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Verfassungsgebung in Ägypten

»Verfassung ist doch kein Fast Food«

Analyse

Der Militärrat und die islamistische Parlamentsmehrheit rüsten sich zur Kraftprobe um Regierungslegitimität und Verfassungsgebung. Revolutionäre Jugend, Linke und Liberale sind dabei zusehend marginalisiert.

Das postrevolutionäre Ägypten steckt in einer tiefen Regierungs- und Verfassungskrise. In diesen Tagen läuft zusammen, was sich seit Monaten schon als Konflikt abgezeichnet hat: es kommt zur Kraftprobe zwischen Muslimbrüdern, Liberalen, Revolutionsjugend und dem Militärrat. Einerseits streitet man, ob das Parlament oder der Militärrat die politische Macht im Staate haben. Andererseits geht es um die Frage, wer die neue Verfassung schreibt.

 

Die Unzufriedenheit mit der vom Militärrat eingesetzten Regierung Ganzouri hat mit dem seit Monaten andauerndem Gas- und Benzinmangel seinen Höhepunkt erreicht. Die Muslimbrüder beschlossen deswegen als stärkste Kraft im Parlament der Regierung das Vertrauen zu entziehen. Ein klassisches Recht des Parlaments in einer Demokratie, nur besteht dafür noch nicht die Rechtsgrundlage. Noch gibt es ja keine Verfassung, die die Kompetenzen des Parlaments beschreibt.

 

Der Militärrat antwortete prompt: Sollten die Muslimbrüder die Vertrauensfrage stellen, dann würde der Militärrat das Parlament auflösen lassen. Begründung: der Wahlmodus, also das Verhältnis von Direktmandaten und Listenwahl – wurde bei den Parlamentswahlen im Dezember nicht wie in der Verfassung ausgeführt, sondern auf Drängen aller Parteien geändert. Damit ist die Wahl zwar legitim, aber juristisch angreifbar.

 

Es steht also das Parlament, mit einer Mehrheit der Muslimbrüder, gegen Militärrat, der Ausgang des Konflikts unvorhersehbar. Die Muslimbrüder drohen dem Militärrat mit erneuten Massendemonstrationen. Doch ob das klappt, ist ungewiss, denn der Motor dieser Proteste, die Jugend, will sich nicht von den Muslimbrüdern für ihre Machtambitionen missbrauchen lassen. Die Revolutionsjugend empört sich zudem aus einem anderen Grund über die Muslimbrüder: die verfassungsgebende Versammlung.

 

»Das kann's doch nicht gewesen sein!«

 

Schaffen es die Kräfte der Revolution eine neue Verfassung und damit den Übergang zu einem demokratischen System durchzusetzen oder ist Ägypten auf dem Weg in die nächste Diktatur? Die Verfassung soll von einem Gremium erarbeitet werden, das von beiden Kammern des Parlaments bestimmt wird. So wurde in der vergangenen Woche eine 100-köpfige verfassungsgebende Versammlung gewählt, die eher an einen islamistischen Männerclub, nicht aber an die ägyptische Gesellschaft erinnert. Die Muslimbrüder, zusammen mit den Salafisten nutzten ihre Mehrheit im Parlament aus – und drückten so ihre Leute durch. Nur 6 Frauen, nur 6 Kopten, nur 12 »junge Menschen«, wenige Linke und Liberale – viele befürchten bei der Mischung eine Verfassung nach dem Vorbild Saudi Arabiens.

 

Wichtige Persönlichkeiten wurden aus politischem Kalkül von vornherein ausgeschlossen, darunter der Friedensnobelpreisträger Mohamed El Baradei. Aus Protest verließen Linke und Liberale das Gremium. Das ganze scheint ohnehin eine Farce zu sein: Man will die Verfassung vor den Präsidentschaftswahlen im Mai verabschieden, hat also gerade einmal vier Wochen Zeit, um die Leitlinien eines neuen, demokratischen Ägyptens auszuarbeiten. »Eine Verfassung ist doch kein Fast Food«, kommentiert El Baradei über Twitter.

 

Niedergeschlagene Gesichter in Downtown-Kairo. Die jungen Leute, die ihr Leben für die Revolution riskierten, finden sich nun zwischen einem Militär, das nicht von der Macht ablässt, und Islamisten, die die Verfassung im Alleingang schreiben wollen, wieder. »Wir warten das Duell der beiden ab, danach beginnen wir wieder von vorn, noch ist nichts gewonnen. Das kann's doch nicht gewesen sein!«, so ein junger Revolutionär. Ob er überhaupt noch Hoffnung für die Ziele der Revolution habe? »Klar, sind das schwarze Tage. Aber wir hätten letztes Jahr auch nie gedacht, dass wir die Kraft haben, Mubarak nach nur 18 Tagen zu stürzen.«

Von: 
Victoria Tiemeier

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