Lesezeit: 6 Minuten
Palästinensische Flüchtlinge in Syrien

Der Revolutionsverweigerer

Feature

Hunderttausende palästinensische Flüchtlinge leben in Syrien. Einer von ihnen ist Nidal. Wie die meisten seiner Landsleute steht er zu Assad: Aus Dankbarkeit, Angst – und Hoffnung, dass sein Tag der Befreiung noch kommen wird.

»Plötzlich schossen sie mit scharfer Munition«, erinnert sich Nidal Said*. Über ein Jahr ist es her und trotzdem fängt seine Stimme an zu flattern, wenn er beginnt vom 5. Juni 2011 zu sprechen. 23 Menschen starben, über 300 wurden verwundet, als Soldaten aus gepanzerten Geländefahrzeugen erst auf Beine, dann auf Köpfe schossen. »Wir glaubten, wir könnten etwas bewirken. Doch es endete wie immer«, sagt Nidal resigniert, bevor er bittet das Thema zu wechseln.

 

Seit seiner Geburt lebt der 26-jährige Nidal im Süden von Damaskus. Einmal reiste er in den Libanon: über 50 Kilometer ging die Fahrt damals. Nidal ist einer von 486.000 Palästinensern in Syrien. Sein Wohnort ist das Flüchtlingslager Yarmuk, seine Heimat die israelische Stadt Haifa. An dem Tag, über den er auch heute nur ungern spricht, demonstrierte er zusammen mit hunderten Palästinensern und Syrern an der Grenze der israelisch besetzten Golanhöhen gegen die Besatzung seiner Heimat, bis sie in Schussweite israelischer Soldaten kamen.

 

Es war die letzte Demonstration, an der er teilnahm. Und es war das letzte Mal, dass israelische und nicht syrische Soldaten auf demonstrierende Syrer schossen.

 

Eines Tages errichteten syrische Soldaten Checkpoints

 

Yarmuk blieb lange verschont vom Terror des syrischen Bürgerkriegs. Die Einwohner, erzählt Nidal, waren stolz auf ihr friedliches Zusammenleben. Als in den angrenzenden Stadtvierteln längst Syrer auf Syrer schossen, wurde das Flüchtlingslager erneut zur Zuflucht. Doch dieses Mal für vertriebene Syrer.

 

Aufgerufen durch lokale Politiker verwandelten die Bewohner Yarmuks in den letzten Monaten immer wieder Schulen in Jugendherbergen und Moscheen in Suppenküchen. Mindestens 2.000 Flüchtlinge haben seit Beginn der Unruhen in Yarmuk Unterschlupf gefunden. Doch mittlerweile ist die Gewalt auch im Flüchtlingslager angekommen.

 

Mindestens 13 Bewohner starben vergangene Woche bei Kämpfen zwischen Rebellen und Soldaten. Am Montag rückten syrische Truppen in das Lager ein. »Wir wollen den Konflikt nicht. Aber wir haben keine Wahl«, klagt Yasser Saadeh von  der Bürgerbüros der »Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando« (PFLP-GC).

 

Die Protagonisten der PFLP-GC bedecken mit anderen Ikonen in Plakatform die Wände von Nidals Schlafzimmer: George Habash, Abu Ali Mustafa, Ahmad Sadat: Sie alle sind tot oder sitzen hinter israelischen Gefängnismauern. Trotzdem symbolisieren sie für junge Männern wie Nidal die Zukunft des palästinensischen Widerstandes.

 

Vor seinem Haus bewachen unterdessen drei Soldaten gelangweilt einen kleinen Checkpoint. Doch die mit Edding geschriebenen Widerstandsparolen handeln ausschließlich von geraubten Weinbergen in seiner palästinensischen Heimat. Bilder von Vertretern der syrischen Demokratiebewegung hat er keine.

 

Revolutionäre wider Willen

 

Die palästinensische Apathie im syrischen Bürgerkrieg wird von allen politischen Fraktionen gefördert. Selbst Hamas-Führer Khalid Maschaal soll einen seiner seltenen Auftritte in Yarmuk dafür genutzt haben, zur Teilnahmslosigkeit aufzurufen. Doch längst haben auch die palästinensischen Funktionäre die Lage nicht mehr unter Kontrolle. Am 12. Juli dieses Jahres begann das palästinensische Kapitel des syrischen Bürgerkrieges.

 

Rebellen stoppten einen Bus der »Palästinensischen Befreiungsarmee« – einer Art palästinensischen Paradetruppe der syrischen Armee. Die 16 Insassen fand man wenig später mit aufgeschlitzten Kehlen nahe der Stadt Idlib. Einige Hundert Palästinenser zogen daraufhin demonstrierend durch die Straßen. Eine Tankstelle ging in Flammen auf. Oppositionelle berichteten von fünf Toten.

 

Doch selbst als eines Nachmittags die grün-weiß-schwarze Fahne der syrischen Exilopposition im Lager wehte, forderten nur wenige den Rücktritt Assads. Die Parolen galten stattdessen den eigenen Führern, wie Ahmad Jibril, der es nicht schaffe, die eigene Bevölkerung zu schützen.

 

Gleichberechtigte Unterdrückung

 

»Es geht gut in Syrien«, sagt Nidal über das Land, in welchem palästinensische Flüchtlinge ein Maß an Rechten genießen wie in kaum einem anderen der Region. Seit 1957 sind Palästinenser und Syrer formell gleichgestellt. Kein Zaun trennt das Lager von den angrenzenden Vierteln, keine Aufenthaltsbeschränkungen die Palästinenser von der übrigen Bevölkerung.

 

Anders als in Libanon, Israel oder Ägypten können Palästinenser frei reisen, heiraten und arbeiten. Und auch die politische Unterdrückung gilt für Syrer wie Palästinenser in Syrien gleichermaßen. Vor 60 Jahren flohen Nidals Großeltern vor israelischen Soldaten aus Haifa. Vor fünf Jahren entkamen seine Eltern dem syrischen Geheimdienst nach Norwegen. Seitdem wartet er auf seine Ausreiseerlaubnis.

 

Manchmal organisiert er nun kleine Kundgebungen gegen die israelische Besatzung, wie zuletzt zum Al-Quds-Tag. Meistens sitzt er aber zuhause zwischen den Plakaten palästinensischer Widerstandskämpfer und schreibt Gedichte des palästinensischen Nationaldichters Mahmud Darwish an die Wand. Während nachts immer häufiger Gewehrsalven und der Lärm von Panzermotoren zu hören ist, hofft er dort darauf, dass auch sein Kampf endlich beginnt.  *Name geändert

Von: 
Fabian Köhler

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.