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Zum Tod von Ariel Scharon

Der Januskopf aus Kfar Malal

Nachruf

Ariel Scharon war ein genialer Brachialpolitiker, rücksichtsloser Militär und verletzlicher Familienmensch, der gehasst und geliebt wurde. Nun ist er im Alter von 85 Jahren gestorben. Sein politisches Erbe überfordert bis heute viele.

Schmuel Scheinerman war Landwirt aus Leidenschaft und pries bereits 1938 Avocados als Früchte der Zukunft. Vergeblich. Im Jischuv runzelte man die Stirn über den sonderbaren Mann, der 1922 gemeinsam mit seiner Frau Dvora nach Palästina eingewandert war und die landwirtschaftliche Siedlung Kfar Malal unweit von Tel Aviv mit aufgebaut hatte. Das grüne Lorbeergewächs mit dem golfballgroßen Kern war zu exotisch für die meisten Farmer, das Hirngespinst eines Fantasten – schließlich war die Jaffa-Orange in jenen Tagen in aller Munde.

 

Doch Schmuel Scheinerman sollte Recht behalten. Die Avocados blühten, gediehen – und die Scheinermans schwammen weiterhin gegen den gesellschaftlichen Strom; viele Freunde sollten sie durch dieses Verhalten nicht gewinnen, was dazu führte, dass Dvora Scheinerman bis zu ihrem Tod 1988 stets mit einer Flinte unter dem Bett schlafen ging. Diese Sturheit sollte sie, die als Hebamme Menachem Begin zur Welt gebracht hatte, ihrem Sohn vererben: Ariel Scheinerman, der am 27. Februar 1928 geboren wurde und am vergangenen Samstag als Ariel Scharon im Alter von 85 Jahren auf der Schiba-Abteilung des Tel Haschomer Hospitals nahe Tel Aviv gestorben ist – nach acht Jahren im Koma.

 

Die Statur von Bud Spencer und die Stimme von Heinz Rühmann

 

In den Nachrufen, die seither veröffentlicht wurden, ist Ariel Scharon als polarisierender Politiker und Militär hinreichend portraitiert worden. Neben David Ben-Gurion gibt es in der israelischen Geschichte keine Person des öffentlichen Lebens, von der derartig viele Biographien existieren – mehr als ein Dutzend sind es bis jetzt: angefangen von der 1969 erschienen Schrift »Arik von den Fallschirmjägern« über »Scharon – Hält nicht bei Rot« aus dem Jahr 1985 bis hin zu der von Gadi Blum und Nir Hefez verfassten Biographie, die auch auf Deutsch erschienen ist.

 

Ariel Scharon, der eine Statur wie Bud Spencer hatte, dessen lispelnde Stimme aber mehr an Heinz Rühmann erinnerte, wurde gehasst oder geliebt – gleichgültig war er den wenigsten. Der komplexe Charakter dieses Januskopfes war nicht nur das Ergebnis seiner Erziehung, sondern auch der privaten Schicksalsschläge, die – je nach Sichtweise – im Glanz oder Schatten seiner Schlachten in Vergessenheit gerieten.

 

Der Mythos des Kriegers wird in Latrun geboren

 

Von diesen gab es einige im Leben Scharons. Als 17-Jähriger trat er in die Hagana ein und kämpfte im Unabhängigkeitskrieg in der Alexandroni-Brigade. In der Schlacht um Latrun unweit eines Trapistenklosters wurde er schwer verwundet – der Mythos des Kriegshelden war geboren. Nach dem Krieg studierte Scharon zunächst für zwei Jahre an der Hebräischen Universität zu Jerusalem Orientalistik und Geschichte, bevor er 1953 den Befehl erhielt, die »Kommandoeinheit 101« zu führen; eine geheime Elitetruppe in Tradition des britischen Generals Orde Wingate, aus welcher der »ultimative Israeli« Meir Har Zion hervorgehen sollte und die durch ihr brutales Vorgehen hinter feindlichen Linien im In- und Ausland scharf kritisiert wurde.

 

Scharon focht das indes nicht an. Denn: Erst im Zuge des Sinai-Krieges von 1956 sollte er erstmals als unkontrollierbarer Hasardeur im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehen. Er hatte alle Befehle missachtet und seine Fallschirmjäger zum Mitla-Pass nahe des Suezkanals vorstoßen lassen – und dort wurde das Bataillon fast aufgerieben. Fortan stagnierte seine Karriere.

 

Nationale Siege und private Schicksalsschläge

 

Auch privat muss Ariel Scharon an Gräbern stehen. 1956 stirbt erst sein Vater und 1962, sechs Jahre nach seinem Husarenritt am Mitla-Pass, der bezeichnend für die gesamte »Opération Mousquetaire« war, stirbt Scharons erste Frau. Die aus Rumänien stammende Margalit, von Freunden »Gali« genannt, verunglückt bei einem Verkehrsunfall mit einem aus England importierten Auto.

 

Scharon zieht den gemeinsamen Sohn Gur neben dem Studium der Rechtswissenschaften, das er 1966 beenden wird, von nun an alleine auf – bis er zwei Jahre später die jüngere Schwester von Margalit heiratet: Lilly, eine ausgebildete Fallschirmspringerin. Das Jahr 1967, das für den Staat Israel zur »zweiten Geburt« (Tom Segev) werden sollte, machte aus dem Witwer nicht nur einen gefeierten General, der im Sechs-Tage-Krieg die Schlacht um Abu-Ageila mit (s)einer Brechstangentaktik gewonnen hatte, sondern auch einen Vater, der sein eigenes Kind begraben musste. Gur wird an Rosch ha-Schana aus Versehen von einem Freund beim Spielen mit einem Gewehr erschossen. 

 

Der Architekt der »Matrix der Kontrolle«

 

Scharon stürzt sich infolgedessen in Arbeit, wird Oberbefehlshaber des Kommandos Süd – und reicht am 15. Juli 1973 als hochdekorierter Soldat seinen Rücktritt ein. Tags drauf hat er einen Anzug an und erklärt öffentlich seinen Eintritt in die politische Arena, um die »Geldwechsler aus dem Tempel« zu jagen. Die Geldwechsler, das ist Scharon zufolge die seit Jahrzehnten in Israel herrschende Polit-Klasse der Arbeiterpartei, die mit dem kurze Zeit später folgenden Jom-Kippur-Krieg ihre hegemoniale Stellung einbüßt.

 

Er selbst soll durch den Krieg zum überlebensgroßen Helden der Nation avancieren. Er kostete den Moment aus und ließ sich nach seinem geglückten Vorstoß auf das Westufer des Suezkanals, der die bis dato siegreiche ägyptische Armee zum Waffenstillstand zwang, von der Weltpresse nicht koschere Muscheln schlürfend interviewen. Unter der Ägide Menachem Begins, dem er 1977 zu seinem historischen Wahlsieg verhalf, wird Scharon schließlich zum Architekten der »Matrix der Kontrolle«, zum Vater der Siedlungen in den 1967 eroberten Gebieten.

 

Er lässt militärische und zivile Einrichtungen symbiotisch miteinander verbinden, sodass den Palästinensern und Beduinen auf dem Sinai kaum Bewegungsfreiheit bleiben wird. Zudem verkündet er dem »Fünf Fäuste«-Plan Mosche Dajans folgend, auf jedem Hügel im Westjordanland müsse ein »jüdisches Licht brennen, sodass es jeder Araber sehen kann«.

 

1982 – das Wendejahr: Der Feldherr von Beirut räumt den Sinai

 

Doch im Jahr 1982 wird aus dem einstigen Kriegshelden der wohl meist gehasste Mann des Landes. Ariel Scharon ist es, der die von ihm genehmigten Siedlungen auf dem Sinai räumen lässt, um den Frieden mit Ägypten zu ermöglichen. Dadurch zieht er den Zorn der Sinaisiedler zwischen Jamit und Ofira (heute: Scharm al-Scheich) auf sich, und Israel gibt erstmals in seiner Geschichte erobertes Land freiwillig zurück. Aber auch das linke Lager ist fassungslos.

 

Ariel Scharon hat Israel zu einer Kriegspartei im blutigen Bürgerkrieg im Libanon gemacht. 80.000 Mann und rund 800 Panzer haben die Grenze überrannt, nun, 72 Stunden nach Kriegsbeginn, steht »Zahal« bereits in den Vororten einer arabischen Hauptstadt: Beirut. Der 35 Quadratkilometer große muslimische Westteil ist umstellt, wird in der französischsprachigen Welt als zweites Oradour beschrieben. Ariel Scharon will keinen »Frieden für Galiläa«, wie der euphemistische Titel des Waffengangs lautet.

 

Er will einen Blitzkrieg, an dessen Ende die PLO Jassir Arafats nicht mehr existiert, die christlichen Falangisten an der Macht sind und Syrien seine Truppen abzieht. Einzig: Der Plan geht nicht auf. Spätestens mit dem Massaker von Sabra und Schatila im Spätsommer 1982 verliert Scharon, der gefeierte General von einst, die Unterstützung in der Bevölkerung – und Reservisten marschieren für den Frieden. Der Libanon wird zu Israels Vietnam.

 

Oslo-Gegner, Likud-Vorsitzender und zweifacher Witwer

 

Was folgt, sind Jahre der politischen Ächtung. Dies wird nicht zuletzt nach dem Mord an Jitzchak Rabin 1995 deutlich. Scharon und dem jungen Benjamin Netanjahu wird vorgeworfen, sie hätten durch ihre rücksichtslose Rhetorik gegen den Friedensprozess von Oslo den Hass der Rechten im Land geschürt und somit indirekt zur Ermordung Rabins beigetragen. Als Netanjahu im Jahr darauf erstmals Ministerpräsident wird, kehrt Scharon schließlich auf die große Bühne der Politik zurück, wird erst Minister für nationale Infrastruktur und schließlich Außenminister.

 

Trotz allem bleibt er stets ein Außenseiter, der sich, wann immer möglich, auf seiner vier Quadratkilometer großen Ranch nahe Sderot aufhält und sich der Schafs- und Rinderzucht widmet. Bis er 1999 zum Likud-Vorsitzenden gewählt wird. Doch das für Scharon entscheidende Jahr soll das Milleniumsjahr werden. Am 28. September 2000 besucht er in Abstimmung mit der zuständigen Waqf-Behörde den Jerusalemer Tempelberg – und löst damit die Zweite Intifada (Al-Aqsa-Intifada) maßgeblich mit aus.

 

Und er steht wieder an einem Grab, an dem er nicht stehen will: Lilly Scharon, seine zweite Frau und Mutter seiner beiden Söhne Omri und Gilad, stirbt 2000 nach langer Krebserkrankung auf der gemeinsamen Ranch, wo sie auch begraben ist.

 

Scharon, der Wiederholungstäter

 

Als Scharon im darauffolgenden Jahr zum Ministerpräsidenten gewählt wird, stellt er Jassir Arafat – den er als Verhandlungspartner strikt ablehnt – unter Hausarrest und verspricht seinen Wählern, er werde den Terror ausmerzen. Dieses Versprechen verhilft ihm zu einer zweiten Amtszeit, die 2003 beginnt und in welcher er auch mit dem Bau des Trennungswalls begann, bevor er zum Paukenschlag ansetzte.

 

Er, der »Vater der Siedler«, verkündete im Dezember 2003, er wolle einen einseitigen Abzugsplan durchführen, der den gesamten Gaza-Streifen und Teile des Westjordanlandes betreffen werde. Um sein Ziel durchzusetzen, formte er seine Regierung in eine große Koalition mit der Arbeiterpartei um und ließ im August 2005 den Siedlungsblock Gusch Katif räumen. Er wurde zum Wiederholungstäter. Nach der Sinairäumung 1982 nun also der Gaza-Streifen. Das Land war polarisiert und Scharon hatte sich als eiskalter Pragmatiker und Realpolitiker zu erkennen gegeben.

 

Kadima – nur wohin? Das Erbe Ariel Scharons

Das wurde nicht zuletzt dann deutlich, als er am 21. November 2005 aus dem Likud-Block, seiner von ihm geschaffenen politischen Heimat, austrat, und die Kadima-Partei (»Vorwärts«) gründete. Vorwärts wollte er gehen – nur: wohin, das weiß bis heute niemand. Denn Ariel Scharon fiel im Januar 2006 ins Koma. Und ist nicht mehr aufgewacht. Heute, acht Jahre danach und wenige Tage nach seinem Tod, streiten seine politischen Erben immer noch um die Deutungshoheit des »Bulldozers« mit dem Gespür für militärische Hinterhalte und politische Finten.

 

Gegenwärtig ist kein Sieger zu erkennen, vielmehr zeigt sich, dass das politische Erbe des Ariel Scharon alle überfordert. Das Vakuum, das »Arik«, wie Scharon in Israel von Freunden und Fremden genannt wird, hinterlassen hat, ist nie gefüllt worden. Nur darüber ist man sich zwischen Mittelmeer und Jordan einig. Oder um es mit Gideon Levy, der linken Haaretz-Edelfeder, zu sagen: »Als Ariel Scharon ins Koma gefallen ist, da fiel auch Israel in ein Koma.« Am 12. Januar 2014 hat das Land, »dass er so geliebt hat« (Schimon Peres), von ihm Abschied genommen.

 

Heute wird Ariel Scharon, dieser janusköpfige Soldat und Politiker, der sich selbst oft als »Farmer« bezeichnet hatte, auf einem Anemonen-Hügel seiner Ranch »Chavat Schikmim« (wörtlich: »Farm der Maulbeerfeigenbäume«) umgeben von Maulbeerfeigenbäumen beerdigt.

Von: 
Dominik Peters

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