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Südostanatolien nach dem Erdbeben

Aufräumen in Urfa

Feature
Südostanatolien nach dem Erdbeben
Bagger auf der Zitadelle von Urfa Foto: Stefan Pohlit

Nach den verheerenden Erdbeben in Südostanatolien im Februar 2023 haben die Sanierungsarbeiten begonnen. Şanlıurfa hat die Katastrophe deutlich besser überstanden als andere Großstädte der Region, wurde jedoch im Anschluss von einer Flut verwüstet. Unser Autor berichtet von seinem Besuch Anfang November 2023.

Der Fernseher läuft. Zum Frühstück gibt es Nachrichten mit Tomaten, Ei und Oliven. Es geht um den Aufruf der Knesset-Abgeordneten Galit Distel Atbaryan, Gaza »vom Erdboden zu tilgen«. Der freundliche Hotelier setzt sich zu mir und kommentiert so halbherzig, dass ich mir den eigenen Senf dazu verkneife. Man spürt, wie ihm die Resignation in den Knochen steckt. Bei aller Solidarität mit den Palästinensern ist jeder zu beschäftigt, die eigene Haut zu retten.

 

Die Inflationsrate erreichte im vergangenen Jahr den Stand von 1993. Bei den Preisen (die rasantere Sprünge vollführen, als die Lira an Wert verliert) scheint sich kaum einer auszukennen. Meine 200er-Scheine blättern dahin wie einst die Millionen-Blüten während der Wirtschaftskrise. In den Kebap-Salons entlang der Hauptstraße herrscht gähnende Leere. In den Teegärten an der Auffahrt zur Zitadelle zahlt man für Kaffee fast so viel wie in Deutschland. Nur die jungen Leute haben sich mit der Rezession arrangiert: Für sie gehört die Endzeitstimmung zum Zeitgeist. »Was ich heute nicht trinke, ist vielleicht morgen nicht mehr bezahlbar«, sagt ein Student. Da lässt man sich hinreißen – solange die Kreditkarte noch ein paar Kröten ausspuckt, meint er.

Südostanatolien nach dem Erdbeben
Urfa: Blick von Urfas Zitadelle nach NordenFoto: Stefan Pohlit

Şanlıurfa, Heimat des Propheten Abraham und Ursprung seiner Nation, Israel, gilt dem Islam als fünftheiligste Stätte. In der Antike hieß die Stadt Urhoy, ab dem 4 Jahrhundert v. Chr. Edessa. Dem osmanischen Urfa (ohne Beziehung zum arabischen ʽarafa, »wissen«) wurde erst 1983 der Ehrentitel Şanlı (»ruhmreich«) verliehen – Anerkennung für die Wehrhaftigkeit der Bevölkerung im Befreiungskrieg. Von der christlichen Minderheit zeugt heute kaum mehr als die Reji-Kirche, erbaut 1861 und 1924 aufgegeben. Schon am Morgen, bei spätsommerlichem Wetter, pilgern Gläubige vor die Grotte im Hof der Halil-Rahman-Moschee, in der dem Volksglauben nach Abraham geboren wurde. Bei meinem letzten Besuch hier hieß der Ministerpräsident noch Bülent Ecevit. Die Anlagen waren weit weniger gepflegt, und der Teich Balıklıgöl (der den Propheten, der Legende nach, vor dem Scheiterhaufen bewahrt hat) führte mehr Karpfen als Wasser.

Südostanatolien nach dem Erdbeben
Der Fischteich Balıklıgöl – ein Wahrzeichen der Abraham-LegendeFoto: Stefan Pohlit

Im Gedeckten Basar – dem größten im Fruchtbare Halbmond nach Aleppo – konnte ich 2002 noch traditionellen Gerbern, Filzmachern und Taubenhändlern bei der Arbeit zuschauen. Im Zeichen religiöser Identität hat man seither in Tourismus investiert, der an den Wochenenden ordentlich in Schwung kommt. Die einst verkehrsberuhigte Divanyolu Caddesi erkenne ich unter all dem AKP-Glitter kaum wieder. In der Medina klaffen sporadische Baustellen wie Zahnlücken aus den Gassen. Vor den Ruinen hat man Steine, die an einem Stück geblieben sind, zur Wiederverwertung aufgetürmt.

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Vor dem Basar von Şanlıurfa mit dem Minarett der Pazar Camii im HintergrundFoto: Stefan Pohlit

Mit der (kostenfreien) Buslinie 63 fahre ich zur Sammelstation im Norden. An der Hauptstraße sichte ich nur ein einziges Trümmerfeld – Überbleibsel eines sechsstöckigen Gebäudes, über dessen grausiges Los alle sprechen. Angesichts der außenpolitischen Verstimmungen wundert mich die Neugier der Passanten. Wer hinter dem sprudelnden Leben erfahren möchte, was das kollektive Bewusstsein umtreibt, muss nachfragen. Viele äußern sich frustriert über den Zustrom aus Syrien und das Eindringen salafistischer Strömungen, manche bekunden Sympathie für kurdische Milizen. Urfa liegt ja nur 51 Kilometer entfernt von Ain al-Arab (Kobanê), wo sich die YPG und der sogenannte Islamische Staat IS 2014 erbitterte Kämpfe lieferten. Gegenüber dem Jahr 2002 hat sich Urfas Bevölkerung verdreifacht – was sich, zugegeben, in erster Linie auf die Vorstädte auswirkt, wo nach dem Vorbild Istanbuls moderne Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden schießen.

 

Gespräche mit Einheimischen enden standardmäßig mit dem Zusatz: Bizi de götür! – »Nimm uns mit!«... Ein Taxifahrer hält seine Dokumente auf dem Handy bereit, zeigt mir Diplome, die man ihm für einen Ausreiseantrag ins Deutsche übersetzt hat. Er sei gelernter Elektriker, sagt er, finde in seinem Beruf keine Arbeit. Eine Usbekin im dolmuş nach Halfeti beurteilt die Lage positiver: Sie kennt ihren Mann aus Cambridge und arbeitet in der Uniklinik als Hirnchirurgin. Das milde Klima, Kultur und Dynamik des Südostens, sagt sie, seien ihr ans Herz gewachsen.

Südostanatolien nach dem Erdbeben
Restaurierung im Zentrum von UrfaFoto: Stefan Pohlit

Bei den Erdbeben am 6. Februar kam Urfa, den Behörden nach, eher glimpflich davon. Im Stadtgebiet wurden nur 20 komplett eingestürzte Häuser, 181 Tote und 141 Verletzte behördlich verzeichnet. Im Vergleich zu Kahramanmaraş, dem benachbarten Gaziantep und dem nahezu völlig zerstörten Antakya liegt Urfa weiter entfernt von der betroffenen Störungszone. Andererseits beläuft sich die Zahl der zur Unbrauchbarkeit beschädigten Gebäude auf an die 9.000. Ihre Bewohner werden nach und nach in neue Siedlungen ausgelagert. Auch historische Anlagen wie die Freitagsmoschee Ulu Camii aus dem 12. Jahrhundert hat es erwischt. Der Zugang ist verrammelt, hinter den Absperrungen bleibt allein das Minarett zu sehen.

 

Am 15. März, nach anhaltenden Niederschlägen, sind die Gebiete entlang der betonierten Bachläufe großflächig überschwemmt worden. Im Norden der Stadt musste ein Hügel wegen Erdrutschgefahr geräumt werden. Insbesondere in den Zeltdörfern, in denen die Stadt Flüchtlinge der Erdbebenwelle unterbrachte, forderte die Flut Todesopfer. Für die ungenügenden Verhältnisse ging die Opposition mit dem Bürgermeister Zeynel Abidin Beyazgül (AKP) scharf ins Gericht. Jetzt, bei knapp 30 Grad, ist das Flüsschen Karakoyun unterhalb des antiken Aquädukts versiegt. Urfa wartet wieder auf Regen. Immerhin brauchen die abgeernteten Pistazienplantagen, die entlang der Autobahn D875 nach Adıyaman die Landschaft prägen, nicht viel Wasser. Weiter nördlich erstreckt sich der Atatürk-Stausee, aus dem der Euphrat austritt. Entlang der Straße nach Göbekli Tepe verweisen allenfalls Baumwollfelder und ein künstlicher Kanal auf verbleibende Reserven.

Südostanatolien nach dem Erdbeben
Räumungsarbeiten auf der Zitadelle von UrfaFoto: Stefan Pohlit

Die Kreuzfahrer-Zitadelle auf dem Hügel südlich des Balıklıgöl ist für Restaurierungen gesperrt. Rund um den Friedhof Dört Minare Mezarlığı liegen zahlreiche Häuser in Schutt. Auf eine Fassade hat jemand die Aufschrift: Bu ev satılık (»Dieses Haus ist zu verkaufen«) und eine Telefonnummer gesprüht. An der Auffahrt, die auf der Rückseite der Zitadelle zu den gecekondu hinabführt, komme ich mit einem Baggerfahrer und zwei Ingenieuren ins Gespräch. »Hier oben wird alles abgerissen«, wird mir erklärt. Das habe nur indirekt mit den Erdbeben zu tun: Die Bausubstanz sei marode, die Umwandlung dieser ärmlichen Viertel Teil der Stadtplanung.

 

Ein kurdischer »Onkel« aus der Nachbarschaft, der sich als Hüseyin vorstellt, mischt sich ins Gespräch und lädt mich zum Tee in sein Haus ein. Hüseyins Vater war ein Ağa – ein Großbauer, der mit nur 35 Jahren starb und mehrere Dörfer hinterließ. Im Streit um das Erbe benachteiligt, ging der heute Siebzigjährige 1979 nach Hamburg und von dort nach Sylt, wo er fünf Jahre lang als Kellner in einem Club jobbte. Deutsch sprach er damals nach Gehör. Weil er nie Lesen und Schreiben gelernt hat, konnte er seine dortigen Freundschaften nach der Rückkehr in die Heimat nicht aufrechterhalten. Weiter im Süden besitzt er noch ein paar Olivenfelder. Aber der älteste seiner drei Söhne wohnt in Deutschland, den jüngsten zieht es als Webdesigner nach Katar und der mittlere mit den drei Enkeln nach Toronto. Die Stadt Şanlıurfa entschädigt die Familie für ihre unverputzte, mehrstöckige Bleibe mit einer Apartmentwohnung in einem der neuen Außenbezirke.

 

»Man muss sich nur den Bedingungen stellen und anpacken«, sagt Aslan Bey, der Manager im Hanımağa Butik Otel, am Abend. Ein gutes Beispiel sei seine Frau, die ihren Handarbeitsbetrieb von daheim aus expandiert habe und ihre Produkte inzwischen über das Rathaus verkaufe. Er selbst, ein pensionierter Soldat, arbeite nur, weil ihm der Kontakt mit den Gästen Spaß mache. Das Hotel ist zentral gelegen und über Google-Rezensionen und Online-Reiseunternehmen gut vernetzt – und war auch Anfang November 2023 weitgehend ausgebucht.

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Aslan Bey, Manager im Hanımağa Butik OtelFoto: Stefan Pohlit
Von: 
Stefan Pohlit

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