Lesezeit: 8 Minuten
Friedensarbeit im Nahostkonflikt

Der Schlüssel für den Weg aus dem Albtraum

Kommentar
Friedensarbeit im Nahostkonflikt
»Unite the Field«-Friedenskonferenz der »Alliance for Middle East Peace« (ALLMEP) ALLMEP

Es gibt sie: Israelis und Palästinenser, die sich für eine Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Gerade in diesen Zeiten verdienen sie unsere Unterstützung mehr denn je, sagt John Lyndon von der »Alliance for Middle East Peace« (ALLMEP).

Die Ereignisse der letzten Woche sind in der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts völlig beispiellos. In den frühen Morgenstunden des 7. Oktober verübte die Hamas einen verheerenden Terroranschlag, der die israelischen Geheimdienste und das Militär vollkommen überrumpelte. Die Barbarei und das Ausmaß des Anschlags schockierten die Welt, die Zahl der israelischen Todesopfer innerhalb von 24 Stunden stellte die gesamte Zweite Intifada in den Schatten – jene fünfjährige blutige Auseinandersetzung, die Israels Sicherheitsstrategie und Politik gegenüber den Palästinensern neu prägte.

 

Was folgte, ist ein andauernder und beispielloser Luftangriff der israelischen Luftwaffe auf den Gazastreifen mit Hunderten von getöteten Zivilisten, Tausenden von Verwundeten und Vertriebenen. Gleichzeitig kommt es zu Angriffen von Siedlern auf Palästinenser und zu Zusammenstößen zwischen der israelischen Armee und Bewohnern von Städten im Westjordanland. Derweil werden sowohl aus dem Gazastreifen als auch aus dem Libanon Raketen auf israelisches Gebiet abgefeuert. In welchem Ausmaß die arabischen Nachbarländer Israels, insbesondere Iran, Syrien und Libanon, in diesen Konflikt verwickelt werden, bleibt ungewiss.

 

Die letzten Tage waren für Israelis und Palästinenser mit die schwierigsten, die sie je erlebt haben. Die brutalen Angriffe auf die Zivilbevölkerung, die Geiselnahmen, die Luftangriffe und die entsetzlichen Verluste an Menschenleben, die in ganz Israel und Palästina zu beklagen sind, sollten all jene schmerzen, denen Frieden und Sicherheit in der Region am Herzen liegen. Doch für die mutigen Israelis und Palästinenser, die die »Alliance for Middle East Peace« (ALLMEP) bilden, ein Netzwerk aus über 160 israelisch-palästinensischen Nichtregierungsorganisationen, die sich für Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden einsetzen, haben sie eine ganz besondere Dimension.

 

Diese schreckliche Tragödie hat fast alle unsere Mitglieder auf direkte und persönliche Weise berührt

 

Diese schreckliche Tragödie hat fast alle unsere Mitglieder auf direkte und persönliche Weise berührt. Einige der stärksten Stimmen innerhalb unseres Netzwerks kommen aus israelischen Gemeinden, die an den Gazastreifen grenzen, und aus Gaza selbst. Diese Menschen haben traumatische Ereignisse miterlebt, darunter auch den Verlust von Familienmitgliedern. Zu den Vermissten gehört auch die 74-jährige Vivian Silver, ein Eckpfeiler und langjährige Führungspersönlichkeit der Friedensbewegung.

 

Vivian spielte eine entscheidende Rolle bei der frühen Entwicklung von ALLMEP, leitete Mitgliedsorganisationen wie »AJEEC-NISPED« und war Mitbegründerin von Initiativen wie »Women Wage Peace«. Immer wieder fuhr sie Menschen aus dem Gazastreifen zur medizinischen Notversorgung nach Israel. Sie hat ihr ganzes Leben Frieden und Gleichberechtigung im israelisch-palästinensischen Verhältnis gewidmet.

 

Ein weiterer führender Vertreter unserer Gemeinde, Mohammad Darawshe, Direktor für strategische Planung in Givat Haviva, hat seinen Neffen Awad verloren, einen Sanitäter, der bei dem Hamas-Anschlag auf das Musik-Festival Nova ermordet wurde. Wie Mohammad uns mitteilte, »blieb Awad am Ort des Geschehens, um verletzte Israelis zu behandeln, verließ seinen Posten nicht und schloss ihre blutenden Wunden, bis er verwundet und getötet wurde. Das ist sein Vermächtnis. Menschlichkeit und Selbstaufopferung bis zum Ende.«

 

Gleichzeitig bangt einer unserer Mitarbeiter um viele seiner Familienangehörigen in Gaza, die unter ständigem Bombardement leben, akute medizinische Hilfe benötigen und deren Lebensmittel- und Wasservorräte zur Neige gehen. Er und mehrere unserer palästinensischen Mitglieder im Westjordanland haben sich darum bemüht, Hunderten von Arbeitern aus dem Gazastreifen zu helfen, die nach der Tragödie vom Samstag in Israel festsaßen und nicht zu ihren Familien zurückkehren konnten. Sie wurden mit Unterkünften und Lebensmitteln im Westjordanland versorgt. Viele der Arbeiter konnten seitdem nicht mit ihren Angehörigen in Kontakt treten und wissen weder, wie es ihnen geht, noch wann sie wieder zusammenkommen können.

 

Das Besondere an diesen Menschen ist, dass sie aus dem kleinen Teil beider Gesellschaften stammen, die sich kennen und zusammenarbeiten

 

Doch selbst für die wenigen israelischen und palästinensischen Friedensaktivisten, die nicht direkt von diesem Albtraum betroffen sind, ist das Trauma tiefgreifend. Das Besondere an diesen Menschen ist, dass sie aus dem kleinen Teil beider Gesellschaften stammen, die sich kennen, zusammenarbeiten und zutiefst daran interessiert sind, einen Weg zu Frieden, Gleichheit, Sicherheit und Gerechtigkeit für alle in der Region zu finden. So sind sie – einzigartig in jeder der beiden Gesellschaften – in Kontakt miteinander und spüren die tiefe Tragödie und das Trauma der anderen und die Folgen davon, ebenso wie das eigene Leid. Das hat natürlich zu Herausforderungen und Spannungen geführt. Aber auch zu Solidarität, Empathie und Partnerschaft, die zeigen, dass eine andere Realität möglich ist.

 

Es ist auch diese Gemeinschaft, die, wie ich glaube, den Schlüssel zur Beendigung dieses Albtraums in der Hand hat. Die mutigen Israelis und Palästinenser, mit denen ALLMEP das Privileg hat, zusammenarbeiten zu können, die diesem Schrecken ins Gesicht sehen und sagen: »Nein. Damit ist Schluss.« Sie können einen alternativen Weg aufzeigen, der auf einer israelisch-palästinensischen Partnerschaft basiert und eine positive Zukunftsvision in Aussicht stellt.

 

Aber auch wir im Westen, die wir das Privileg haben, in Frieden und Sicherheit und nicht im Auge dieses gewalttätigen Sturms zu leben, können von ihnen etwas lernen. Das Ausmaß der Entmenschlichung und des Hasses im Internet nahm in diesen Tagen bedrohliche Ausmaße an. Menschen, die bequem von ihrer Couch in Berlin, London oder New York aus die Tötung von Israelis oder Palästinensern rechtfertigen oder sogar dazu aufrufen, teilen die grausamsten und barbarischsten Bilder, die nur dazu dienen, Spannungen weiter anzuheizen. Sie spielen auch eine wichtige Rolle in einem Ökosystem, das die Menschen in der Region – die derzeit ein massives Trauma erleben – zu noch gewalttätigeren und eskalierenden Handlungen anregt, anstatt ihre Distanz und Sicherheit zu nutzen, um Wege zu fördern, die Leben retten und die israelisch-palästinensischen Beziehungen rehabilitieren können.

 

Denn schließlich sind 50 Prozent der Menschen, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben, Juden und 50 Prozent Palästinenser. Keiner von beiden wird oder sollte seine Heimat verlassen, und wir müssen alle Aufrufe zu solchen Aktionen verurteilen und ablehnen. Es bleiben also zwei einfache und binäre Optionen: Eine israelisch-palästinensische Solidarität und Partnerschaft auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Ziele, oder die Vollendung dessen, was sich gerade bereits entfaltet: Gewalt in Form eskalierender Wellen. Ein Wettlauf nach unten und ein Krieg aller gegen alle, bei dem alle ihre Menschlichkeit abgeben, viele ihr Leben verlieren und auf dessen Asche eine Zukunft entsteht, die ein (Zusammen)leben verunmöglicht. Wir müssen international solidarisch mit denjenigen Israelis und Palästinensern sein, die sich diesem Weg widersetzen und eine friedlichere und gerechtere Zukunft gestalten wollen.

 

Anstrengungen im Ausmaß des Marshallplans sind erforderlich, um die Voraussetzungen für eine friedliche Teilung des Landes zu schaffen

 

Gerade jetzt, während diese Krise andauert, müssen die politischen Entscheidungsträger alle Anstrengungen unternehmen, um auf eine Politik zu drängen, die dem Schutz des zivilen Lebens Vorrang einräumt. Dazu gehört die sofortige Freilassung aller als Geiseln genommenen Zivilisten und die Einrichtung eines humanitären Korridors im Gazastreifen, um die sichere Durchfahrt von humanitärer Hilfe und lebenswichtigen Gütern wie Medikamenten, Lebensmitteln und Treibstoff zu gewährleisten. Längerfristig sehen wir jetzt die verheerenden und unwiderlegbaren Beweise für das Ausmaß der Entmenschlichung und des Hasses, die in den letzten zehn Jahren metastasieren konnten. Die beispiellose Gewalt, die jetzt entfesselt wurde, das Ausmaß der Verluste unter der Zivilbevölkerung und die barbarischen und grausamen Details werden diese Entmenschlichung unweigerlich weiter anheizen.

 

Politische Entscheidungsträger auf höchster Ebene müssen jetzt planen, wie sie die mühsame, aber entscheidende Arbeit des Wiederaufbaus von Vertrauen und Humanisierung zwischen Israelis und Palästinensern leisten können, die beide durch ein Ereignis traumatisiert sind, das einen Wendepunkt in ihrer Sicht auf den anderen darstellt. Um dies zu erreichen, sind Anstrengungen im Ausmaß des Marshallplans erforderlich, um die Voraussetzungen für eine friedliche Teilung des Landes zu schaffen. Dazu gehört eben auch die Unterstützung derjenigen Israelis und Palästinenser, die sich weigern, Feinde zu sein, und jeden Tag daran arbeiten, die Trennung, die Besatzung und die Unsicherheit zu beenden, die zu dem gegenwärtigen Alptraum geführt haben.

 

Wie Antonio Gramsci sagte, als er eine ähnliche Verwüstung und Entmenschlichung bemerkte: »Die alte Welt stirbt, und die neue Welt kämpft darum, geboren zu werden: Jetzt ist die Zeit der Monster.« Nach mehr als einem Jahrzehnt der internationalen Vernachlässigung und De-Priorisierung von Israel-Palästina müssen wir uns nun für ein langfristiges Projekt einsetzen, um diese Menschen – und nicht die »Monster«, die mit Gewalt, extremistischen Ideologien und Hass agieren – zu den Architekten dieser neuen Welt und der israelisch-palästinensischen Zukunft zu machen.

 

Unsere diplomatischen Strategien sollten darauf ausgerichtet sein, sie zu fördern, zu unterstützen und zu stärken, und unsere Medien und unsere eigenen Zivilgesellschaften sollten dazu beitragen, das Wirken ihres Engagements zu würdigen. Nach dreißig Jahren gescheiterter Diplomatie und gebrochener Versprechen, die zur größten Tragödie in der Geschichte dieses Konflikts geführt haben, schulden wir Israelis und Palästinensern nichts weniger.


John Lyndon ist geschäftsführender Direktor der »Alliance for Middle East Peace« (ALLMEP).

Von: 
John Lyndon

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.