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Vorschau auf Neuwahlen im März 2015 in Israel

Alle Fahnen in den Wind

Analyse

Die vorgezogene Neuwahl im März 2015 bietet den Israelis eine nie dagewesene Vielfalt. Dazu tragen vor allem Parteineugründungen, Parteiwechsel und daraus resultierende verwegene Koalitionsmöglichkeiten bei. Ein Überblick.

Über Monate haben sie sich getroffen, mal heimlich, mal öffentlich. Nun haben sie ihre politische Liaison publik gemacht: Zipi Livni, Chefin der Partei HaTnua, und Jizchak Herzog, Vorsitzender der »Awoda – Arbeiterpartei«, wollen mit einer gemeinsamen Liste namens »Zionistisches Lager« bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im März kommenden Jahres antreten, um Benjamin Netanjahu als Ministerpräsidenten abzulösen.

 

Das Besondere: Zunächst will Herzog zwei Jahre lang, anschließend Livni die restlichen beiden Jahre der Legislaturperiode, das Ministerpräsidentenamt führen, wie das Duo auf einer Pressekonferenz in der vergangenen Woche erklärte.

 

Das ist ein Novum in der israelischen Geschichte. Lediglich einmal gab es eine Rotationsregierung – in den 1980er-Jahren zwischen Schimon Peres und Jizchak Schamir –, aber diese Rotation fand zwischen den beiden größten Parteien statt; Labor und Likud hatten seinerzeit beide jeweils über 40 Sitze und bedurften keiner dritten, vierten oder fünften Partei. Auf die sind Livni und Herzog indes dringend angewiesen, auch wenn ihr Vorhaben nach ersten Umfragen gut bei den Wählern zwischen Mittelmeer und Jordan ankommt.

 

Herzog und Livni gegen Netanjahu

 

Die Allianz ist jedoch nicht spontan populär geworden, mitnichten. Vielmehr ist noch vor Chanukka ein neuzeitliches Wunder geschehen: Herzog, dem seine Kritiker stets vorgeworfen haben, seine präferierte Zeit sei die Bedenkzeit, hat erstmals die Initiative ergriffen. Der 54-jährige Familienvater galt lange als Bedenkenträger, als Tel Aviver Prinzling, aufgewachsen in den besten Kreisen, der das Wort »Hautevolée« nicht einmal buchstabieren kann. Ein Kind des roten Adels von Tel Aviv. Jetzt hat er gezeigt, dass er den Jerusalemer Polit-Betrieb auskontern kann, muss aber noch in der Peripherie punkten – in Kirjat Schmona, Safed, Dimona und anderen sozial schwachen Städten.

 

Helfen soll ihm und Livni Schaul Mofas. Der ehemalige Verteidigungsminister und hoch dekorierte Generalstabschef führt die einstmals von Ariel Scharon gegründete und später von keiner geringeren als Livni selbst geführte Kadima-Partei. Sein Kalkül: Indem er seine geschrumpfte Partei als Teil der Wahlliste aufstellt, könnte er die 3.25-Prozenthürde überspringen – und wäre wider Erwarten zurück in der Knesset.

 

Herzog und Livni, deren Partei ebenfalls nach jetzigem Stand nicht in die Knesset einziehen würde, kämen so insgesamt auf 22 Sitze, drei mehr als der konservative Likud-Block von Netanjahu. Zudem weiß das Trio, dass in Israel »Bitachon« stets ein Argument ist – »Sicherheit«. Und Mofas ist, seitdem Ehud Barak das Rentnerleben genießt, der einzige Politiker, der als »Mister Security« landauf, landab punkten kann.

 

Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt auch: In den vergangenen 22 Jahren war die Arbeiterpartei zweimal an der Macht, 1992 unter Jizchak Rabin und 1999 unter Barak – beides ehemalige Generalstabschefs. Israels Linke war immer dann stark, wenn sie sich nicht nur auf soziale Fragen konzentrierte, sondern Männer vorzuzeigen hatte, die glaubwürdige Sicherheitsexperten waren; so erklärt es sich auch, dass Mofas hoch oben auf der gemeinsamen Wahlliste positioniert ist.

 

Dass er heute für ein Mitte-Links-Bündnis kandidiert ist für das ehemalige Likud-Mitglied indes ein Makel. Zumal er nebst Ehefrau 1977 im Dunstkreis der national-religiösen Organisation »Gusch Emunim« selbst in einer Siedlung gelebt hat: Elkanah, unweit der Grünen Linie und präzise zwischen Tel Aviv und Ariel gelegen. Glaubwürdig geht anders.

 

Netanjahu wirbt mit Steuergeschenken um Wählerstimmen

 

Auf die mangelnde Glaubwürdigkeit des Bündnisses verlässt sich auch der konservative Likud-Block. Die Idee dahinter: Welcher Wähler möchte einen Ministerpräsidenten (Herzog), der mit 15 Sitzen in der Knesset nach der Hälfte der Amtszeit seine Macht an jemanden abgibt (Livni), die es ohne eine gemeinsame Liste gar nicht in die Knesset geschafft hätte, zumal das Duo von einem dritten Politiker (Mofas) unterstützt wird, der sein Fähnchen in jede erdenkliche Windrichtung hält?

 

Nach gegenwärtigem Stand will Bibi, so Netanjahus Spitzname, mit der »Schas – Sephardische Torawächter«-Partei von Arije Deri und der mehrheitlich aschkenasisch geprägten »Partei Vereintes Tora-Judentum« koalieren. Die auflagenstärkste israelische Tageszeitung, Jediot Achronot, berichtet, Netanjahu soll Deri den Posten des Finanzministers und Avigdor Lieberman das Ministerpräsidentenamt im letzten Jahr der Legislaturperiode angeboten haben; Bibis Büro dementierte indes.

 

Mit den religiösen Parteien und der rechtsradikalen Partei von Lieberman hätte Netanjahu rund 70 Prozent der Parlamentssitze. Eine satte Mehrheit. Die versucht er noch in die Höhe zu treiben, indem er den Wählern stattliche Steuersenkungen verspricht: Null Prozent Mehrwertsteuer will er künftig auf Brot, Milch und Eier sowie weitere Lebensmittel gerechnet wissen. Im Haushaltsentwurf, der vor wenigen Wochen verabschiedet wurde und in dem Jair Lapid solche Dinge verankert sehen wollte, hatte Netanjahu das noch blockiert.

 

Ein zusätzliches Plus für Netanjahu: Er ist und bleibt nach menschlichem Ermessen der Vorsitzende seiner Partei. Gideon Sa’ar, in Likud-Kreisen hochgelobt und hochgeschätzt, hat erklärt, er werde Netanjahu bei den internen Wahlen nicht herausfordern; eine Kampfkandidatur des gegenwärtig in Vaterschaftsurlaub weilenden ehemaligen Innenministers hätte die ohnehin fragile Likud-Partei an den Rand des Zusammenbruchs gebracht.

 

Zudem gilt es als offenes Geheimnis, dass Sa’ar den Vorsitz übernehmen wird, wenn Netanjahu einmal in Rente geht. Er gilt als Kronprinz, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Reuven Rivlin ins Präsidentenamt kam – gegen den Widerstand von Netanjahu. Apropos Widerstand: Naftali Bennett, der Chef der Siedlerpartei »HaBeit HaJehudi – Jüdisches Heim« ist das Zünglein an der Waage für eine von Netanjahu avisierte konservative Regierung. Er ist gegenwärtig fast gleichauf mit Netanjahu. B

 

ennett will unter Bibi aber nur dann als Minister dienen, wenn er Verteidigungsminister und damit oberster Verwalter der besetzten Gebiete werden kann. »Bennett ist Bibis Klon, nur furchtloser und mit weniger Hemmungen«, schrieb Ben Caspit jüngst auf dem Online-Portal Al-Monitor. Treffender kann man es nicht formulieren. Ein weiteres Problem: Sowohl Arije Deri als auch Bennett, die Netanjahu für sein Kabinett fest einplant, stellen nicht nur hohe Forderungen, sondern werden wohl auch Verluste bei den Wahlen hinnehmen müssen.

 

Deri gilt eher als links, sein ewiger Antipode in der »Schas«-Partei ist Eli Jischai. Er hat nun eine neue Partei gegründet – gemeinsam mit Uri Ariel, bislang Mitglied in Bennetts Partei und Wohnungsbauminister. Ariel hatte in der Partei einen »Rat der Torawaisen« installiert – dem Beispiel der »Schas«-Partei folgend, wo ein solcher Rat existiert –, was Bennett missfiel. Er würde dadurch die national-konservativen Wähler verlieren.

 

Keiner schaffts allein

 

Auf die zielt auch Avigdor Lieberman, Parteivorsitzender der ultrarechten »Israel Beitenu – Unser Zuhause Israel« ab. Ob der Außenminister und Magnet der russischen Wählerschichten wirklich wieder bei Netanjahu als Kellner dient, ist indes fragwürdig. Er will endlich Koch werden – und blickt deshalb in die politische Mitte. Es ist dies eine der großen Überraschungen in den furiosen ersten Tagen nach der Auflösung der Knesset.

 

Lieberman könnte statt Netanjahu auch Mosche Kachlon folgen. Dem Shooting-Star des Vorwahlkampfs. Der ehemalige Parteigänger des konservativen Likud-Blocks will mit seiner eigenen Partei, »Kulana – Wir alle«, um Wählerstimmen buhlen. Seine Chancen auf Erfolg stehen gut: In seinem Amt als Kommunikationsminister hatte er eine Reform des Mobilfunkmarktes forciert, was die Preise für Kommunikation rapide sinken ließ.

 

In einer aktuellen Umfrage der Tageszeitungen Jerusalem Post und Maariv liegt Kachlon im direkten Vergleich mit Netanjahu bereits vor diesem. Kachlon war auch Wohlfahrtsminister. Er will keine Außenpolitik machen, strebt auch nicht das Ministerpräsidentenamt an, sondern den Posten des Finanzministers – Wirtschafts- und Sozialthemen sind sein Gebiet. Er soll bis zu zehn Sitze bekommen und teilt sich mit Lieberman die Abneigung zu Netanjahu.

 

Kachlon, so scheint es, könnte mit seiner Parteineugründung und prominenten Unterstützern wie Michael Oren, dem beliebten ehemaligen Botschafter in den USA, einen ähnlichen Erfolg verbuchen, wie Jair Lapid bei den letzten Wahlen.  Der Messias der Mittelklasse von einst wird mit seiner »Jesch Atid – Es gibt eine Zukunft«-Partei voraussichtlich die Hälfte der gegenwärtig 19 Knessetsitze verlieren. Ein herber Rückschlag und gleichsam die logische Folge, nachdem Lapid nichts von dem eingehalten hat, was er weiland angekündigt hatte.

 

Lapid wird, ähnlich wie Bennett, eine entscheidende Rolle bei einer Regierungskoalition zukommen. So könnte er mit ebenjenem Bennett, Lieberman und Kachlon – mit dem er sich bereits zu Sondierungsgesprächen getroffen hat – koalieren, oder aber auch mit Livni, Herzog und Mofas sowie der linksgerichteten Merez-Partei; ursprünglich hatte er Livni umworben, mit ihm eine gemeinsame Liste auszurufen, das Rennen aber gegen Herzog verloren.

 

Eine Netanjahu-Lapid-Koalition scheint aufgrund der unüberbrückbaren Differenzen mit den religiösen Parteien, die Netanjahu zwingend braucht, unrealistisch. Fest steht: Die nächste Regierung wird – zum vierten Mal unter Netanjahu oder nicht – angeführt von jemanden, der sich verbiegen muss, da die eigene Partei zu schwach ist, um die eigene Agenda klar durchzusetzen. Alle hängen gegenwärtig ihre Fahnen in den Wind, bleiben so profillos. Eine Reformierung der Sperrklausel für den Einzug in die Knesset scheint nötiger denn je.

Von: 
Dominik Peters

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