Lesezeit: 9 Minuten
Proteste in Mauretanien

Land am Rand

Feature
von Anita Hunt

Es scheint, als hätten sich alle Aufrührer Mauretaniens verschworen – es brodelt an allen Fronten gleichzeitig. Doch Proteste sind nicht Neues in einem Land, in dem über Jahrzehnte Putsche Resultat aller Krisen war.

Mohamed Ould Abdel Aziz hatte sich verkalkuliert. Nach seinem Staatsstreich im August 2008 konnte der Oberst und frühere Kommandant der Präsidentengarde nicht zum politischen Tagesgeschäft übergehen, sondern sah sich mit einer Welle von Protesten konfrontiert. Obwohl er sich in Folge Zivilkleidung überstreifte und in den Präsidentschaftswahlen 2009 einen Sieg davontrug, brachen die Demonstrationen seiner Gegner nicht ab. Seitdem ist die Aziz-Administration daran gescheitert, einen landesweiten Zensus durchzuführen, konnte keinen Dialog mit der Opposition aufrecht erhalten und verschob Parlament- wie Regionalwahlen auf unbestimmte Zeit. Die Regierung droht sämtliche Legitimation einzubüßen und insbesondere die, die stets betonten, die Junta gebe nur ein demokratisches Lippenbekenntnis ab, um sich regionale und internationale Anerkennung – und Gelder – zu sichern, fühlen sich bestätigt.

 

Die Proteste, die vergangenes Jahr ihren Anfang nahmen, finden in den ersten Monaten 2012 nahezu täglich in der Hauptstadt Nouakchott und anderswo statt. Während alldem modifiziert die Regierung stetig weiter die Landesverfassung, ging Verträge mit ausländischen Investoren, Geldgebern und Handelspartnern ein.

 

Geographisch gesehen, ist Mauretanien eine europäische Erfindung. Der unnatürlich winkelförmige Grenzverlauf im Nordosten des Landes wurde von den damaligen Kolonialmächten in London und Paris festgesetzt. Heute sind die Beziehungen nach Großbritannien äußerst dünn, obwohl mit William Hague im vergangenen Oktober erstmals ein britischer Außenminister das Land besuchte. Mit Frankreich hingegen blieben die Bande bestehen und viele erwarten mit Spannung, wie das Ergebnis der französischen Präsidentschaftswahlen Auswirkungen auf  Mauretanien haben wird.

 

Die afrikanischen Nachbarn blicken sorgenvoll auf die brüchige politische Lage in Mauretanien

 

Die afrikanischen Nachbarn auf der anderen Seite dieser künstlichen Grenzen blicken ebenfalls sorgenvoll auf die brüchige politische Lage in Mauretanien. Die Westsahara verlor 1979 ihre Südprovinz an Marokko, nachdem Mauretanien – militärisch der POLISARIO-Rebellenarmee unterlegen, die für einen unabhängigen Staat Westsahara kämpft – die Besatzung der Region  aufgegeben hatte. In Mali scheint Nouakchott sogar so weit zu gehen, die Souveränität seines Nachbarstaates vollends zu verneinen: Die engen Bande zwischen Mauretanien und der Tuareg-Rebellengruppe MNLA, die eine treibende Kraft hinter den jüngsten Sezessionsbewegungen im Norden Malis darstellt, wie auch wiederholte mauretanische Militäroperationen gegen »al-Qaida im Islamischen Maghreb« (AQIM) auf malischem Gebiet unter Inkaufnahme ziviler Opfer, sprechen eine deutliche Sprache.

 

Während eines kurzen Konfliktes mit Senegal im Jahr 1989 wurden zwar auf beiden Seiten Tausende vertrieben, inzwischen haben sich die Beziehungen teilweise normalisiert. Gemeinsam mit der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen (UNHCR) versuchten mauretanische Behörden den Transfer vieler ihrer Bürger zurück in ihre Heimat zu organisieren – ein Prozess, der offiziell im April abgeschlossen wurde. Dass jedoch noch lange keine Freundschaft herrscht, zeigten die Razzien gegen senegalesische Arbeiter in Nouadhibou, der zweitgrößten Stadt Mauretaniens, im gleichen Monat. Tatsächlich ist Mauretanien in diesen Wochen gezwungen, zehntausende malische Bürger aufzunehmen, die sich vor den Kämpfen im Norden retten mussten. Nahezu zynisch, bedenkt man die mauretanische Rolle in diesem Konflikt.

 

Als Mitglied der Arabischen Liga genoss Mauretanien stets gute Beziehungen zu den Golfstaaten, obwohl sie bei einigen von ihnen, so Saudi-Arabien und Kuwait, wohl enger sind als bei anderen. Einst einer der größten Profiteure von Muammar al-Gaddafis panafrikanischem Patronagenetz, war Mauretanien eine unerwartete Wahl als Vorsitzender des Libyen-Sonderkomitees der Afrikanischen Union im vergangenen Jahr. Mauretanien gehörte zu den letzten Staaten, die den Nationalen Übergangsrat anerkannten, Vertreter beider Seiten wurden den gesamten blutigen Konflikt hindurch in Nouakchott willkommen geheißen. Seit März ist zudem der frühere libysche Geheimdienstchef  Abdullah al-Senussi im Land festgesetzt, während Frankreich verkündete, bei der Verhaftung eine nicht unwesentliche Rolle gespielt zu haben. Mauretanien erkennt den Internationalen Strafgerichtshof ICC, der Senoussi mit Haftbefehl sucht, nicht an – über kurz oder lang werde man ihn aber an Libyen ausliefern, so die in den lokalen Medien vorherrschende Ansicht.

 

Konzessionen ohne Mehrwert und ein überhöhtes Militärbudget

 

Als eine der vier einzigen Islamischen Republiken mag man es für gegeben halten, dass ein ausgezeichnetes Verhältnis zu Iran, Afghanistan und Pakistan bestünde. Dem ist nicht zwingend so. Der frühere Al-Qaida-Stratege Mahfouz Ould al-Walid wurde von Iran im April 2011 an sein Heimatland Mauretanien ausgeliefert, wo bereits eine Witwe Osama bin Ladens und deren Kinder Zuflucht gefunden haben. Mit Blick darauf, dass der neu gegründete Azawad-Staat in Nordmali bereits von AQIM-Kräften unterwandert wird, ist die Präsenz dieser »Al-Qaida-Royals« in den Augen anderer Staaten beunruhigend.

 

Da hilft es auch nicht, dass Mauretanien mit harter Hand gegen Terroristen vorgeht und die  dominierende Islamströmung frei von Dschihadismus ist. Tatsächlich hat sich die Regierung inzwischen eine lukrative Stellung im globalen Kampf gegen den Terror eingerichtet, mit umfangreicher Militär- und Entwicklungshilfe westlicher Nationen, insbesondere Frankreich und die USA. Beide kämpfen jedoch mit Fiskalkrisen und haben teils bereits angekündigt, Zahlungen zurückzufahren.

 

In der Sahelzone ist die Wirtschaftslage ebenso klamm. Trotz großer Fläche leben die meisten der 3,2 Millionen Mauretanier in den Städten an der Westküste, insbesondere Nouakchott und  Nouadhibou. Vor dieser Küste liegen zwar reiche Fischgründe, doch nicht viel des Wohlstandes erreicht das Festland. Noch im Bauch der Fangflotte verarbeitet, ist der meiste Fisch für den Export vorgesehen. Ein Vertrag mit der Europäischen Union läuft im Juli 2012 aus, schon jetzt wurden alle Boote abgezogen, da die nach EU-Recht vorgeschriebenen Fangquoten erfüllt wurden. Der zwischenzeitlich vereinbarte Vertrag mit chinesischen Unternehmern sorgte für einen öffentlichen Aufschrei in Mauretanien.

 

Die zahlreich vorhandenen Rohstoffe der Wüste nicht angemessen genutzt zu haben, lautet ein zweiter Vorwurf vieler Oppositioneller. Konzessionen, die an internationale Konzerne, wie den kanadischen Kinross-Konzern, vergeben wurden, brachten dem Staat keinen angemessenen Mehrwert. Gleichermaßen schwillt auch die Kritik an der militärischen Dominanz in der Regierung und am überhöhten Militärbudget an. Als Zeichen des guten Willens kündigte Präsident Aziz nach dem 12 Milliarden US-Dollar teuren Kauf von brasilianischen Super Tucano-Kampfjets an, auch den Außenhandel mit Brasilien ausbauen zu wollen.

 

Neben sozialen Konflikten kocht auch der latente Rassismus hoch

 

Doch nach Jahrzehnten der Desertifikation und einer zunehmenden Dürrehäufigkeit sehen sich viele Menschen gezwungen, ihren Lebensstil als Selbstversorger aufzugeben und in die Städte abzuwandern. Doch selbst für Facharbeiter und Universitätsabsolventen sind die Chancen gering – für halbnomadische Hirten und Bauern ist die Lage ungleich desaströser. Auch sind die meisten Städte nicht für diesen Bevölkerungszuwachs ausgelegt, es mangelt an Infrastruktur in allen Bereichen. In diesem Umfeld kochen neben sozialen Konflikten auch Rassismus hoch – unvermeidbar in einem Land, das hell- wie dunkelhäutige Mohren, wie Afrikaner mit Wurzeln südlich der Sahara ihr Zuhause nennen.

 

Als vor rund einem Jahr die biometrische Erfassung aller Bürger gemeinsam mit einer Volkszählung gestartet wurde, waren die Vorwürfe rassistischer Stigmatisierung dunkelhäutiger Bürger nur schwer aus der Welt zu schaffen. In diesem Jahr ist es eine Sklaverei-Kontroverse, die das Land in Atem hält. Nachdem ein saudischer Kleriker seiner Zuhörerschaft empfohlen hatte, zur Sühne doch mauretanische Sklaven freizukaufen, entgegnete der mauretanische Scheich Muhamad Ould Dedew, der als religiöser Führer der islamistischen Tewassoul-Partei gilt, es gebe keine Sklaverei in seinem Land. Dies rief wiederum Biram Ould Abeid, Präsident der Anti-Sklaverei-Organisation IRA auf den Plan, der in Anschluss an seine Freitagspredigt am 27. April mehrere Werke islamischer Gelehrter, die seiner Ansicht nach Sklaverei duldeten, verbrannte.

 

Als am kommenden Tag wütende Demonstranten zum Präsidentenpalast zogen, sah sich Aziz gezwungen, in traditioneller Kleidung und nicht in seinem üblichen Maßanzug vor die Menge zu treten und zu versprechen, den Islam zu verteidigen. Noch am gleichen Abend wurden Biram Ould Abeid und vier seiner Gefolgsleute verhaftet. Die Proteste gingen weiter, manche forderten eine Entschuldigung Abeids, andere seine Exekution. Die Geschichte ist für Aziz ein gefundenes Fressen. Sie verschafft ihm Zeit und er kann sich durch die eine Gemeinsamkeit profilieren, die alle Mauretanier gemeinsam haben: Den Islam.


Anita Hunt ist Journalistin und Online-Aktivistin mit Schwerpunkt auf dem Nahen Osten und Nordafrika. Sie betreibt den Blog http://lissnup.wordpress.com, der als einige von wenigen Seiten regelmäßig und detailliert über die innenpolitische Lage in Mauretanien berichtet.
Von: 
Anita Hunt

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