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Revolutionsmüdigkeit in Ägypten

Was von der Revolution übrig bleibt

Feature

Dass sich weite Teile der Bevölkerung derart willig vor den Karren des Militärs spannen lassen, um die gesellschaftliche Eskalation voranzutreiben, sorgt im Westen für Kopfschütteln. Dabei sind viele Ägypter des Kämpfens einfach nur müde.

Die quadratischen Marmorplatten sind aufgeplatzt, die Bruchstücke auf dem Boden verteilt. Die massiven Metallpoller, die die Gehwege begrenzen, sind aus ihren Verankerungen gerissen. Auf dem Ramses-Platz in der Nähe des Kairoer Hauptbahnhofes war es am vergangenen Samstag zu blutigen Zusammenstößen gekommen. Nach dem, von den Muslimbrüdern ausgerufenen, »Freitag der Wut« diente die angrenzende Fath-Moschee als Leichenhalle und Feldlazarett. Mit Stöcken und Eisenstangen bewaffnet, versuchten Anwohner am Samstag, die Muslimbrüder, die sich inzwischen regelrecht verbarrikadiert hatten, aus der Moschee zu treiben.

 

»Das sind Terroristen!«, hallte der Schlachtruf der wütenden Menge, gefolgt von Schusswechseln am Nachmittag. Die Armee hielt sich, trotz massiver Präsenz rund um den Platz, lange Zeit zurück und wachte etwas unbeteiligt über die Gewalteskalation. Erst gegen Abend räumte die Armee gewaltsam die Moschee. Inzwischen versucht Kairo wieder zurück zur Normalität zu finden. Der Platz hat sein übliches Treiben wieder aufgenommen. Fliegende Händler verkaufen Kaktusfrüchte oder Zeitungen und an den unzähligen kleinen Ständen rund um den Platz kann man wieder Schuhe, Hemden und irgendwelches Plastikzeug kaufen.

 

Noch ist die Moschee geschlossen, aber die Aufräumarbeiten scheinen auf Hochtouren zu laufen. Auch rund um den Nahda-Platz vor der Kairoer Universität erinnert nichts mehr an das »islamistische Woodstock«, wie die New York Times das Protestlager der Muslimbrüder noch zwei Wochen zuvor beschrieb, und auch nichts mehr an die blutige Auflösung der Proteste am vergangenen Mittwoch. Der Platz ist rundum gesperrt, Panzer stehen an jeder Straßenmündung. dahinter herrscht eine bedrückende Stille. Seitdem Sicherheitskräfte in den frühen Morgenstunden des 14. August vor genau einer Woche mit der Räumung der beiden Protestlager auf dem Nahda- und dem Rabaa al-Adawiyya-Platz begonnen haben, sind nach Regierungsangaben bereits knapp 900 Menschen getötet worden.

 

Die Muslimbrüder verbreiten sogar noch weitaus höhere Zahlen. Ihren Angaben zufolge sind bereits über dreitausend ihrer Anhänger von den Sicherheitskräften getötet worden. Die polarisierte öffentliche Meinung lässt nur noch Platz für zwei Versionen der Ereignisse der vergangenen Wochen und der näheren Zukunft Ägyptens. Die einen sehen in dem Sturz des ehemaligen Präsidenten Mursi einen Militärputsch, die anderen eine Fortsetzung der Revolution.

 

Während die einen sich vor einer brutalen Verfolgung von Muslimbrüdern und Islamisten wie in den 1990er Jahren unter Mubarak fürchten, hatten die anderen Angst, ihren demokratisch gewählten aber autokratisch regierenden Präsidenten nicht mehr los zu werden. Es gibt nur noch ein Dafür oder Dagegen. Wer sich um Ausgewogenheit und Ausgleich bemüht, wird von beiden Seiten beschimpft.

 

Die Armee hat sich schlicht über die politische Entscheidung ihrer Regierung hinweggesetzt

 

Mohammed El Baradei, Friedensnobelpreisträger und Vizepräsident der Interimsregierung, war angesichts des brutalen Vorgehens der Sicherheitskräfte noch am selben Tag von seinem Amt zurückgetreten. Noch kurz vor der gewaltsamen Auflösung der Proteste hatte er eine friedliche Lösung angekündigt. Er habe einen anderen als den vom Militär eingeschlagenen Weg angestrebt und wolle nicht die Verantwortung für solch eine Entscheidung tragen, begründete er seinen Rücktritt. Man könnte auch sagen, hier hat sich eine Armee schlicht über die politische Entscheidung ihrer Regierung hinweggesetzt.

 

El Baradei, der im Westen sicher prominenteste und beliebteste Politiker Ägyptens, genießt in Ägypten selbst kein besonders hohes Ansehen. Im Gegenteil, seine Rücktrittsentscheidung wurde in den ägyptischen Medien stark kritisiert. Eine populäre Karikatur zeigt ihn, wie er Ägypten, verkörpert durch eine verschleierte Braut, hinterrücks erdolcht. Inzwischen ist sogar Anklage gegen den Friedensnobelpreisträger erhoben worden – wegen Vertrauensbruchs. Zudem wirft die Anklage ihm vor, ein schlechtes Licht auf Ägypten und das Vorgehen des Militärs gelenkt zu haben.

 

Sein Rücktritt erzeuge das Bild, so die Anklage, als habe die Armee mit unverhältnismäßiger Gewalt auf die terroristische Bedrohung durch die Muslimbrüder reagiert. El Baradei, der es wohl nicht auf ein Urteil hat ankommen lassen wollen, befindet sich mit seiner Familie bereits in Wien, wo er bereits in seiner Amtszeit als Generaldirektor der Internationalen Atomenergieagentur gelebt hatte. Seit der Zerschlagung der Protestlager geht die derzeitige Militärregierung, de facto geleitet von General Abdel Fatah al-Sisi, schonungslos gegen Kritiker vor.

 

Führende Muslimbrüder wie der Vizechef der Organisation Khairat El Shater, der ehemalige »Oberste Führer« Mahdi Akef und Saad El-Katatni, Vorsitzender der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, dem politischen Arm der Muslimbrüder, sitzen bereits in Haft. Seit dem gestrigen Dienstag ist auch der derzeitige »Oberste Führer« der Muslimbrüder, Mohammed Badie in Gewahrsam. Der 70-Jährige war erst im Januar 2010 zum neuen spirituellen und politischen Führer der Bruderschaft gewählt worden und galt Kritikern der Muslimbrüder als eigentlicher Strippenzieher hinter der vermeintlichen Polit-Marionette Muhammad Mursi.

 

»Nieder mit der Herrschaft des Obersten Führers«, lautete dementsprechend ein beliebter Slogan unter Gegnern des abgesetzten Präsidenten. Nach Mursis Sturz ging Badie verbal in die Offensive und erklärte: »Was General Sisi getan hat, ist schlimmer als die Kaaba in Mekka Stein für Stein mit einer Axt zu zerschlagen!« Die Anklage gegen Badie lautet auf Aufruf zu Gewalt, Folter und Freiheitsberaubung sowie Kollaboration mit fremden Mächten – gemeint ist Katar, das die Muslimbrüder finanziell unterstützt.

 

Außerdem wird Badie und seinen fünf Mitangeklagten vorgeworfen, eine terroristische Vereinigung gegründet zu haben und für Angriffe auf Kirchen und Polizeistationen verantwortlich zu sein. Der Prozessauftakt im Zusammenhang mit seiner mutmaßlich zentralen Rolle beim Tod von acht Demonstranten vor dem Hauptquartier der Muslimbrüder im Juni ist bereits in wenigen Tagen, am 25. August, angesetzt.

 

Kaum Reaktionen auf die bevorstehende Freilassung Mubaraks

 

Während die USA angesichts der Verhaftungswelle die Freiheit der Justiz gefährdet sehen, sind viele Ägypter froh über das entschlossene Vorgehen der Militärregierung. Die Bewegung »Tamarrod«, die mit ihrer Unterschriftenliste maßgeblich zu Mursis Sturz beigetragen hatte, bezeichnete die Verhaftung Badies als »einen wichtigen Schritt auf dem Weg der Revolution im Kampf gegen den Terrorismus«. Ein Sprecher der Organisation ließ verlautbaren: »Wir haben nichts gegen Demonstranten – aber wir sind gegen Terroristen«, und fügte hinzu: »Wir befinden uns im Krieg gegen den Terrorismus!« Die pauschale Bezeichnung der Muslimbrüder als Terroristen erfreut sich derzeit großer Beliebtheit in Ägypten.

 

Seit Tagen blenden ägyptische Fernsehsender in allen ihren Sendungen den Slogan »Egypt Fighting Terrorism« ein. Premierminister Hazem al-Beblawi schlug sogar vor, die erst 2011 offiziell wieder zugelassene Muslimbruderschaft wegen Terrorismus wieder ganz zu verbieten. In wie weit der politische Arm der Organisation, die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, ein solches Verbot überstehen würde, ist bislang noch unklar. Es scheint, als hätte die Armee den Großteil der Bevölkerung erfolgreich auf das Feindbild Muslimbrüder eingeschworen.

 

Auch Liberale, die 2011 den Sturz Mubaraks erkämpft und anschließend gegen die Macht des Militärs demonstriert haben, stehen inzwischen voll hinter der Armee. Selbst einer der führenden linken Politiker, Hamdeen Sabbahi, erklärte, der Kampf gegen den Terrorismus müsse weiter gehen und »werde schließlich siegen«. Tatsächlich sieht es momentan so aus, als würde die Macht der Muslimbrüder an der Gewalt des Militärs zerbrechen. Inzwischen ist das Mobilisierungspotential der Bruderschaft stark zurückgegangen und die erste Riege der Organisation sitzt im Gefängnis.

 

In den südlichen Vororten von Kairo liegt der riesige Komplex des Tora-Gefängnisses. Eine hohe Mauer mit Wachtürmen umfasst das Gelände, das die Größe eines Stadtviertels hat. Alle paar hundert Meter stehen Panzer. Zur einen Seite grenzt die Haftanstalt an den Nil, zur anderen Seite an die Wüste. In Tora sitzen derzeit aber nicht nur die Granden der Bruderschaft ein, sondern auch der ehemalige Präsident und Langzeitdiktator Husni Mubarak. Allerdings wird diese Überschneidung wohl nur wenige Tage dauern.

 

Denn anders als Mursi, dessen Haft an einem unbekannten Ort um weitere fünfzehn Tage verlängert wurde, wird Mubarak nach übereinstimmender Auskunft seines Anwalts und verschiedener Regierungsquellen bereits in wenigen Tagen aus der Haft entlassen. Die maximale Dauer der Untersuchungshaft sei inzwischen ausgeschöpft und der Vorwurf der Korruption werde fallengelassen, so Anwalt Farid al-Dib. Die bevorstehende Freilassung Mubaraks löste, anders als zu erwarten, in Ägypten kaum ein Medienecho aus. Berichte über einen Terroranschlag auf dem Sinai, bei dem 25 junge Soldaten getötet wurden, dominierten stattdessen die Nachrichtenlage.

 

Das Konzept der Konditionalität von Hilfszahlungen fällt auseinander

 

Und wieder scheint es, als habe das Militär es geschafft, die Bevölkerung derart auf den Kampf gegen den Terror einzuschwören, dass die Menschen ihre zentralen Forderungen, Hoffnungen und Ideale vergessen. Kaum jemand scheint sich noch an der Polizeigewalt, an der Brutalität des Militärs, an der Wiedereinführung der Notstandsverordnungen und an dem Verrat an der Revolution zu stören. Vielleicht will Ägypten einfach nur vergessen. Vielleicht will Ägypten einfach nur zurück zur Normalität. Vielleicht sind die Ägypter müde vom vielen Kämpfen.

 

Selbst der Tahrir-Platz, sonst das vibrierende Zentrum Kairos und das pulsierende Herz des zivilen Ungehorsams, hat eine Auszeit vom Protest genommen. Die U-Bahn hält zwar noch immer nicht an diesem zentralen Verkehrsknotenpunkt, aber die Straßenblockaden wurden bereits teilweise aufgehoben. Inzwischen scheinen sich die Ägypter auch mit der allnächtlichen Ausgangssperre zu arrangieren. Innerhalb der einzelnen Viertel sind die Cafés auch bis weit nach Mitternacht gut gefüllt.

 

Auf den Hauptstraßen stehen Panzer, aber die Soldaten scheren sich nicht darum, dass nicht nur Fußgänger, sondern auch vereinzelt Autos und Motorräder unterwegs sind. Auch die bewaffneten Bürgerwehren, die das nächtliche Stadtbild für einige Tage dominiert haben, sind verschwunden, nachdem die Armee diese offiziell verboten hat. Mit Macheten bewaffnete Jugendliche hatten nachts Barrikaden errichtet, ihre nicht selten vermummten Gesichter bedrohlich von brennenden Autoreifen erleuchtet. Diese, bereits aus Revolutionstagen bekannten Bürgerwehren hatten versucht, die Sicherheit in ihrer Nachbarschaft auch nachts aufrechtzuerhalten, waren allerdings, so die Regierung, zunehmend selbst in kriminelle Handlungen involviert.

 

Heute beraten Bundesaußenminister Guido Westerwelle und seine EU-Kollegen in Brüssel, wie man auf die Eskalation der Gewalt in Ägypten reagieren könnte. Die EU wird sich über einen Stopp der Hilfsgelder Gedanken machen. Konkrete Ergebnisse sind allerdings kaum zu erwarten. Deutschland hat bereits angekündigt, seine Waffenlieferungen an den Nil zu überprüfen. Auch die USA erwägen einen Stopp ihrer Finanz- und Militärunterstützung für Ägypten. Die USA überweisen jährlich 1,5 Milliarden, die EU 1,3 Milliarden US-Dollar an Ägypten.

 

Bisher hatten die USA es vermieden, den Sturz von Präsident Mursi als Putsch zu bezeichnen, da diese Einordnung ein sofortiges Ende der Militärhilfe bedeuten würde. Und die USA brauchen den Kontakt zur ägyptischen Armee. Kein Land in der Region vergibt so schnell Überflugrechte wie Ägypten und auch die Passage durch den Suezkanal steht der amerikanischen Flotte jederzeit offen. Das ist essentiell für die Durchführung von Manövern am Horn von Afrika und für Einsätze in Afghanistan und dem Irak.

 

Nun führt aber ausgerechnet der engste Verbündete den USA schmerzhaft vor Augen, wie wenig sich die Gefolgschaft in der Region noch erkaufen lässt. Der saudische Außenminister Prinz Saud al-Faisal versprach Ägypten, jeden Verlust an finanzieller Unterstützung auszugleichen. Damit fällt das gesamte Konzept der Konditionalität von Hilfszahlungen auseinander. Gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Kuwait hat Saudi-Arabien zudem bereits ein Hilfspaket für die Militärregierung mit insgesamt 12 Milliarden US-Dollar auf den Weg gebracht.

 

Das ist mehr als viermal so viel wie die jährliche Hilfe der USA und der EU zusammen. US-Verteidigungsminister Chuck Hagel kommt daher zu dem ernüchternden Schluss: »Unsere Möglichkeiten, auf die Ereignisse in Ägypten Einfluss zu nehmen, sind begrenzt.« Vielleicht ist das bald das einzige, was von der Revolution übrig bleibt.

Von: 
Benjamin Moscovici

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