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Verfassungsreform in Tunesien

Ein Land im Umbruch

Essay

Tunesien baut die Grundlagen seines Staates neu. Das kann gelingen, wenn in entscheidenden Bereichen ein gesellschaftlicher Kompromiss gefunden wird. Doch viel Zeit bleibt nicht, meint Bundesjustizministerin a.D. Herta Däubler-Gmelin.

Wer Tunesien nach der Jasmin-Revolution regelmäßig besucht, um – wie ich – über Probleme des Übergangs und einer neuen Verfassung zu beraten, der freut sich nicht allein über den herrlichen Blick aufs Mittelmeer, das warme Klima und die grandiosen Altertümer und Museen, die diese wunderschöne Land bekanntlich zu bieten hat.

 

Da schaut man vielmehr schon beim ersten Spaziergang durch die Hauptstadt nach den  Stacheldrahtzäunen und Absperrgittern, die bisher Hinweis auf eine problematische Sicherheitslage waren. Jetzt sind sie weg – und alle freuen sich, dass sie verschwunden sind. Ganz offensichtlich befürchtet keiner mehr gewalttätige Anschläge, die Sicherheit der Bevölkerung hat sich verbessert – ohne Zweifel ein Erfolg der Übergangsregierung.

 

Man sieht auch: Die Boulevards und Cafes sind voller Menschen, Tunis ist eine wunderschöne südliche Großstadt voller Leben, die Ausländern sehr offen und freundlich begegnet. Und wer mit ihnen ins Gespräch kommt, spürt noch viel von dem Elan, der Hoffnung und dem Mut, der zur Überwindung des alten Ben-Ali-Regimes geführt hat.

 

Die Probleme erkennt man allerdings auch sehr schnell: Es sind kaum Baukräne oder sonstige Hinweise auf Bautätigkeit zu sehen. Auch fällt auf, dass besonders viele der Cafébesucher und Boulevard-Flaneure jüngere Männer sind. Sie sitzen oder stehen ziemlich traurig herum, sind arbeitslos und leiden sichtlich darunter. Gespräche mit Wirtschaftsunternehmen und Gewerkschaften bestätigen dieses Bild: Die Wirtschaft erholt sich nur sehr langsam, ausländische Investoren und Touristen sind dringend gefragt. Hier muss Deutschland, hier können auch die EU und die Internationale Gemeinschaft viel mehr tun, um den jungen Leuten endlich die erhofften Chancen zu verschaffen und damit zu verhindern, dass der bewundernswerte Mut und der ganze persönliche Einsatz zur Überwindung der Diktatur nicht in Frust und Enttäuschung untergehen. Die Geduld gerade der jungen Leute ist beeindruckend; sie kann jedoch nicht ewig anhalten.

 

Die Extremisten dürfen nicht ermutigt, Frauen und Universitäten nicht alleine gelassen werden

 

Ins Auge fällt auch die von Besuch zu Besuch zunehmende Zahl der Kopftuchträgerinnen. Das kann unterschiedliche Gründe haben, fest steht allerdings, dass Kopftuchträgerinnen in der Stadt früher kaum zu sehen waren; heute dürften sie die Mehrheit bilden. Auch das ist eine neue Entwicklung. Voll verschleierte Frauen allerdings sehe ich kaum.

 

Gespräche mit Frauen, mit Lehrerinnen und Lehrern an Schulen und Universitäten, aber auch mit Presseleuten beunruhigen: Die Zeit der Unsicherheit ist nicht vorbei. Veränderungen bringen Unsicherheit; noch mehr tragen salafistische Gruppen dazu bei. Sie nutzen die neuen Freiheiten und die aus rechtsstaatlichem Training, aber auch aus eigener Unsicherheit herrührende Zurückhaltung der Polizei, um ihre extrem-religiösen Auffassungen und Erwartungen durch Demonstrationen und aggressive Aktionen meist gegen Frauen durchzusetzen.

 

Besonders die Frauen in Lehrberufen sind ihre Angriffsziele. Wer mit Studierenden oder Dozenten an Sekundarschulen oder Universitäten spricht, spürt deren wachsende Sorgen und Ängste: Islamisten greifen Dozentinnen und Studierende an, die sich ihrem Diktat der Vollverschleierung nicht beugen wollen. Die Universitäten lehnen auch voll verschleierte Studierende aus der richtigen pädagogischen Überlegung ab, dass erfolgreiche Wissensvermittlung den Blickkontakt zwischen Lernenden und Lehrenden voraussetzt. Lehrerinnen und Schulen, Dozenten, Fakultäten und Universitäten sind jedoch zunehmend bekümmert, weil, wie sie sagen, Regierung und Polizei die Salafisten nicht stoppen und deren Druck, deren dreiste Drohungen, ja deren Gewalt und Überfällen zur Angelegenheit der Schulen und Universitäten erklärt.

 

Das ermutigt die Extremisten. Frauen und Universitäten fühlen sich alleingelassen und befürchten die rückwärtsgewandte Veränderung der Gesellschaft. Sie fragen verständlicherweise, ob die Zurückhaltung der Regierung Zeichen von Unsicherheit ist oder ob Regierung und Polizei die Salafisten ganz bewusst gewähren lassen. Hoffentlich ist dies nicht der Fall, von meinen Gesprächspartnern war eine klare Antwort auf diese Befürchtungen nicht zu bekommen, sie sehen die Übergriffe der Salafisten nicht als bedeutend an. Möglicherweise wird sich das bald ändern, weil diese sich in den letzten Tagen vermehrt gegen christliche Kirchen und jüdische Synagogen richtet.

 

Das Interesse am Vorgehen Deutschlands nach der Wiedervereinigung ist groß

 

Unsicherheit ist auch im Umgang mit der Pressefreiheit zu bemerken: Zwar gibt es in Tunesien schon seit dem letzten Herbst gültige neue Gesetze, die Pressefreiheit gewährleisten sollen und willkürliche Verhaftungen verbieten. Allerdings scheinen sie noch nicht überall angewandt zu werden, wie die Verhaftung von Redakteuren und des Herausgebers einer Zeitung zeigt, die Fotos einer halbnackten Frau veröffentlicht hatten. Begründet wurden Verbote und Haft mit Verstößen gegen die Pressegesetze. Der Journalist wurde nach kurzer Zeit, der Herausgeber erst nach mehr als einer Woche aus der Haft entlassen, nachdem ein Aufschrei durch die tunesischen Zeitungen gegangen war und auch ausländische Regierungen ihre mahnende Stimme erhoben.

 

Bemerkenswert für mich war zweierlei: Die lebhafte Diskussion in tunesischen Zeitungen und, dass, anders als bei der Beurteilung der salafistischen Angriffe auf Studentinnen und Dozentinnen, kein einziger meiner tunesischen Gesprächspartner aus den verschiedenen Parteien sich gleichgültig zeigte: Jeder verurteilte das Vorgehen des zuständigen Richters, alle distanzierten sich davon; das Gerichtsverfahren läuft freilich weiter.

 

Unsicherheit zeigt sich auch bei der Aufarbeitung der Verbrechen, des Unrechts und der staatlichen Gewalt des alten Regimes und während der Revolutionszeit. Vielen Opfern wäre es am liebsten, die Opfer würden schnell entschädigt und die Verantwortlichen aus dem Staatsapparat, insbesondere aus Polizei und Justiz, entfernt. Das Interesse am Vorgehen Deutschlands nach der Wiedervereinigung ist groß. Konkrete Vorstellungen über Lösungen sind jedoch weder in der Übergangsregierung, noch in der Nationalversammlung vorhanden. Auch Diskussionen über die Bildung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission, mit der in Südafrika oder auch in Marokko gute Erfahrungen gemacht werden konnten, stehen noch ganz am Anfang. Das enttäuscht viele aktive Mitglieder der Zivilgesellschaft und bremst zugleich den Innovationswillen ganzer Bereiche des Staatsapparats. 

 

Die Führung der Ennahda besteht nicht aus Extremisten

 

Die Beratungen in der verfassungsgebenden Nationalversammlung, die aus den Wahlen vom letzten Oktober hervorgegangen ist, sind jetzt angelaufen. Das ist gut. Ich hatte Gelegenheit, ausführlich mit Gesprächspartnern aus allen politischen Strömungen zu beraten. Dabei waren die Ernsthaftigkeit und das Verantwortungsbewusstsein der führenden Politiker, aber auch der Abgeordneten, die sich zum ersten Mal gewählt, mit Verfassungsfragen beschäftigten, außerordentlich beeindruckend.

 

Bekanntlich haben sich die Wählerinnen und Wähler in den Oktoberwahlen mit deutlicher Mehrheit für religiöse Parteien in der verfassungsgebenden Nationalversammlung ausgesprochen. Bekannte Einzelpersönlichkeiten wie etwa der im Westen hoch geachtete Völkerrechtler Prof. Achour konnten kaum Erfolge erzielen und Parteien, die sich klar für einen laizistischen, republikanischen Kurs aussprachen, konnten meist nur Wahlkreise in den entwickelten Küstenregionen erobern. Dieses Wahlergebnis, das durch eine sensationell hohe Wahlbeteiligung von über 90 Prozent zustande kam, ist durch viele Beobachter auch bei uns mit viel Besorgnis kommentiert worden.

 

Dabei könnten gerade wir Deutschen vor dem Hintergrund unserer Geschichte dafür Verständnis haben: Viele der führenden Persönlichkeiten etwa von Ennahda, die 40  Prozent der Stimmen und 90 der 217 Sitze gewonnen hat, wurden durch das Ben Ali-Regime ins Exil gezwungen oder saßen lange in den tunesischen Gefängnissen; sie waren nach der Revolution schon deshalb glaubwürdig. In den eher unterentwickelten ländlichen Bereichen Tunesiens herrschte zudem die Auffassung vor, man könne Menschen, die sich religiösen Werten verpflichtet wissen, eher zutrauen, der Versuchung von Machtmissbrauch und Korruption zu widerstehen. Auch das deckt sich ja durchaus mit Erfahrungen aus den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland.

 

Entscheidend aber ist wohl, dass gerade die Führung von Ennahda nicht zu extremen, sprich islamistischen Tendenzen neigt. Folgerichtig haben sich die Politiker der Ennahda mit zwei kleineren Parteien zu einer Koalition vereinigt: Mit dem Kongress für die Republik (CPR), der 17 Prozent und damit 30 Sitze in der Nationalversammlung erreichen konnte. Und mit dem eher sozialdemokratisch ausgerichteten Demokratischen Forum für Arbeit und Freiheit (Ettakatol) mit 21 Sitzen. 

 

Entscheidend wird der Wille zum tragfähigen Kompromiss sein

 

Diese Koalition trägt nicht allein die Übergangsregierung, sondern soll auch eine die Mehrheit in der verfassungsgebenden Nationalversammlung sicherstellen und dort eine Verfassung erarbeiten, die durch eine breite Mehrheit der tunesischen Bürgerinnen und Bürger angenommen werden kann. Dieser Ansatz, der unterschiedliche religiöse und ideologische Grundauffassungen zusammenführen will, unterstreicht die Klugheit und das Verantwortungsbewusstsein der politischen Akteure. Ob letztlich genügend Gemeinsamkeiten vorhanden sind, um eine Verfassung für die breite Mehrheit der Tunesier zu erarbeiten und damit in der gebotenen Zeit die Unsicherheit im Land zu überwinden und die Wirtschaft anzukurbeln, wird bis zum Sommer entschieden sein.

 

Schon heute zeichnen sich Gemeinsamkeiten, aber auch mögliche Problempunkte ab: Die weitaus größte Zahl der Abgeordneten aller Gruppierungen will den »Acquis revolutionnaire«, also das erhalten, was die Jasmin-Revolution erkämpft hat. Sie wollen, dass Demokratie und Freiheit, die Sicherung vor Diktatur und Machtmissbrauch, die Gewährleistung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Verfassung festgeschrieben werden. Völkerrechtliche Verpflichtungen sollen eingehalten, der Kampf gegen Korruption wirksam verstärkt werden. Das betonen alle.

 

Formulierungen allerdings gibt es noch nicht. Derzeit werden im einzelnen unterschiedliche Entwürfe verglichen und diskutiert. Es ist auch nicht klar, ob es gelingt, den ehrgeizigen Zeitplan von längstens einem Jahr bis zum abschließenden Verfassungsreferendum einzuhalten.

 

Das alles wird davon abhängen, ob die Problemfragen übereinstimmend oder wenigstens mit dem Willen zu tragfähigen Kompromissen angepackt werden: Gelingt es, das Verhältnis von Religion und Staat zufriedenstellend festzulegen, dann ist viel gewonnen. Heute bestehen viele Tunesier auf laizistischen Verfassungsbestimmungen, die eine klare Trennung von Religion und Staat festlegen. Auf der anderen Seite haben Teile von Ennahda jedoch Verfassungsformulierungen vorgelegt, die der Scharia Vorrang einräumen und die Festlegung, was im Einzelfall der Scharia entspricht, der Fatwa eines Gremiums aus religiösen Führern zuweisen wollen. Beides ließe sich weder mit Religionsfreiheit, noch etwa der gleichen Rechte und Chancen für Frauen vereinbaren.

 

Mehr Wirtschaftsförderung, mehr Investitionen, mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätze anbieten

 

Keiner meiner Gesprächspartner, aus welcher Gruppierung auch immer, wollte die Rechte der Frauen und ihre Chancengleichheit antasten. Ob das jedoch in einer klaren Verfassungsbestimmung festgelegt werden kann, die etwa der des Grundgesetzes entspräche, lässt sich nicht absehen. Auch hier beginnen die Diskussionen erst; ein neuer Arbeitskreis weiblicher Abgeordneter ist erst einmal zusammen getreten und muss versuchen, die ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen der – wenigen – laizistisch orientierten städtischen Abgeordneten mit denen der auf den ländlichen Ennahda-Listen gewählten überwältigenden Mehrheit der weiblichen Abgeordneten zusammenzuführen. Das wird Zeit brauchen – die Lebenswirklichkeiten sind zu unterschiedlich.

 

Zum Dritten ist heute noch nicht abzusehen, ob sich die tunesische Nationalversammlung für eine parlamentarisch-repräsentative oder für eine präsidiale Demokratie nach französischem Muster entscheiden wird. Es gibt auch noch keine Festlegungen, ob die Verfassung, die als oberste Norm alle staatlichen Gewalten bindet, durch ein Verfassungsgericht geschützt werden soll, das die Bürger mit einer Verfassungsbeschwerde unmittelbar anrufen können, oder durch einen Senat oder durch einen Präsidenten.

 

Alle diese Fragen werden jetzt erörtert. Nicht allein in den Fraktionen und Kommissionen der verfassungsgebenden Nationalversammlung, die dann der Redaktionskommission Vorschläge vorlegen, sondern auch in immer aktiver werdenden Foren der Zivilgesellschaft: Universitäten, Anwaltsvereinigungen und Verbände laden zu Kongressen ein und unterbreiten ihre Vorschläge.

 

Sie zeigen, dass die Tunesier die Grundlage ihres neuen Staates sehr Ernst nehmen. Das ist gut. Sie verlangen aber auch nach Unterstützung durch die europäischen Nachbarn. Die deutschen politischen Stiftungen engagieren sich in vorbildlicher Weise. Wichtig ist aber auch, dass endlich mehr Wirtschaftsförderung, mehr Investitionen, mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätze angeboten werden.

 

Es geht darum, den Schwung der Freiheitsbewegung zu erhalten. Hier kann und muss erheblich mehr geleistet werden. Viel Zeit bleibt nicht mehr.


Herta Däubler-Gmelin, geboren 1943, saß von 1972 bis 2009 für die SPD im Deutschen Bundestag. Im Kabinett Schröder war sie von 1998 bis 2002 Bundesministerium der Justiz. Daneben hat sie Lehraufträge u.a. an der FU Berlin und der TWTH Aachen inne. Seit 2011 begleitet die Juristin den Verfassungsprozess in Tunesien als politische Beraterin.
Von: 
Herta Däubler-Gmelin

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