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Vor den Parlamentswahlen in Georgien

Dschihad, Wahlkampf oder Geopolitik?

Feature

Ein Internetvideo fordert zum Dschihad gegen Georgien auf. Die Suche nach den Erstellern dauert an, die Lager von Premierminister und Präsident beschuldigen sich gegenseitig. Viele Georgier haben dagegen den großen Nachbarn im Verdacht.

Seit zwei Wochen macht in Georgien ein Youtube-Video Schlagzeilen. Darin fordert ein Sprecher in feinstem Englisch, begleitet von Bildern in Afghanistan getöteter georgischer Soldaten, zum Dschihad gegen den Kaukasusstaat und seinen Präsidenten Micheil Saakaschwili auf. Das allein schockiert im Jahr zwölf des »Kampf gegen den Terror« auch in Georgien kaum noch jemanden. Doch seit das mittlerweile vom Innenministerium bestätigte Gerücht aufgekommen ist, der Ersteller komme aus Georgien, dominiert das Video die politische Debatte im Land. Die Angelegenheit nahm an Brisanz zu, als am Tag nach dem Auftauchen des Clips eine Basis der georgischen ISAF-Soldaten im südafghanischen Helmand angegriffen und dabei sieben georgische Soldaten getötet wurden.

 

Längst ist der Fall keine rein georgische Angelegenheit mehr. So hat das georgische Innenministerium um die Unterstützung des amerikanischen FBI bei den Untersuchungen gebeten und die georgische Staatsanwaltschaft hat Google aufgefordert, ihr alle verfügbaren Informationen bezüglich des Videos zur Verfügung zu stellen. Die anhaltende Suche nach den Erstellern des Videos heizt die Spekulationen an, vor allem auf Facebook und in Internetforen. Dabei kommen – abgesehen von einem genuin islamistischen Hintergrund – drei Parteien als mögliche Initiatoren in Frage.

 

Politische Schlammschlacht im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen

 

Die aktuelle Regierungskoalition »Georgischer Traum« von Premierminister Bidzina Iwanischwili wird von ihrem politischen Gegner, der Partei »Vereinte Nationale Bewegung« (VNB) beschuldigt, hinter dem Video zu stecken. Als Indiz dient die starke Fokussierung im Video auf den Vorsitzenden der VNB, Präsident Micheil Saakaschwili. Verdächtig machte sich Iwanischwili auch, als er die Teilnahme an einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats zum Umgang mit dem Video absagte und andere politische Prioritäten vorschob. Trotzdem gilt die aktuelle Regierung als unwahrscheinlicher Drahtzieher, da ihr ein Motiv fehlt. Den Regierungsparteien kann – gerade im Hinblick auf die im Oktober anstehenden Präsidentschaftswahlen – nicht an einer Beunruhigung der Bevölkerung gelegen sein.

 

Ein solches Anliegen würde eher auf das konkurrierende politische Lager um Präsident Saakaschwili hindeuten, der als aussichtloser Kandidat in die Wahlen geht. Panikmache und Unruhen im Land könnten die aktuelle Regierung schwächen und der VNB als letzter Strohhalm dienen. Darüber hinaus hat das Team um den Präsidenten Erfahrung mit Medienmanipulation: Während des Georgisch-Russischen Fünftagekriegs 2008 zeigte der Saakaschwili-Vertraute und damalige Direktor von Imedi TV, Giorgi Arweladse, auf seinem Sender gefälschtes Nachrichtenmaterial, um den Präsidenten als einzig fähigen Beschützer Georgiens zu inszenieren. Die Regierungskoalition hat Arweladse folglich als Initiator des Videos ausgemacht. Aber auch diese Variante gilt als eher unwahrscheinlich, nicht zuletzt, weil Saakaschvili selbst im Video verteufelt wird. So sind die gegenseitigen Beschuldigungen letztendlich wohl einfach erneuter Audruck der seit Jahren andauernden, und oftmals rein polemischen Auseinandersetzung zwischen den beiden politischen Lagern.

 

»Russland hat das größte Interesse an einer Destabilisierung Georgiens«

 

Fragt man die Georgier selbst, so vermutet eine Mehrheit von ihnen Russland hinter dem Video. Moskau, so viel steht fest, hat zumindest ein klares Motiv. Zum einen mag es darauf spekulieren, dass tote georgische ISAF-Soldaten die angepeilte NATO-Mitgliedschaft Georgiens in der Bevölkerung diskreditieren. Zum anderen passt der Zeitpunkt des Videos zu einer russischen Offensive im zwischen Georgien und Russland umstrittenen Südossetien. Russische und ossetische Truppen errichteten Mitte Juni einen Grenzzaun, um die Region, die völkerrechtlich zu Georgien gehört. Dieser Schritt bedeutet nicht nur eine Verletzung eines 2008 getroffenen Abkommens, der Zaun wurde außerdem teilweise bis zu 300 Meter in georgisches Kernterritorium hineingezogen.

 

Russland versucht hier territoriale Fakten zu schaffen, da kommen innenpolitische Wirrungen in Georgien Moskau gerade recht. Khatuna Chapichadze, Politikwissenschaftlerin an der Technischen Universität in Tiflis, bestätigt diese Überlegungen: »Russland hat das größte Interesse an einer Destabilisierung Georgiens, die aktuelle Regierung das geringste.« Nun wartet Georgien gespannt auf die Untersuchungsergebnisse. Sollte die aktuelle Regierung oder das Saakaschwili-Lager etwas mit dem Video zu tun haben, wird das innenpolitisch brisante Folgen und entscheidende Auswirkungen auf die Präsidentschaftswahlen haben. Sollten die Untersuchungen jedoch in den nächsten Wochen tatsächlich eine Verbindung nach Russland offenbaren, werden die unter Premier Iwanischwili leicht verbesserten Beziehungen zwischen den beiden Staaten wohl einen neuen Tiefpunkt erreichen. Eine erneute militärische Auseinandersetzung wie 2008 kann dann nicht mehr ausgeschlossen werden.

Von: 
Oliver Müser

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