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Schmugglertunnel in Gaza

Konzern im Untergrund

Feature

Auch wenn die militärische Eskalation zwischen Israel und der Hamas wieder abklingt, wird der Grenzverkehr zur Grundsatzfrage der wirtschaftlichen Zukunft des Gazastreifens. Doch eine Schließung der Schmugglertunnel hat mächtige Feinde.

Seit Beginn der israelischen Grenzblockade 2007 ist der Grenzübergang Rafah für die 1,6 Millionen Palästinenser im Gazastreifen der einzige offizielle Weg nach draußen; eine ungemütliche Alternative bieten nur die Untergrundtunnel. Doch selbst damit scheint es langsam vorbei zu sein. Nach dem Anschlag im Sinai begann Ägypten, zahlreiche Tunnel zu schließen. Sie sollen von den Angreifern benutzt worden sein und werden deshalb als Sicherheitsrisiko eingestuft.

 

Die Unterbrechung des Tunnelverkehrs zeigte schon nach einer Woche fatale Wirkung. Im Gazastreifen kamen 30 Prozent weniger Treibstoffimporte und 70 Prozent weniger Baumaterialien als in der Woche zuvor an. Der Treibstoffmangel im einzigen Kraftwerk des Palästinensergebiets führte zu Stromausfällen von bis zu 16 Stunden am Tag, was wiederum den Benzinverbrauch durch die unzähligen Generatoren ansteigen ließ.

 

So kam es täglich zu langen Warteschlangen vor Tankstellen, sofern überhaupt Benzin verfügbar war. Den Kritikern der Tunnelökonomie hat diese Krise Aufwind verschafft. Sie hoffen, dass der Schmuggelbetrieb im Untergrund bald durch geregelte Importe und Exporte an der Oberfläche ersetzt wird. Der Vizeaußenminister der Hamas-Regierung des Gazastreifens, Ghazi Hamad, sprach in einer Presseerklärung Anfang August sogar von Plänen für eine Freihandelszone mit Ägypten, die den Gazastreifen »befreien« werde.

 

Die Hamas versucht das Nachbarland schon seit Monaten zu einer Formalisierung der Handelsbeziehungen zu bewegen, doch bislang ohne sichtbaren Erfolg. Dennoch hat gerade die Krise nach dem Anschlag auf die Grenze viele optimistisch gestimmt. »Wenn der Übergang Rafah für den Handel geöffnet wird, werden die Tunnel bald Geschichte sein«, sagt Azzam al-Shawwa, Generaldirektor der palästinensischen Quds Bank und früherer Energieminister in der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA).

 

»Die Tunnel haben zwar billige Güter gebracht, doch im Endeffekt haben sie der Privatwirtschaft geschadet.« In den Verhandlungen über eine Formalisierung der Handelsbeziehungen zwischen Gaza und Ägypten wird über mehrere Optionen diskutiert. »Eine Freihandelszone ist nur eine der Möglichkeiten«, sagt Vizeminister Hamad. Dabei könnten Waren über den ägyptischen Hafen Al-Arish ohne Einfuhrzölle nach Gaza importiert werden. Doch Hamad warnt schon einmal vor zu hohen Erwartungen: »Das würde den Gazastreifen nicht zu einer Art Taiwan machen. Wir müssen realistisch bleiben.«

 

25 Dollar für eine Passage

 

Auch eine Art Industriezone, zu der Arbeiter aus dem Gazastreifen freien Zugang hätten, ist seit Jahren im Gespräch. Dagegen sprechen allerdings Ägyptens eigene Probleme. »Ägypten hat selbst 90 Millionen Einwohner. Eine weitere Million aus Gaza wird nicht erwünscht sein«, räumt Hamad ein. Ägyptens neuer Präsident Mursi, der sich als Muslimbruder der historisch und ideologisch verwandten Hamas politisch verbunden fühlen dürfte, hat früh seine Unterstützung für die Menschen in Gaza angekündigt.

 

Vizeminister Hamad wertet die Wiederaufnahme des Personenverkehrs durch Rafah schon als ersten Schritt zur Besserung. Der nächste soll bald folgen: In einigen Wochen könnte Ägypten laut Hamad den Grenzübergang für die ersten kommerziellen Exporte aus Gaza öffnen. Doch solange die Grenze nicht auch für Importe offen ist, wird der Schmuggel durch die Tunnel wohl weitergehen.

 

Denn einer konsequenten Aufwertung der Beziehungen zwischen Gaza und Ägypten stehen auch die Profiteure des lukrativen Tunnelgeschäfts im Weg. »Die Tunnel dienen nur einer kleinen Schicht an Akteuren und privaten Interessen«, kritisiert Tayyeb Abdul Rahim, der Büroleiter von PA-Präsident Mahmud Abbas, dessen Behörde die Versiegelung einiger Tunnelausgänge durch Ägypten begrüßte.

 

Zwischen 500 und 700 Millionen Dollar an Gütern werden jedes Jahr durch die Gänge transportiert. Seit diesem Jahr verzollt die Hamas nach Informationen der unabhängigen Thinktank International Crisis Group (ICG) jegliches Schmuggelgut mit mindestens 14,5 Prozent. Daneben verdienen auch die Tunnelbetreiber gut am Status quo. Sie verlangen für die Durchreise einer Person 25 Dollar und für den Import eines ganzen Autos 500 Dollar, wie die israelische Zeitung Haaretz berichtet.

 

Allein vergangenes Jahr sollen laut einem ICG-Bericht rund 13.000 Autos durch die Tunnel gebracht worden sein, was immerhin 6,5 Millionen Dollar an Einnahmen ergibt. Auch der Privatwirtschaft Gazas, die nach Beginn der Grenzblockade 2007 völlig eingebrochen war, haben die Tunnel neuen Aufschwung verschafft. Billige Importe und Investitionen arabischer Länder befeuern die Bauwirtschaft, so dass zurzeit hunderte Wohntürme in die Höhe schießen.

 

Solvente Geldgeber aus den Golfstaaten wie die Islamische Entwicklungsbank mit Sitz im saudi-arabischen Jiddah investieren hunderte Millionen in Gaza – und nicht im Westjordanland, wo die PA seit Jahren in einem tiefen Budgetloch steckt. »Es stimmt schon, dass es viele Profiteure des Tunnelschmuggels gibt«, sagt Nathan Thrall, ICG-Experte für Israel und die Palästinensergebiete. »Aber die Hamas kann das lösen, indem sie Profiteure später in den formellen Handel einbindet.«

 

»Die Tunnel dienen nur einer kleinen Schicht von Akteuren und privaten Interessen«

 

Anders ausgedrückt: Wer die Tunnelökonomie beenden will, müsste den Betreibern der Gänge wohl durch eine Beschäftigung im formellen Handel ein gutes Einkommen gewähren oder ihnen andere finanzielle Anreize bieten. Thrall jedenfalls sieht auch für die Hamas durchaus eine Motivation zum Wandel: Durch reguläre Zolleinnahmen könne sie mehr verdienen als in der jetzigen Situation. Doch auch politische Interessen sprechen dagegen, die Tunnel einfach zu schließen.

 

Denn eine Vertiefung der Beziehungen zwischen Gaza und Ägypten könnte den Gazastreifen politisch und wirtschaftlich endgültig vom Westjordanland abkoppeln. Auch könnte Israel versuchen, sich aus der humanitären Verantwortung für den Gazastreifen zu stehlen, sollte der Grenzübergang Rafah zu einem Handelsknotenpunkt aufgewertet werden. Der israelische Übergang Kerem Shalom, der zurzeit in begrenztem Umfang für Importe offen ist, könnte dann ganz geschlossen werden. »Israel will Gaza nach Ägypten abschieben.

 

Aber wir sehen Gaza als Teil unseres palästinensischen Vaterlandes«, warnt deshalb Gaza-Vizeaußenminister Ghazi Hamad. Solche Befürchtungen treiben auch Ex-Energieminister Shawwa um. »Das ist eine ernste Angelegenheit. Wollen wir wirklich eine unabhängige Wirtschaft im Gazastreifen sehen?«, gibt er zu bedenken. »Das könnte uns in eine neue Ära der palästinensischen Teilung führen.«

 

Die Teilung allerdings ist auch jetzt schon weit fortgeschritten, und der Versöhnungsprozess zwischen Fatah und Hamas bleibt trotz aktiver Vermittlung durch Kairo ohne große Erfolge. Allerdings könnte Ägyptens Präsident Mursi die Formalisierung der Handelsbeziehungen mit Gaza von der Bildung einer Einheitsregierung aus beiden Streitparteien abhängig machen. »Die Beziehungen zwischen Ägypten, Israel und der Hamas sind komplex«, sagt Abdel Monem Said, Direktor des Al-Ahram-Zentrums für Politische und Strategische Studien in Kairo.

 

»Mursi weiß, dass er die Palästinenser im Gazastreifen nicht verhungern lassen kann.« Gleichzeitig müsse Ägypten aber auch mit Israel in Sicherheitsfragen zusammenarbeiten. Seit dem Anschlag Anfang August etwa ist die ägyptische Armee mit Panzern und Luftwaffe gegen militante Gruppierungen am Sinai vorgegangen – was gemäß dem Friedensabkommen von 1978 nur in Absprache mit Israel geschehen sein kann.

 

»Ich denke, es gibt eine realistische Chance, dass Rafah bald auch für den Handelsverkehr geöffnet wird«, sagt Ghazi Hamad von der Hamas-Regierung. Deren Dringen auf einen freien Handel müsse auf die Dauer keineswegs ungehört verhallen. »Aber vielleicht ist es einfach noch zu früh für Ägypten, darauf eine Antwort zu geben.«

Von: 
Andreas Hackl

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