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Revolutionäre und die Wahlen in Ägypten

Boykott statt blauer Tinte

Feature

Während ein Großteil der Ägypter hoffnungsvoll auf die Präsidentschaftswahlen blickt, sind viele Revolutionäre ernüchtert und boykottieren die Wahl. Ihre Kandidaten spielen an den Urnen kaum eine Rolle.

Es ist ein Tag, an dem so viele  Ägypter sich freuen, einmal den Ausweis zücken zu müssen, ein Kreuzchen zu machen und den Finger in die Phosphortinte zu drücken. Engy nicht. Engy ist 1,67 Meter groß, trägt Kopftuch und ist Revoluzzerin der ersten Stunde. Über ihrem Bett hängt die ägyptische Flagge: Rot, weiß, schwarz, in der Mitte brüstet sich der goldene Adler Saladins.

 

Die Slogans der vergangenen Monate sind als Aufkleber über die ganze Wand ihres Zimmers verstreut. »Nein zu Militärgerichten«, »Militärrat tritt  ab« steht da. Engy hat noch nie ihr eigenes Staatsoberhaupt gewählt und auch heute wählt sie nicht. »Ich boykottiere«, sagt Engy. Engy glaubt, dass sie mit der Abgabe ihrer Stimme die Präsidentschaftswahlen als rechtmäßig anerkenne, dem Militärrat ihr Vertrauen aussprechen würde. »Glaubst du wirklich, Tantawi setzt sich vor die Glotze und wartet ab wer der nächste Präsident wird?« fragt sie. »Das ist doch alles schon ausgemacht.«

 

Aufgabe des neuen Präsidenten unklar

 

Von demokratischen Wahlen hatte sie ein anderes Bild im Kopf. Bereits im Vorfeld hat die Wahlkommission, bestehend aus alten Mubarak-Getreuen, die Stars der Muslimbrüder und der Salafisten ausgeschaltet, während die Kumpanen des alten Präsidenten antreten. Soldaten und Beamte, die eigentlich nicht wählen dürften, wurden kurzerhand auf Wahllisten katapultiert - sie wissen wen sie anzukreuzen haben. Und auch die Kandidaten scheinen sich an alte Zeiten zu erinnern: Bereits am gestrigen ersten Wahltag kam es nach Berichten mehrerer Nachrichtenagenturen zu Manipulationen.

 

Der Kandidat der Muslimbrüder Muhammed Mursi hat angeblich per Bus Wähler zur Stimmabgabe kutschieren lassen, Ahmed Schafik, Mubaraks alter Premier, für manche Wählerstimme ein paar Ägyptische Pfund ausgegeben. Und Engy kritisiert weiter: Es gibt noch keine Jobbeschreibung für den neuen Präsidenten - das Schreiben der Verfassung ist ins Stocken geraten. Wie viel Macht er, das Parlament und der Militärrat hat, ist noch nicht ausgeklügelt. Hinzu kommt, dass sich keiner der Kandidaten zum zentralen Punkt geäußert hat: Wie viel Macht behält das Militär, regiert es hinter den Kulissen weiter oder wird es für seine Untaten zur Verantwortung gezogen?

 

Beliebt bei den Wählern: Mubarak-Getreuer Schafik

 

Und während sich bei Engy Frustration breit macht und sie verbissen versucht, aus  Erinnerungen an die Geschehnisse vor mehr als einem Jahr Hoffnung zu schöpfen, reihen sich Tausende von Ägyptern in die Warteschlangen vor den Wahlbüros ein. Meist vor Schulen oder Regierungsgebäuden - Frauen links, Männer rechts und die Alten, ab 60 Jahren, dürfen mittendurch. Vor dem Eingangstor stehen Polizisten und Soldaten, das Gewehr über die Schulter geworfen. »Es ist ein großer Tag für Ägypten«, sagt Ibrahim. 

 

Seit gut 20 Minuten knallt die Sonne ihm auf den Kopf, dahin wo früher mal Haare waren. Er geht nicht durch die Mitte zum Eingang des Wahllokals in Dokki, einem Stadtteil von Kairo. Trotz seines Alters nutzt Ibrahim die Zeit in der Schlange, um mit anderen Herren zu diskutieren. Er genießt den Moment, zum ersten Mal das eigene Staatsoberhaupt zu wählen. Sein Kandidat: Ahmed Schafik, letzter Premierminister unter Mubarak, den Mann, den der ehemalige Präsident einst seinen dritten Sohn nannte. »Er hat Erfahrung«, sagt Ibrahim, »ohne Erfahrung kann man ein Land wie Ägypten nicht regieren.«

 

»Entschuldigung, eure Kinder sind umsonst gestorben«

 

Es ist das Grauen für Engy: ein »neuer Mubarak« zurück an der Spitze. »Für was sind wir auf die Straße gegangen, wenn alles weitergeht wie bisher?« Traurig und wütend ist sie, wenn sie von Wählern wie Ibrahim hört. »Was sollen wir den Familien der Märtyrer sagen, wenn so jemand neuer Präsident wird: Entschuldigung, eure Kinder sind für nichts gestorben?« Die Vorstellung erfüllt sie mit Scham.

 

Doch auch in den Reihen der Revolutionäre ist man sich nicht einig. Viele boykottieren, andere wollen den früheren Generalsekretär der Arabischen Liga Amr Moussa oder den Ex-Muslimbruder Aboul Fottouh wählen. Die liberalen Kandidaten Hamdien Sabbahi oder Khaled Ali, den einzigen Revolutionär unter den Kandidaten, gelten als chancenlos.

 

Wer in die Stichwahl kommt, wird am Montag bekannt

 

Geeint sind die Aktivisten in einem Punkt: Ahmed Schafik darf es nicht werden. Nachdem der Präsidentschaftskandidat seine Stimme abgegeben hatte, wurde er außerhalb des Wahllokals mit Schuhen beworfen. Das Bild machte auf Facebook und Twitter schnell die Runde. »Kann so ein Präsident aussehen?«, amüsierten sich Schafik-Gegner. Wer der ägyptischen Präsident einen Schritt näher gekommen ist, wird frühestens am Samstag bekannt. Die beiden Kandidaten mit den besten Wahlergebnissen dieser ersten Runde, treten anschließend in einer Stichwahl am 16. und 17. Juni gegeneinander an.

 

Auf Meinungsumfragen ist indessen wenig verlass. Jeder der 13 Kandidaten hat Befragungen veröffentlicht, denen zufolge er die meisten Stimmen auf sich vereinen kann. Und bei jeder neuen Umfrage kommen andere Ergebnisse zum Vorschein. Gleich, wer in die zweite Runde kommt – Engy wird aus Protest gegen den Militärrat auch diesmal fern bleiben. »Erst wenn wir faire Spielregeln haben«, so sagt sie, »tunke ich meinen Finger auch mal in den Farbkasten.«

Von: 
Viktoria Kleber

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