwei Flüchtlingskinder, das 2017 den Medienpreis der Katholischen Bischofskonferenz und den Reemtsma Liberty Award erhielt; um »Löwenjungen« vom Februar 2017 über zwei Kindersoldaten, dekoriert 2018 mit dem Nannen-Preis und dem Peter-Scholl-Latour-Preis; und um »Ein Kinderspiel« vom Juni 2018 über den Sprayer, der angeblich den Krieg in Syrien auslöste, ausgezeichnet mit dem Deutschen Reporterpreis desselben Jahres.

 

Anders als uns die Fakten-Checker der Aufklärungskommission des Spiegel einreden wollen, besteht der Skandal nicht so sehr darin, dass Autoren wie Relotius ungehindert Fakten erfinden. Ob die »Königskinder«, wie von ihm beschrieben, tatsächlich an der Wassermelonen-Ernte teilnahmen, wo doch die Wassermelonen-Saison laut den im Text beschriebenen Umständen schon vorbei sein musste, erscheint aufs Ganze gesehen doch eher unerheblich.

 

Das Hauptproblem liegt vielmehr in der Rahmung der Texte und der damit verbundenen Schreib- und Lese-Haltung. In allen drei Reportagen projiziert Relotius Gefühle, Gedanken und Sätze auf seine arabischen Protagonisten, die seine eigene, eurozentristische Sicht beglaubigen. Der Reporter als Bauchredner bestärkt so seine Autorität als allwissender Beobachter, während er vorgibt, für die Einheimischen zu sprechen, deren Erfahrungen aber tatsächlich marginalisiert.

 

Eigenständige, reflektierte arabische Stimmen fehlen.

 

Zudem schreibt Relotius ausschließlich über Kinder und Heranwachsende. Eigenständige und reflektierte arabische Stimmen gehen seinen Texten gänzlich ab. So, als habe es die vor 40 Jahren erschienene Kritik Edward Saids am Orientalismus nie gegeben, ist den Relotius-Texten eine orientalistische Macht-Asymmetrie eingeschrieben, die zugleich emotional übertüncht und damit verschleiert wird. Die Kinderfiguren und die ihnen zugeschriebenen Gedanken und Gefühle verkörpern exemplarisch dieses Machtgefälle. Angesichts der krassen Asymmetrie zwischen Beschreiber und Beschriebenen fallen einzelne Faktenfehler nicht mehr wirklich ins Gewicht.

 

Schon vor einem Jahr klagte die Journalistin Charlotte Wiedemann in der »Causa Relotius« eine kritische Auseinandersetzung mit dem »weißen Blick auf fremde Kulturen« ein. Passiert ist nichts dergleichen. Nicht die unübersichtliche Kriegssituation, die den Fakten-Check erschwert, oder erfundene Details kennzeichnen also die Relotius-Reportagen.

 

Ausschlaggebend ist vielmehr, dass sie einen imaginierten Orient erschaffen: »Syrien« und »Irak« lassen sich bestens mit fantastischem Inhalt füllen. Wie wir durch die Aufklärungskommission wissen, war es üblich, dass Relotius per Regieanweisung nach gefühligen Geschichten suchte und diese aufpeppte.

 

Praktisch ging er so vor, dass er Schilderungen von Erlebnissen seiner Protagonisten mit lokalen und internationalen Entwicklungen kombinierte, nicht zuletzt mit dem Flüchtlingssommer 2015. Er ließ die verschiedenen Ebenen sich gegenseitig kommentieren und erzeugte so den Eindruck, als habe sich der Reporter auch ohne Sprachkenntnis problemlos in minderjährige Araber hineinversetzen können und als deckten sich arabische Perspektiven bruchlos mit der Sicht deutscher Reporter und der Leseerwartung des Publikums.

 

Die erste Relotius-Geschichte handelt von zwei syrischen Flüchtlingskindern, 12 und 13 Jahre alt, Alin und Ahmed. Sie leben 300 Kilometer voneinander entfernt in der Türkei: Das Mädchen verdingt sich als Näherin in einem fensterlosen Keller in Mersin, der Junge als Schrottsammler in Gaziantep. Wie zwei »Königskinder«, die nicht zusammenkommen, können sie sich weder sehen noch miteinander sprechen; ihre einzige Verbindung besteht in Handynachrichten jeden Abend. Sie wissen nichts von Flüchtlingsquoten, aber im Traum erscheint ihnen manchmal Angela Merkel, die Königin von Europa, die sie vielleicht holen kommt in ihr Land, eine kleine Insel umgeben vom Meer.

 

Das zweite Geschwisterpaar ist eigenartigerweise genau gleich alt, doch dieses Mal handelt es sich um Kindersoldaten, die vom »Islamischen Staat« mit Prügel, Peitschenhieben und Koranlektionen umerzogen wurden. Weinen stand unter Strafe, und Töten übte man an Puppen, Hühnern, Hunden und manchmal auch an Ungläubigen. Der eine Junge, Khaled, sprengte sich in einer Seitengasse der irakischen Stadt Kirkuk in die Luft, während der andere, Nadim, zögerte und gefasst wurde. Nun malt er Bilder darüber, worüber er nicht sprechen kann. Und manchmal übermalt er alles schwarz.

 

Auch der dritte Protagonist ist am Anfang seiner Geschichte 13 Jahre alt: der Sprayer, der mit seinem Anti-Assad-Slogan eine fatale Gewaltspirale in Gang setzte – oder dies zumindest glaubt. Ob der Reporter es auch glaubt, bleibt offen; es hindert ihn aber nicht daran, den Sprayer ab dem »2601. Tag im Krieg« einen Monat lang per Videochat zu verfolgen, wie er vorgibt. Sei der Junge anfangs als Held gefeiert worden, so bereue er heute den »Streich eines Kindes«; auch gebe es »Tausende, die sagen, er allein, Mouawiya Syasneh, habe mit diesem Graffito den Krieg entfacht, er sei verantwortlich für all die Massaker und Bomben, für 14 Millionen Vertriebene, für 500.000 Tote«. Selbst eine einzige Quelle für diesen Vorwurf sucht man in dem Text vergeblich.

 

Orte wie Syrien und Irak lassen sich bestens mit fantastischem Inhalt füllen.

 

Welchen Strickmustern folgen diese Erzählungen? Nach der alten Journalisten-Weisheit, dass das Leid einer Million weder greifbar noch nachvollziehbar ist, das Leid zweier Kinder aber sehr wohl, bedient Relotius sich typisch journalistischer Routinen: Infantilisierung, Emotionalisierung und Dramatisierung. Wenn wir erfahren, dass die Kinder Kinderlieder singen und manchmal wie normale Kinder weinen, erleichtert das die Identifikation. Der Flüchtlingsjunge ist »ein Junge mit Segelohren, der gern Lakritzbonbons aß und lieber Fahrrad fuhr oder Fußball spielte als zu beten«.

 

Der verhinderte Attentäter ist »ein schmales Kind, das lieber Rechenbücher als den Koran studiert«. Alte Bilder zeigen den Sprayer als »schmächtigen Jungen, der auf den Straßen Daraas Fußball spielt. Er trägt fast immer ein Ronaldo-Trikot«. Krieg kannte er nur »aus dem Koran und aus Märchen«. 2013 hört er noch jede Nacht den internationalen Sommerhit des Jahres, und im Sommer darauf, »200.000 Menschen sind bereits getötet«, wie der Reporter weiß, macht der 16-Jährige noch Ausflüge mit seiner Freundin: »Hinter ihm auf dem Motorrad sitzt Esma, ein Mädchen aus seinem Viertel, das kein Kopftuch trägt, sondern lackierte Fingernägel hat und lange, lockige Haare.«

 

Der Fokus auf Kinder schafft Nähe, bestätigt aber auch das Klischee. Die Beschreibungen legen nahe, dass die meisten Kinder in Syrien und im Irak doch eher beten, den Koran studieren oder Kopftuch tragen, als mit wehender Mähne übers Land zu brausen. Wenn in den Texten der islamische Gott angerufen wird, so erscheint das nutzlos oder kontraproduktiv: Wenn »die ältesten Prediger Daraas zum Protest« rufen, schwant einem schon, dass das nicht gut gehen kann. Und angesichts von Mutterns Allerweltsausruf »Allahu akbar« schwirrt dem Sprayer natürlich sofort die Frage durch den Kopf, warum Gott ihm seine Familie nehme und warum Er denn überhaupt wolle, »dass meinetwegen Menschen sterben?«. Gewalt unterfüttert die kindliche Sicht mit Dramatik.

 

Gerne lässt Relotius die Hinterbliebenen ihre Toten begraben, »Frauen und Kinder zuerst«. In Daraa, das schon im Alten Testament Erwähnung findet, wie Relotius erwähnt, heben die Bewohner heute vor ihren zerschossenen Häusern »ihre eigenen Gräber« aus; oder sie erhängen sich gleich vorsorglich selbst »vor ihren Häusern, nur aus Angst«, wie Relotius seinen Gewährsmann berichten lässt.

 

Noch stärker emotionalisierend wirkt direkte Gewalterfahrung: Den beiden »Königskindern« lässt der Autor daher die Mutter durch Bombeneinschlag ins Haus und den Vater durch Kopfschuss töten, obwohl ein Spiegel-TV-Team später die Eltern des Jungen ausfindig machen konnte.

 

Auch die Eltern des »Löwenjungen« werden vor dessen eigenen Augen getötet, die ältere Schwester wird geraubt. Später erkennen sie diese schwarz verhüllt wieder, und es wird ihnen gedroht, sollten sie ihre Sprengstoffwesten nicht anlegen, werde ihr Schlimmes widerfahren. Das Kind mit Sprengweste, das sich in Kirkuk im August 2016 festnehmen ließ und Relotius wohl als Vorlage diente, konnte sehr wohl reden, nicht nur malen, und berichtete weder von Bruder oder Schwester noch vom Tod der Eltern, auch wenn sein familiärer Hintergrund ungeklärt war.

 

Das Motiv des schicksalshaft in Gewalt gefangenen Arabers

 

Und dem Sprayer, der sich per Eid und Unterschrift (!) einer Rebellengruppe anschließt, rafft die von Relotius beschworene Gewalt angeblich Vater und Freundin hinweg. Kriegsursachen werden in den Texten nicht diskutiert, das Räsonieren überlässt Relotius dem Kindermund: Wenn das eine Kind sagt, es gebe Kriege, weil es böse Menschen gebe, fragt das andere Kind, wie man sie von den guten unterscheide.

 

In »Kinderspiel«, das an die Wurzel des Syrienkonflikts zu gehen vorgibt, bekundet der Protagonist, nicht mehr zu wissen, wofür er kämpfe: »Wer ist böser, Assad oder die Männer mit den Bärten, meine eigenen Kameraden?« Relotius selbst spitzt den Gang der Ereignisse, »seitdem aus einer Revolution beinahe ein Weltkrieg wurde«, auf die absonderliche Frage zu: »Kann ein 13-Jähriger, der ein Graffito sprüht, an einem Krieg schuld sein?«

 

Weder führt ein direkter Weg vom Graffito zum Weltkrieg, noch hat ein verhinderter Kindersoldat Blut an den Händen. Die Vorstellung, das eine Kind kämpfe »um Sühne und sein Überleben« und das andere sei zugleich »Opfer« und »Killer«, ist eine Dramatisierung um des dramatischen Effekts willen. Derartige Zusammenhänge konstruiert niemand außer dem Journalisten.

 

Was also passiert in diesen Texten? Vor dem Hintergrund Hunderttausender Toter, Verletzter und Geflüchteter verdichtet Relotius die Leiderfahrung auf zwei erfundene Geschwisterpaare und einen Einzelkämpfer. Er benutzt wiederkehrende, stereotype Elemente, die den Lesern helfen, sich mit den Kindern zu identifizieren, ohne Partei im Konflikt einnehmen zu müssen.

 

Die Analyse erschöpft sich darin, Krokodilstränen darüber zu vergießen, wie böse die Welt doch zu den Kindern ist. Die offenkundig gefälschten Details decken quasi beiläufig auf, dass der Autor gleichermaßen sensibel und skrupellos vorging, um seine – eurozentristische – Sichtweise durch arabische Kinderaugen bestätigen zu lassen. Fragen der Macht bleiben weitgehend ausgeklammert.

 

In typisch orientalistischer Manier konstruieren die Texte so das Motiv des schicksalshaft in Gewalt gefangenen Arabers und halten zugleich die Beteiligung des Westens unsichtbar. Unterschlagen wird, dass es sich bei den Kriegen nicht um rein arabische Konflikte handelt, denen man mit arabisch-islamischer Seelenkunde beikommen könnte. Aus welchen Ländern massenhaft Waffen, Kämpfer und Berater kommen, bleibt außen vor. Aus Deutschland kommen ohnehin nur »Bilder der Menschlichkeit, die er nicht mehr kannte«, wie es in »Kinderspiel « heißt.

 

Die Anklage syrischer Aktivisten, von der Welt allein gelassen und verraten worden zu sein, die sie seit 2013 an die Weltgemeinschaft richten, findet sich in Relotius-Texten auch am angeblich 2642. Tag des Krieges nicht. Kritik äußert sein Protagonist nur, wenn mal der Waffen-Nachschub stockt.

 

Dass eine solche Rahmung der Konflikte von Journalisten, Preis-Jurys und Publikum goutiert wurde, lässt tief blicken. Wenn die Kritik sich nun im Wesentlichen in Empörung über erdichtete Wassermelonen ergeht, ist dies nur folgerichtig. Die »Causa Relotius« wird so zum Sturm im Wasserglas, Besserung nicht in Sicht. Morgen wird das Nachrichtengeschäft ohne Wassermelonen, aber mit Ananas weitergehen.
Manfred Sing arbeitet am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte.

 


Dieser Text basiert auf einem Vortrag vom 12. Juni 2019, gehalten am Sebastian-Münster-Gymnasium Ingelheim.

Von: 
Manfred Sing

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