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Schiiten in Indonesien

Minderheit im Fadenkreuz

Analyse

Droht auch in Indonesien eine Eskalation zwischen Sunniten und Schiiten? Ein Blick auf die Hintergründe des aktuellen Konfliktes zeigt, auf welch fatale Weise lokale, nationale und globale Dimensionen am Ausbruch der Gewalt beteiligt sind.

Am 26. August griff ein 200-köpfiger, mit Macheten und Säbeln bewaffneter Mob im Distrikt Sampang auf der indonesischen Insel Madura eine Gruppe von 20 schiitischen Religionsschülern und ihre erwachsenen Begleitpersonen an. Die Schüler wollten nach den Feiertagen zum Ende des Ramadan wieder in ihre im Osten der Insel Java gelegenen schiitischen Religionsschulen zurückkehren.

 

Der Gewaltrausch des entfesselten Mobs setzte sich im Heimatdorf der Schüler fort: dutzende Häuser von Schiiten wurden zerstört und in Brand gesetzt. Zwei Schiiten erlagen ihren schweren Verletzungen, rund 270 Dorfbewohner mussten evakuiert werden und sind vorläufig in einer Sporthalle untergebracht, ihre Häuser und ihr Besitz wurden den plündernden Angreifern überlassen.

 

Dieser jüngste Gewaltausbruch reiht sich ein in eine besorgniserregende Entwicklung von Aggressionen gegen religiöse Minderheiten in Indonesien: Nach den brutalen Übergriffen auf Angehörige der Ahmadiyah in den letzten Jahren spricht alles dafür, dass sich die Furcht der Schiiten, als nächste umstrittene Minderheit zur Zielscheibe von Diskriminierungen und Gewalt zu werden, bewahrheitet hat.

 

Bereits Ende letzten Jahres war die schiitische Gemeinde in Sampang Opfer von gewaltsamen Ausschreitungen geworden. Ihr religiöser Führer, Tajul Muluk, wurde im Juli dieses Jahres unter Berufung auf ein umstrittenes Blasphemie-Gesetz zu einer Haftstrafe von 2 Jahren verurteilt.

 

Doch was auf den ersten Blick lediglich ein weiteres trauriges Beispiel für den Zwist zwischen Sunniten und Schiiten zu sein scheint, erweist sich bei einem genaueren Blick als Ergebnis fataler Verkettungen von familiärer Bruderfehde, lokaler Machtpolitik, globalisiertem Identitätsdiskurs, religiösem Fanatismus und eklatantem Versagen des Staates, die Rechte und Unversehrtheit seiner Bürger zu wahren.

 

Tajul Muluk stand vor Gericht, weil ihn sein jüngerer Bruder Roisul Hukama wegen »Blasphemie« angezeigt hatte. Beide stammen aus einer alten, im dörflich geprägten Sampang sehr angesehenen Familie von sunnitischen Religionsgelehrten. Ihr Vater soll sich nach Angaben des indonesischen Nachrichtenmagazins Tempo jedoch nach der Revolution im Iran für die Schia begeistert haben und auch konvertiert sein, das aber weitgehend für sich behalten haben.

 

Als seine Söhne nach dem Besuch einer schiitisch geprägten Islamschule in Ostjava wieder in ihr Heimatdorf zurückgekehrt waren, begannen beide gegen Ende der 1990er Jahre, die schiitische Auslegung des Islam explizit zu lehren und zu verbreiten – in einem zuvor rein sunnitischen Gebiet. Kindern wurden großzügig Stipendien für ein Studium an schiitischen Religionsschulen in Ostjava vermittelt.

 

Doch Tajul Muluk war als charismatische Persönlichkeit deutlich erfolgreicher darin, Schüler und Anhänger um sich zu sammeln. Roisul wendete sich vor einigen Jahren wieder dem Sunnitentum zu und agierte zunehmend aggressiv gegen die von seinem Bruder betriebene Verbreitung des Schiismus in den umliegenden Dörfern.

 

Bruderrivalität und neidische Kleriker

 

Ostjava und Madura sind stark vom traditionalistischen sunnitischen Islam geprägt und stellen eine Hochburg der größten indonesischen islamischen Massenorganisation Nahdlatul Ulama (NU) dar. Deren Religionsgelehrte, »Kyai« genannt, spielen im religiösen und sozialen Leben gerade der ländlichen Gebiete eine herausragende Rolle, sie genießen höchstes Ansehen – einigen werden gar magische Kräfte zugesprochen.

 

Als traditionelle Autoritäten verfügen sie über großen Einfluss und loyale Anhängerschaften, mit denen sich lokale Politiker gut stellen sollten, wollen sie Erfolg haben.  Tajul Muluk hatte während seines Studiums auch einige Zeit in Saudi-Arabien verbracht, was ihm im provinziellen, verarmten maduresischen Hinterland großen Respekt sicherte, und er kümmerte sich bevorzugt auch um ärmere Dorfbewohner.

 

Im dörflichen Leben Ostjavas und Maduras ist es üblich, zu Feierlichkeiten angesehene Kyai für Predigten in private Haushalte einzuladen. Doch viele Dörfler müssen sich dafür inzwischen hoch verschulden, die lokalen Geistlichen haben durchaus eine Schwäche für materielle Statussymbole und verkaufen ihre Dienste zu immer höheren Preisen. Dieses etablierte religiöse Establishment forderte Tajul Muluk durch seine Popularität und sein unkonventionelles Auftreten heraus.  

 

Der lang schwelende brüderliche Konkurrenzkampf eskalierte angeblich endgültig, als Roisul eine Koranschülerin von Tajul als Zweitfrau heiraten wollte, dieser seine Schülerin jedoch mit einem seiner Anhänger vermählte. Tajuls Verbreitung der schiitischen Lehre erwies sich unter diesen Umständen sowohl für den brüderlichen Rivalen als auch für die um ihre Pfründe und ihr Ansehen fürchtenden lokalen NU-Kleriker als ein gefundenes Fressen. Gezielt wurden in der Bevölkerung Angst, Misstrauen und Hass gegenüber der schiitischen »Häresie« und ihren lokalen Vertretern gesät. 

 

Der Bezirksvorsteher von Sampang wiederum sah in dem Konflikt eine willkommene Gelegenheit, sein etwas angekratztes, islamisch-korrektes Image pünktlich für die nächstes Jahr anstehenden Wahlen etwas aufzupolieren: Er stellte sich auf die Seite der NU-Kleriker und unterstützte aktiv Auftritte von Predigern, die gegen die Schiiten hetzten und auch öffentlich zur Gewalt gegen sie aufriefen.  

 

Kritiker werfen Präsident Susilo Bambang Yudhoyono seine wieder einmal allzu zögerlichen Reaktionen vor. Obwohl lange bekannt war, in welcher Gefahr sich die Schiiten in Sampang befanden, habe er nichts veranlasst, um einen erneuten Gewaltausbruch zu verhindern. Erst nachdem Yudhoyono die Taten verurteilt und lückenlose Aufklärung gefordert hatte, wurden Roisul Hukama und weitere Drahtzieher der Gewalteskalation verhaftet.

 

Roisul drohen bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe. Es ist jedoch wie so oft in Indonesien davon auszugehen, dass die Gruppe um Roisul ihre gewaltsamen, augenscheinlich lange vorher geplanten Übergriffe nur mit Unterstützung und Rückendeckung durch mächtige Hintermänner aus Politik und Armee durchführen konnte – die dann auch das Gerichtsurteil entsprechend beeinflussen werden.    

 

Bewunderung für Ahmadinejad

 

Genaue Zahlen zu den Schiiten in Indonesien liegen nicht vor, realistische Schätzungen gehen von ungefähr zwei Millionen Anhängern aus, während sich die Mehrheit der über 200 Millionen indonesischen Muslime zum sunnitischen Islam bekennt. Lokale Traditionen legen allerdings Zeugnis ab von kulturellen schiitischen Einflüssen, die seit Jahrhunderten in den indonesischen Volksislam integriert wurden.

 

Nach der islamischen Revolution in Iran übten in den 1980er Jahren in das Indonesische übersetzte Werke von schiitischen Theologen wie Ali Shariati einen starken Einfluss auf islamische Studienzirkel an den großen Universitäten Indonesiens aus. Die Begeisterung der unter Suhartos eisernem Regime nach islamischen Alternativen suchenden Studenten für das schiitisch-revolutionäre Gedankengut führte jedoch nur bei einer Minderheit zu einer Konversion zur Schia.  

 

Die politische Liberalisierung und Demokratisierung nach dem Fall Suhartos 1998 wurde vor allem von den gebildeten, urbanen Schiiten dazu genutzt, sich in Abgrenzung vom sunnitischen Mainstream einen sichtbaren Platz im öffentlichen Leben Indonesiens zu sichern. Doch weisen die Schiiten Indonesiens vielerorts weiterhin weniger eine gemeinsame Identität, als vielmehr ganz unterschiedliche regionale Ausformungen ihrer Religiosität auf.

 

Historisch gewachsenen, sich in religiösen Ritualen und Traditionen oft nur wenig von ihren sunnitischen Nachbarn unterscheidenden Gemeinden stehen sich bewusst an aus Iran stammenden Dogmen, Rechtslehren und Praktiken orientierende »moderne« Schiiten gegenüber. Von diesen haben viele im Iran studiert – wie Saudi-Arabien versucht auch Iran mithilfe von Stipendien für Studenten seinen ideologischen Einfluss auszubauen.

 

Während weit verbreitete, wahhabitisch inspirierte anti-schiitische Hetzschriften und Hasspredigten zu einer weiteren Polarisierung der sunnitisch-schiitischen Beziehungen beitragen, ist andererseits nicht zu übersehen, mit welch großer Faszination viele indonesische Muslime in Richtung Iran blicken. Die Schia mag man ablehnen, aber Präsident Ahmadinejad ist in Indonesien durchaus populär.

 

Vielen gilt er als Ideal eines bodenständigen, volksverbundenen Politikers, der sich nicht durch Macht und Luxus habe korrumpieren lasse, sondern als gläubiger Muslim seinen Werten und Überzeugungen treu geblieben sei. Auch seine konfrontative Haltung gegenüber dem Westen wird von vielen bewundert: Hier lässt sich einer nicht auf faule Kompromisse mit dem Westen sein, sondern bleibt seiner Sache – der muslimischen Sache – treu.  

 

Schia: Nur anders, oder gefährlich in die Irre führend?

 

Abdurrahman Wahid, der 2009 verstorbene ehemalige NU-Vorsitzende und frühere Präsident Indonesiens, konnte noch in der für ihn typisch provozierenden Art erklären, die Schiiten seien letztlich nichts anderes als NU-Muslime plus die Vorstellung vom Imamat (die für die Schia charakteristische Lehre von den zwölf Imamen), der Islam der NU hingegen Schiismus minus Imamat.

 

Solch eine pragmatische Sicht, bei der die Gemeinsamkeiten betont und die Unterschiede akzeptiert, aber weitgehend unausgesprochen bleiben, ist heute für immer weniger Indonesier wirklich überzeugend. Zu verunsichert sind viele Menschen in ihren religiösen Orientierungen, ehemals fließende Identitäten stehen auch aufgrund von globalen Entwicklungen zunehmend unter Druck, sich auf eindeutige Zugehörigkeiten und Überzeugungen zu versteifen.

 

Das spielt religiösen Hardlinern und den diese für ihre Zecke instrumentalisierenden politischen Gruppierungen auf fatale Weise in die Hände. Der derzeitige NU-Vorsitzende Said Aqil Siradj, für seine oft liberalen Haltungen auch innerhalb der NU durchaus umstritten, betonte immerhin: »Die Schiiten sind keine abtrünnige, häretische Sekte, sie sind nur anders als wir.«

 

Ende vergangener Woche war dieses Anderssein einem Richter Grund genug, im Rahmen des Berufungsverfahrens, das eigentlich seiner Freisprechung dienen sollte, Tajul Muluks Haftstrafe unter Berufung auf das Anti-Blasphemie-Gesetz auf das doppelte, nämlich vier Jahre, zu erhöhen.

Von: 
Bettina David

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