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Der Arabist

Tee mit Timur

Essay
Tee mit Timur
Diese Miniatur, die im Golestan-Plast zu Teheran erhalten geblieben ist, zeigt die Belagerung von Damaskus durch Timur. Der zentralasiatische Eroberer wollte das riesige, aber kurzlebige Imperium von Dschinghis Khan wiederherstellen. Tehran Museum of Contemporary Art

Am Ende des Jahres 1400 stand der grausamste Eroberer der damaligen Welt vor Damaskus – und bestellte Ibn Khaldun zum großen Hintergrundgespräch. Der Gelehrte und Gründer der arabischen Soziologie berichtet stolz davon in seinen Memoiren.

Ibn Khaldun ist einer der berühmtesten Araber der Welt. Er war ein Rechtsgelehrter der malikitischen Schule, aber seinen Ruhm verdankte der 1332 in Tunis geborene und 1406 in Kairo gestorbene Ibn Khaldun einem großen Geschichtswerk über Nordafrika, dem »Kitab al-Ibar« – oder besser gesagt, der »Einführung« dazu: der »Muqaddima«. Warum das Buch so berühmt geworden ist, erzähle ich gerne ein anderes Mal.

 

Er hat aber auch eine Autobiografie hinterlassen, eine Seltenheit in der damaligen Zeit. Die ist nicht mit modernen Werken der Gattung zu vergleichen. Der Verfasser bleibt an der Oberfläche, bietet keinerlei Selbstkritik, aber dafür durchaus Eigenlob. Er gibt einen schönen Überblick über seinen Lebenslauf, über seine vielen Arbeitgeber in Nordafrika und ab 1382 in Ägypten, über Menschen, die er kannte, und über seine Funktionen als Richter, Hochschullehrer oder Berater; außerdem zitiert er ganze Ansprachen, die er gehalten hat.

 

Es ist eine wichtige historische Quelle, aber in seine Seele lässt er den Leser nur selten blicken. Als er auf dem Weg nach Mekka in Ägypten eintraf, geschah es, dass ihm ein Amt angeboten wurde, sodass er dort blieb. Er setzte alles daran, seine Familie aus Tunis herüberkommen zu lassen; als diese endlich unterwegs war, sank das Schiff in einem Sturm vor der Reede Alexandriens.

Die Situation war heikel für Ibn Khaldun und seine Kollegen, aber vor allem für Damaskus, das nicht länger zu verteidigen war.

Zu dieser Tragödie schrieb er nur zwei Zeilen: »Das Schiff ging unter mit Mann und Maus; groß war mein Schmerz und ich geriet ganz in Verwirrung. Der Sultan enthob mich meines Amtes und bot mir eine Ruhezeit an, sodass ich mich der Wissenschaft widmen konnte, sowohl im Unterricht wie in meiner Schreibarbeit.« Erst erheblich später trat er wieder eine Professur im malikitischen Recht an.

 

Als Ibn Khaldun auf die siebzig zuging und sich schon aus allen seinen Ämtern zurückgezogen hatte, erlebte er aber noch etwas Besonderes. Die Mongolen waren in Syrien eingefallen, dessen Süden zu Ägypten gehörte, während der nordöstliche Teil vom kriegslüsternen mongolischen Herrscher Timur Lenk (1336–1405, manchmal auch Tamerlan genannt) beherrscht wurde. Die Mongolen fielen manchmal in Südsyrien ein; dann musste der Sultan militärisch aktiv werden.

 

Der Rechtsgelehrte Ibn Taimiya hatte schon ein Jahrhundert zuvor beklagt, dass die Sultane mit dem Dschihad gegen die Mongolen zu lasch wären, und auch als Timur Aleppo bedrohte, unternahm Kairo anfangs nichts. Erst als Aleppo tatsächlich zerstört wurde und Timur nach Damaskus vorstieß, wurde eine Armee aufgestellt. Sultan Faradsch machte sich im November 1400 mit zahllosen Emiren und Soldaten auf den Weg. Wie gewohnt nahm er auch die Führer der vier Rechtsschulen mit. Ibn Khaldun hatte lange die malikitische Rechtsschule in Kairo geleitet, aber war nicht mehr im Amt. Man bestand jedoch darauf, dass er mitkam; vielleicht, weil er schon einmal mit einem früheren Sultan in Syrien gewesen war.

 

Als die Truppen sich Damaskus näherten, kam dem Sultan zu Ohren, dass zu Hause ein Komplott gegen ihn geschmiedet wurde. Er trat eilends den Rückweg an, wobei er viele Soldaten und die Rechtsgelehrten zurückließ. Die Situation war heikel für Ibn Khaldun und seine Kollegen, aber vor allem für Damaskus, das nicht länger zu verteidigen war. Die Stadt wollte sich ergeben und sich loskaufen von Plünderung und Zerstörung, wie es damals üblich war. Tatsächlich bot Timur an, die Stadt zu verschonen.

Der Herrscher befragte ihn über den Maghreb; mit einer kurzen mündlichen Beschreibung gab er sich nicht zufrieden, er verlangte einen ausführlichen Bericht über ganz Nordwestafrika.

In dieser Situation konnte Ibn Khaldun für die Damaszener eine wichtige Rolle als Ratgeber und als Diplomat im Kontakt mit Timur spielen. Auch über diese Episode kann man einiges in der Autobiografie lesen. Vielleicht bauscht Ibn Khaldun seine eigene Rolle dabei etwas auf. »Richter Burhan Al-Din erzählte mir, dass er (also Timur) nach mir gefragt hatte und auch danach, ob ich mit den ägyptischen Truppen abgereist oder noch in der Stadt sei«, schreibt er. Einer anderen Quelle zufolge war es eher ein Zufall, dass er bei Timur landete. Wie auch immer, eines Tages wurde der betagte Gelehrte in einem Korb über die Stadtmauer heruntergelassen und von Timurs Männern abgeholt.

 

Der Empfang im mongolischen Lager war freundlich, das Gespräch fand mit Hilfe eines Dolmetschers statt. Wie immer trug Ibn Khaldun maghrebinische Kleidung und ließ sich als maghrebinischer Rechtsgelehrter vorstellen, wodurch er vielleicht betonen wollte, dass er nicht zu Ägypten gehörte, das ja Timurs Feind war. Der Herrscher befragte ihn über den Maghreb; mit einer kurzen mündlichen Beschreibung gab er sich nicht zufrieden, er verlangte einen ausführlichen Bericht über ganz Nordwestafrika.

 

Hier wird uns noch einmal ein Einblick in die Seele des Gelehrten vergönnt: »Die Angst hatte mich gepackt, wegen der Katastrophe, die dem schafiitischen Oberrichter Sadr Al-Din Al-Munawi widerfahren war. Die Verfolger der ägyptischen Armee hatten ihn in Schahqab verhaftet und mitgenommen. Er wurde bei ihnen gefangen gehalten und es wurde ein Lösegeld verlangt ...« Kein Wunder also, dass Ibn Khaldun sich sofort ans Schreiben setzte: Es wurden zwölf Hefte voller geografischer und historischer Informationen zu Nordwestafrika, wie Timur sie haben wollte.

 

Darüber hinaus versuchte der Gelehrte, seine Angst durch Schmeichelei zu bändigen: »Seit dreißig oder vierzig Jahren habe ich mich danach gesehnt, Ihnen zu begegnen, ... weil Sie der Sultan des Universums und der Herrscher der Welt sind; ich glaube nicht, dass von Adam bis heute ein Herrscher aufgestanden ist wie Sie!« Und dies, so betonte Ibn Khaldun, sage er nicht von ungefähr, denn als Gelehrter sei er sehr wohl imstande, Timurs Größe mit der persischer und römischer Kaiser oder mit der von Alexander dem Großen und Nebukadnezar zu vergleichen, und Timur sei bestimmt der Größte.

War Ibn Khaldun ein Verräter, kollaborierte er mit dem Feind, indem er ihm Informationen zur Verfügung stellte? In der Tat. Aber konnte er anders, in der Lage, in der er sich befand, wohl wissend, wie salopp Timur mit Menschenleben umging?

Dem fiel auf einmal ein, dass er mütterlicherseits mit Nebukadnezar verwandt sei, was Ibn Khaldun dem Dolmetscher gegenüber spontan bejahte: »Noch ein Grund, weshalb ich mich sehnte, ihn zu treffen.« Ein anderer triftiger Grund, um sich nach der Begegnung mit Timur zu sehnen, war, so Ibn Khaldun, dass Astrologen das Erscheinen eines mächtigen Herrschers vorhergesagt hatten, und damit könne nur Timur gemeint gewesen sein. Schmeicheln und Schleimen gehörte damals einfach zum Leben.

 

War Ibn Khaldun ein Verräter, kollaborierte er mit dem Feind, indem er ihm Informationen zur Verfügung stellte? In der Tat. Aber konnte er anders, in der Lage, in der er sich befand, wohl wissend, wie salopp Timur mit Menschenleben umging? Für ihn würde ja niemand Lösegeld bezahlen.

 

Nach fünfunddreißig Tagen konnte Ibn Khaldun sich am 10. Januar 1401 loseisen und ungehindert nach Kairo zurückkehren – zuvor hatte er freilich noch die Einnahme und Plünderung von Damaskus durch die Mongolen erlebt. Seine Scham über den Bericht, den er geschrieben hatte, überwand er zu Hause, indem er dem Sultan von Marokko ein Gegenstück sandte: einen Bericht über Timur und die Mongolen.

 

Offensichtlich hegte Timur Sympathie für Ibn Khaldun. Eines Tages wollte er ein Maultier von ihm kaufen. Ibn Khaldun antwortete: »Menschen wie wir verkaufen einander doch kein Maultier?«, und schenkte es ihm – was sonst hätte er tun können? Später bekam er aber den Geldwert des Tieres durch eine Zwischenperson ausgehändigt, was sehr korrekt war, aber über das Verhältnis beider Männer zu denken gibt: War es doch herzlich? Ibn Khaldun gab sich Mühe, die Geldsendung gegenüber seinem Sultan zu rechtfertigen; er wollte ja in Ägypten nicht durch seinen Kontakt mit Timur kompromittiert werden.


Der Arabist Dr. Wim Raven schreibt regelmäßig in zenith über Themen aus der arabisch-islamischen Geschichte. Er betreibt den Blog lesewerkarabisch.wordpress.com.

Von: 
Dr. Wim Raven

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