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Parlamentswahlen in Kuwait

Im Papageienkäfig

Analyse

Kuwaits Urnengang war ein bemerkenswerter Präzedenzfall – weil sein Ergebnis viel weniger Gewicht besaß als noch in den Jahren davor. Für den Golfstaat ist es eine neue Ära zivilgesellschaftlichen Aktivismus.

Das vergangene Jahrzehnt war für viele Kuwaitis geprägt von Unzufriedenheit, einer kränkelnden Wirtschaft und gemeinschaftlicher Apathie. Es gibt keinen Zweifel, dass insbesondere die jüngste Vergangenheit ein Wendepunkt in der kuwaitischen Politik bedeutete. Während der seit 2006 andauernde Zyklus aus Einsetzung und Auflösung des Parlaments zum Sinnbild des »demokratischen Chaos« Kuwaits geworden ist, stellt das Wahlergebnis vom 1. Dezember eine totale Abkehr von diesem Status Quo dar.

 

Zwar bestanden schon immer große Wechselwirkungen zwischen zivilgesellschaftlichem Aktivismus und der regulären Politik, das Anhalten der Proteste konnte den beschriebenen Kreislauf jedoch durchbrechen. Der Wahlboykott durch Opposition, zivile Organisationen und weite Teile der Bevölkerung ist die große Besonderheit dieser Abstimmung.

 

Dabei werden diverse Gründe für den Boykott angeführt, etwa ein Vergleich mit der Wahlverweigerung von 1989, oder auch die Ablehnung des neuen Wahlgesetzes und die generelle Ablehnung der politischen Dominanz der Al-Sabah-Familie und ihrer Verbündeten. Einige Stimmen betonen, der Preis des Fernbleibens sei sehr hoch: Die Opposition verlor so die Fähigkeit, den Premierminister vor Untersuchungsausschüsse zu zitieren, und so zahlreiche Korruptionsermittlungen weiter voranzutreiben und den Dow Chemical-Skandal weiter zu untersuchen.

 

Andere Stimmen erklären den Boykott als grundsätzliche Machtverschiebung innerhalb der Gesellschaft. Ein Aktivist stellte die These auf, dass viele Kuwaitis im Dezember 2010 realisiert hätten, dass die Regierung keine Reformen unternehmen wird, also liege die Verantwortung nun in den Händen des Volkes. Das spiegelt sich auch in den 2011 und 2012 populären Ausruf »Wir möchten nicht, dass das Parlament zu einem Supermarkt wird« wieder.

 

So lag die offizielle Wahlbeteiligung nun bei 39 Prozent, 21 Prozent weniger als noch bei den letzten Wahlen am 1. Februar 2012. Sowohl Regierung, wie auch Opposition bezeichneten sich als Wahlsieger. Die Regierung sah das Parlament durch das Wahlergebnis legitimiert und wieder handlungsfähig, während Oppositionelle ihre Kritik an der Regierung durch die niedrige Beteiligung bestätigt sahen.

 

Regierungsgegner bezeichneten die Zahlen als gefälscht, es kursierten Gerüchte, dass in Vororten der Hauptstadt, wie etwa Rumaithya, in denen die Regierung zahlreiche Anhänger hat, den Wählern zwei Wahlscheine ausgehändigt wurden. Von Oppositionsgruppen erfasste, inoffizielle Zahlen legen eine noch niedrigere Wahlbeteiligung um 25 Prozent nahe. Gegenwärtig bleiben nur Vermutungen über die wahre Beteiligung, jedoch zeichnet sich ab, dass die Legitimation der Regierung in Zukunft weiterhin hinterfragt wird.

 

Eine Stimme, keine Vertretung

 

Die wichtigste Neuerung des kurz vor dem Urnengang verabschiedeten Wahlrechts war die Abkehr von den altbekannten Wahllisten. Von nun an galt der Grundsatz, »eine Person, eine Stimme«. Dies hat weitreichende Auswirkungen auf das etablierte und ausgefeilte System des Stimmenkaufs in Kuwait. Die stammesinternen Vorwahlen könnten so an Bedeutung verlieren und es so der Regierung erleichtern, Kandidaten, die ihre Linie mittragen, zu unterstützen und zu finanzieren.

 

Die Reform hat auch Auswirkungen auf die Frage, wie repräsentativ die Abstimmung ist. Kein Kandidat bei dieser Wahl konnte mehr als 6.000 Stimmen für sich beanspruchen. Im Februar war etwa der Spitzenplatz im vierten Bezirk noch mit 30.118 Stimmen gewonnen worden. Im Dezember reichten dort 2.517 Stimmen, um den Posten zu erhalten. Im fünften Bezirk waren es gar nur 520 abgegebene Stimmen. Diese Fragmentierung war Ziel der Reform, beklagen Oppositionskräfte.

 

Erst wenn der Zuschnitt der Wahlbezirke und die Reglements der Wahlzulassung geändert werden, kann das Ergebnis repräsentativer ausfallen. Das größte Diskussionsthema in den Tagen nach der Wahl war der Erfolg schiitischer Kandidaten, die nun die Mehrheit stellen – von vier Plätzen im Februar hoch auf 17. Jedoch sind die kuwaitischen Schiiten nicht wie oft dargestellt, eine homogene Gruppe. Stattdessen vertreten sie unterschiedliche religiöse oder ideologische Strömungen und unterstützten verschiedene städtische oder ländliche geprägte Positionen.

 

Acht von ihnen sind als Unabhängige angetreten und ohne Verbindungen zu den großen schiitischen Gruppierungen »Nationale Islamische Allianz«, »Gerechtigkeits- und Friedensallianz«, sowie »Tajammu al-Risalah al-Insaniya«. Mit Blick auf den Boykott ist jedoch festzuhalten, dass sie der Regierung relativ aufgeschlossen gegenüberstehen – was das Verhältnis zwischen Herrscherhaus, insbesondere dem Premierminister und dem Parlament weitgehend entspannt.

 

Doch zählt auch hier der Sieg der Schia weniger als das Fehlen der anderen politischen Kräfte. Die sunnitischen Islamisten und Stammesvertreter, die die vorherige Nationalversammlung dominierten, kamen nun lediglich auf vier Sitze – zuvor waren es noch 23. Dieser Umstand schlug sich auch auf der Kandidatenliste nieder. Nur 18 der 50 neu gewählten Volksvertreter waren bereits einmal Mitglied der Kammer.

 

Das lag daran, dass etwa die einflussreichen Stämme Mutairi, Ajman und Rashidi sich allesamt verweigerten, ebenso weite Teile des liberalen »Nahda«-Blocks. So sind weite Teile der Gesellschaft in keiner Weise im Parlament vertreten und dessen Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen. Auch hat sich ein bereits im Februar zu verspürender Trend verdeutlicht: Die Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung mit ihren Volksvertretern erschüttert die Zusammensetzung der politischen Klasse des Landes.

 

Die nahezu anarchischen Zustände im Parlament – das Zusammenprallen unverbesserlicher Egomanen, hastige, unzusammenhängende Reden und das Schüren konfessioneller Spannungen – werden wahrscheinlich auch weiterhin Raum bekommen: auf stumm geschalteten und weitgehend ignorierten Fernsehbildschirmen. Unter der Hand geben die meisten Kuwaitis zu, dass all die Theatralik der Volksvertreter nur ein Spiel ist und nicht ernst genommen werden dürfe. So hat sich auch die Vorstellung vom Parlament als Papageienkäfig etabliert, in dem sich die Abgeordneten gegenseitig ankrächzen, ohne dass etwas dabei herumkäme.

 

Der Blick von Unten

 

Aber was bedeutet der Boykott mit Blick auf die sich seit zwei Jahren hinziehenden Proteste? Verfechter einer transparenten Regierungsführung und der Rechtsstaatlichkeit dürfen sich keine zu großen Hoffnungen machen. Anstatt sich auf die institutionalisierte Politik zu konzentrieren, sollten sie einen Augenschein auf die Struktur und Arbeitsweise zivilgesellschaftlicher Gruppen werfen.

 

In den letzten 24 Monaten haben Demonstranten das Parlament gestürmt, einen Premierminister zum Rückzug gezwungen, sind den Sicherheitskräften friedlich gegenüber getreten, haben sich mit ihren Forderungen direkt an den Emir gewandt und haben offen eine konstitutionelle Monarchie gefordert. Bedenkt man, dass dies mit den zahlenmäßig größten Protesten in Kuwaits Geschichte einherging, so ist klar, dass die Gesellschaft in Bewegung geraten sind. 

 

Das ist eine besonders kritische Entwicklung, da es vielen Kuwaitis in der Vergangenheit nahezu unmöglich schien, sich für längere Zeit unter einem Banner zu vereinen – dieser erste Schritt ist der Opposition nun offenbar gelungen. Seit den 1970er Jahren waren es tiefe Gräben zwischen Stadt- und Landbevölkerung, die mögliche Bündnispartner auseinander hielten.

 

Bedenkt man zusätzlich die konfessionellen Spannungen und das umfangreiche Subventionsprogramm der Regierung, so ist klar, weshalb politische Mobilisierung ein schwieriges Unterfangen darstellte. Jugendaktivisten sind die neue politische Kraft, die sich für wie auch immer gearteten Wandel stark macht. Bereits 2006 formierten sie sich in der so genannten »Orangenen Bewegung« und in manchen Teilen der kuwaitischen Gesellschaft stießen ihre Ideen auf fruchtbaren Boden – heute gibt es zahlreiche solcher Gruppen, die stetig anwachsen.

 

Überraschend ist diese Entwicklung nicht: Rund 52 Prozent der 1,17 Millionen Bürger sind jünger als 20 Jahre alt, 41 Prozent sogar jünger als 15 Jahre. Ihre Organisationen üben eine deutlich größere Anziehungskraft aus, als die etablierten Jugendorganisationen der klassischen Parteien – etwa der sunnitischen »Hadas«, oder oder der »Nationalen Demokratischen Bewegung«.

 

Deren Einfluss schwindet stetig, da sie klar exklusiver agieren, als viele der offen gestalteten neuen Gruppierungen. Eine der treibenden Kräfte hinter den aktuellen Demonstrationen, neben dem »Nahda«-Block und der Initiative zur »Verteidigung der Verfassung« ist die »Zivildemokratische Bewegung«, die ihrerseits aus diversen Untergruppierungen besteht. Sie entstanden 2010 und haben Anhänger in nahezu allen Teilen der Gesellschaft. Viele von ihnen sehen den Konfessionalismus und das elitäre Auftreten des Parlaments als Antrieb für ihren Aktivismus. Der Verlauf der Wahlen im Februar 2012 hat bei vielen ihrer Anhänger dieses Gefühl weiter verstärkt.

 

Das Parlament ist zum Zaungast Kuwaits verkommen

 

Unter Umständen erleben wir in Kuwait gerade auch eine Wiederholung der Geschichte. Die Bloggerin Mona Kareem und andere betonen, dass Kuwait in den 1980ern bereits ein ähnliches Szenario durchlaufen hat – jedoch mit umgekehrten Gegenspielern. Damals forderten städtische liberale Aktivisten Reformen von der Regierung und ihrer tribalen Machtbasis ein.

 

Im Gegensatz zu den »Diwaniya«-Montagsdemonstrationen von vor 30 Jahren, werden die aktuellen Proteste nicht im gleichen Maße unterdrückt, Aktivisten nicht flächendeckend verhaftet. Bislang konnte ihnen die Regierung erfolgreich die Stirn bieten.

 

So steht das Parlament in diesen Wochen vor einem enormen Berg an Aufgaben: die Rechte der Staatenlosen, die Internet- und Datenschutzgesetzgebung, die Frage, welchen Einfluss das Herrscherhaus in der Regierung haben sollte, die Zulassung politischer Parteien und zahlreiche weitere Verfassungsreformen kommen zu den Korruptionsermittlungen und der schleppenden Demokratisierung des Landes noch hinzu.

 

Wahrscheinlich ist nun, dass all diese Anliegen nun kaum ernsthaft bearbeitet werden. Die Kammer ist regierungstreuer als zuvor, was das Ausmaß der Schmiergeldzahlungen in allen Bereichen der Institution noch verschärfen könnte. Auch bei der Umsetzung wirtschaftlicher Großprojekte drohen anhaltende Rückschläge.

 

Die Proteste gingen indessen seit den Wahlen stetig weiter, auch wenn die Regierung den Eindruck erwecken möchte, ein Weiterso sei möglich. Insbesondere Jugendaktivisten sehen sich gegenüber der offiziellen Politik legitimiert, auf Reformen zu drängen. In welcher Form sie das tun wollen, ist noch nicht klar. Ob nun Wahlen stattfinden oder nicht – das Parlament ist längst zum Zaungast der wichtigen gesellschaftlichen Prozesse Kuwaits verkommen.

Von: 
Geoff Martin

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