Beton ist die Antwort, aber was war eigentlich die Frage? Das Dossier der zenith-Ausgabe 02/14 über eine Stadt, die doch so schön sein könnte. Jerusalem, im Frühling 2014. Ein Stadtgang.
Donnerstagabend. Rekruten, fast noch Kinder, stehen in kleinen Gruppen an der Zentralen Busstation von Jerusalem, einem charmelosen Neubau, der nicht weit entfernt von der zentralen Ausfallstraße der Stadt liegt. Die Gewehre haben sie lässig auf der Schulter und die schweren klobigen Rucksäcke, die so groß sind, dass einer ihrer Kameraden ohne Probleme hineinzupassen scheint, vor ihren Füßen. Sie unterhalten sich in diesem eigentümlichen Mix aus Jugend- und Militärsprache. Sie lachen, lärmen – und kehren über das Wochenende heim. In ihre Kinderzimmer.
Über die Ausfallstraße Richtung Mittelmeer, in jenes quasi-mythische Emek? Oder doch in der Peripherie, nach Afula oder Beerscheeba, Städte die Duisburg oder Bitterfeld an Trostlosigkeit in nichts nachstehen? Wer weiß das schon. In jedem Fall vorbei an jenen Autowracks, die als stumme Zeugen des Unabhängigkeitskrieges am Seitenstreifen stehen. Ewige Menetekel der zyklischen Kriege auf dem einstigen »highway to hell«?
Mit wissenden Augen blicken die älteren Fahrgäste aus dem Fenster des Busses auf die Rekruten. Ihr ohrenbetäubendes Schweigen steht im Kontrast zum lauten Lärm des »Schaffens einer Nation«, das zwischen Mittelmeer und Jordan noch immer nachhallt.
Jerusalem braucht Zeit. Es ist leicht, sich in der klaustrophobischen Enge des Weltbildes der »einen« oder der »anderen« Seite zu verlieren, die (T)Räume des anderen zu erkunden. Jerusalem, das sind zwei Welten, die in Kontinente unter den Anhängern der abrahmitischen Religionen aufgeteilt zu sein scheinen. Skepsis, Zynismus und Fatalismus, Verwirrung, Resignation oder Ablehnung – alles im Übermaß vorhanden. Die einzige Grenze, auf die sich Palästinenser und Israelis wohl einigen können, ist das Mittelmeer; Kafkas »Kleine Fabel« ist auf tragische Weise zur Magna Charta dieses Ortes geworden.
Die Hebräische Universität ist eine liberale Trotzburg in dieser zwischen religiösem Wahn und politischem Jakobinertum oszillierenden Stadt, eine steingewordene Antithese zu den Elegien, die Stadt blute aus. Ein Ort der Bildung und des Disputierens, aus dem sieben Nobelpreisträger hervorgegangen sind, an dessen Eingängen dem Besucher Albert Einstein als Pappfigur lachend auf einem Fahrrad entgegen fährt – und wo man für drei Schekel einen dieser dünnen Automatenkaffees trinken kann, die auf der ganzen Welt gleich schlecht schmecken.
Ein architektonisches Labyrinth auf einem mit Zypressen übersäten Zauberberg, der hoch über der Altstadt ragt, jenem steingewordenen Perpetuum mobile der politischen Probleme, die durch rabulistische Rhetorik tagein, tagaus in der Weltpresse enervierend erörtert werden. Dort unten sind die Gassen im Winter winklig und windig, im Sommer spenden sie Schatten vor der Hitzefolie, die die Steine überzieht. Kurz nachdem sich die Sonne im Osten majestätisch über die historischen Stadtmauern hebt, bevor sie ihren Platz im azurblauen Himmel des levantinischen Frühlings gefunden hat, kann man von dort oben die Busse beobachten, die jeden Tag Touristen ausladen.
Jene, die sich mit bizarr anmutender religiöser Inbrunst und spärlich bekleidet in der Grabeskirche gebärden und jeden Stein küssen, als habe er Wunderkräfte oder freitags um fünfzehn Uhr die Via Dolorosa entlang pilgern, angeführt von einem Franziskanerpater, der in ein Mikrofon betet und einen Kassettenrecorder aus der Schulter trägt, wie 1982 Grandmaster Flash & The Furious Five.
Vergilbte Postkarten, viele Kinder, vergebliche Mimikry
Alles wirkt ein wenig, wie aus einer anderen Zeit. Dort die vergilbten Postkarten aus der Zeit, als Golda Meir noch mit bis zu 60 »Chester«-Zigaretten pro Tag als Ministerpräsidentin regierte; zwei Gassen weiter sitzen unter dem wohlwollenden Blicken der männlichem Mitglieder der haschemitischen Königsfamilie, die eingerahmt an der Wand hängen, betagte Palästinenser bei Wasserpfeife; direkt nebenan ist die schwere Tür zum Österreichischen Hospiz, in der man unter Palmen Sachertorte essen und Julius Meinl-Kaffee trinken kann, jene Kultmarke, die ihren Ursprung im Ersten Wiener Bezirk hat – dolce far niente. Es ist eine steingewordene Reminiszenz an die untergangene Donaumonarchie, dessen Expeditionskorps mit ihren Gebirgshaubitzen unter der kaiserlichen Flagge des Doppeladlers gemeinsam mit den osmanischen Truppen 1917 in der Schlacht um Gaza im dritten Anlauf von den australischen »Lighthorse Men« des British Empire geschlagen worden waren.
Ortswechsel. Schmuel ha-Navi, ein mit Plattenbauten übersäter Stadtteil und Heimat vieler Haredim, die nach dem Sechstagekrieg Mea Schearim gegen das einstige Niemandsland getauscht hatten, das im Osten mit dem Mandelbaum-Tor endet, dem seinerzeit einzigen Übergang zwischen den jordanischen und israelischen Sektoren. Die Jecheskiel-Straße entlang, bis zum Lampengeschäft »Stern«, das unweit der Jaffa-Straße und dem einstigen »Scha’rei Zedek«-Krankenhaus liegt, in dessen beeindruckenden Steinbau heute die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt zu finden ist, gibt es vor allem eins: Kinder.
Kinder, die mit einer gehörigen Portion Gottvertrauen sowie finanziellen Zuwendungen aus privaten und staatlichen Netz- und Förderwerken ausgestattet, großgezogen werden, bevor sie sich Gottes Wort widmen und der Leveé en masse verweigern. Nicht anders sieht es in Ostjerusalem aus, den palästinensischen Stadtteilen – nur ohne die staatlichen Zuwendungen, Jeschivot und die Supermärkte, in denen Lebensmittel im Neonlicht zu astronomischen Preisen feilgeboten werden.
Ein Armenhaus voller Kinder. Das »Moschav ha-Germanit« mit seinen charakteristischen Steinhäusern und den grünen Fensterrahmen aus Holz ist der krasse Kontrast hierzu und nach jenen christlich-chiliastischen Pietisten benannt, die im 19. Jahrhundert aus ihrer schwäbischen Heimat ins »Heilige Land« ausgewandert, später zu Nationalsozialisten avanciert – und schließlich von der britischen Mandatsmacht nach Australien ausgewiesen worden waren. Heute ist es ein Ort, an dem die Jeunesse dorée der Weststadt und Mondlicht-Flaneure aus Übersee versuchen, die wundervolle Leichtigkeit des Szenedaseins der Tel Aviver Mittelmeermetropole zu imitieren. Vergebliche Mimikry.