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Oslo-Abkommen zwischen Israelis und Palästinensern

Die Zwei-Staaten-Auflösung

Analyse

Abhängigkeit, Ausweglosigkeit, Entfremdung, Gewalt: Das Konstrukt Oslo steht kurz vor dem Kollaps. Die internationale Gemeinschaft ist mehr denn je gefordert, Israelis und Palästinensern an richtiger Stelle zu helfen und Druck auszuüben.

Viele palästinensische Regierungsvertreter glauben, ihren offiziellen Verlautbarungen zum Trotz, schon lange nicht mehr an die Zweistaatenlösung. Ihre Handlungsmöglichkeiten entsprechen eher der einer Kommunalverwaltung als der einer nationalen Regierung. Sie sind jedoch gefangen. Denn das massive Abhängigkeitssystem, welches Palästinensische Autonomiebehörde (PA) genannt wird, sorgt durch generöse Geberleistungen für die Simulation von Stabilität.

 

Dabei bricht die tatsächliche Grundlage für eine palästinensische Staatlichkeit mit dem kontinuierlichen israelischen Siedlungsausbau zunehmend weg. Die Geberleistungen werden jedoch offiziell zur Unterstützung des Staatsaufbaus übermittelt. Somit bestehen die offiziellen palästinensischen Bekenntnisse zu einer Lösung weiter fort, die keine mehr sein kann, um die Versorgung der von den PA-Leistungen und Arbeitsplätzen abhängigen Bevölkerung zu sichern.

 

Platzt die international finanzierte Blase?

 

Über Jahre hinweg hat das gereicht. Geberfinanzierungen zur Bezahlung von Beamten und Sicherheitskräften und internationale Geldspritzen für das palästinensische Finanzsystem haben ein künstliches Wachstum generiert. Ramallah, vor dem Oslo-Prozess noch ein Dorf, ist als Sitz der PA nun zu einer großen Stadt geworden, in der es vor international unterstützten NGOs, Cafés und glänzenden Bürotürmen nur so wimmelt.

 

Jedoch reicht diese Konjunkturspritze der Geber nicht mehr: Die Wirtschaftsentwicklung ist rückläufig. Das böse Erwachen setzt nun ein. Die palästinensische Mittelschicht ist verschuldet, trotz hoher Bildung gibt es keine Jobs. Die Flächen, die Palästina für Landwirtschaft und Entwicklung braucht, werden immer mehr von den wachsenden Siedlungen aufgefressen. Die palästinensische Landbevölkerung ist immer häufiger den Angriffen radikaler Siedler ausgesetzt.Die palästinensische Jugend, die keine Zukunft sieht und sich von den verkrusteten Elitestrukturen der PA nicht vertreten sieht, wird zunehmend radikalisiert.

 

Es gibt kaum noch natürliche Begegnungssituationen zwischen Palästinensern und Israelis. Eine verstörende Verrohung auf beiden Seiten setzt ein. Der mörderische Wahnsinn von Attacken auf Israelis mit Messern und Autos gehört inzwischen zur Tagesordnung. Selbst die Tatsache, dass die Angreifer häufig an Ort und Stelle erschossen werden, wirkt kaum als Abschreckung. Diese jungen Menschen sehen keine Möglichkeit für eine Zwei-Staaten-Lösung oder eine wie auch immer geartete Zukunft, in der sie menschenwürdig leben können. Die palästinensische Regierung kann sie nicht mehr aufhalten.

 

Bis vor wenigen Monaten hat sie palästinensische Jugendliche mit Sicherheitskräften davon abgehalten, an den israelischen Checkpoints zu demonstrieren und Steine zu werfen. Inzwischen ist die Regierung so unter Druck, dass sie solche, nicht immer gewaltlose, Demonstrationen zulässt. Übertrieben scharfe Reaktionen der israelischen Soldaten, erschreckend oft mit tödlichem Ausgang für palästinensische Demonstranten, führen zu einer Eskalationsspirale.

 

Das Ende der Verständigung

 

Die Handlungen junger palästinensischer Täter radikalisieren auch die ohnehin zunehmend rechtsnational orientierte israelische Gesellschaft und machen damit auch eine binationale Ein-Staaten-Lösung unmöglich. Es bleibt der Sicherheitsstaat Israel, der nur ein Apartheidsstaat sein kann. Für Palästinenser bedeutet das mehr Checkpoints, Mauern, Bewegungseinschränkungen, entwürdigende Kontrollen, weniger Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten. Dies wird unweigerlich zu mehr Verzweiflung und Gewalt führen.

 

Dauerhafte Wachsamkeit und Paranoia auf israelischer Seite führen dort zunehmend zu einer Wagenburg-Mentalität, die keine offene Debatte zu den Ursachen der palästinensischen Gewalt mehr zulässt. Wer die Berichterstattung auf israelischer und palästinensischer Seite zu den gleichen Ereignissen vergleicht, wähnt sich in völlig unterschiedlichen Welten. Die Holocaust-Vergleiche, denen sich die EU nun aussetzen muss, wenn sie eine völkerrechtlich notwendige Unterscheidung zwischen legalen israelischen Produkten und illegalen Siedlungsprodukten trifft, mögen in Europa hysterisch und drastisch übertrieben wirken. In Israel gehören sie als Teil des Gefühls der Viktimisierung und der »Wir-gegen-die-Welt«-Einstellung mehr und mehr zur Tagesordnung.

 

Was kann die internationale Gemeinschaft jetzt noch tun?

 

Die palästinensische Ausweglosigkeit speist sich aus der Zunahme von »facts on the ground«, die das Leben erschweren und die Würde nehmen. Die israelische Ausweglosigkeit beruht auf einem Weltbild der Angst und einer Ideologie des Exzeptionalismus, vorangetrieben von der Siedlerbewegung. Diese stützt sich auf das äußerst fragwürdige Argument, dass die biblischen Texte ihr erlauben, das von Palästinensern bewohnte Land gewaltsam zu nehmen und ihnen die Lebensgrundlage zu entziehen. Die Siedlerbewegung hat keinerlei Verständnis dafür, dass die massiven israelischen Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten internationale Empörung nach sich ziehen. Jegliche internationale Kritik wie auch jegliche palästinensische Gewalt kann aus dieser Warte nur einem in verschiedensten Formen ausgeführtem Anti-Semitismus entspringen.

 

Diese Haltung ist jedoch (noch) eine von einer lautstarken Minderheit vorgetragene, welche nicht die Position aller Israelis oder gar der stillen Mehrheit widergibt. Die Staatengemeinschaft muss daher Sorge tragen, dass sie den Siedlern keine Vetomacht über die Zukunft des Heiligen Landes zugesteht. Sie muss sich dem für alle Seiten hochgefährlichen Kurs der Netanjahu-Regierung widersetzen (auch wenn dies diffamierende Anschuldigungen und Holocaust-Vergleiche nach sich zieht) und sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen. Dabei muss sie die legitimen israelischen Sicherheitsinteressen, nicht jedoch die unter diesem Deckmantel umgesetzten Siedlerinteressen, verstehen und berücksichtigen.

 

Das heißt etwa, dass man nicht akzeptiert, dass palästinensische Brunnen und Viehunterstände aus angeblichen Sicherheitsgründen zerstört werden. Das heißt, dass man die Palästinenser dort bei ihrer Entwicklung unterstützt, wo sie es am dringendsten benötigen – nicht in den schimmernden Bürotürmen der Scheinwelt von Ramallah, sondern in den verwundbaren palästinensischen Dörfern in den von Israel kontrollierten C-Gebieten, in den Flüchtlingslagern in Gaza, im Westjordanland, im Libanon, in Jordanien und in Syrien. Damit kann die Staatengemeinschaft von einer virtuellen, zwangsläufig temporären Stabilisierung zu einer nachhaltigen Entwicklung von Perspektiven übergehen.

 

Letztendlich wird sich der Konflikt nur durch einen Paradigmenwechsel in der israelischen Gesellschaft lösen lassen. Die internationale Staatengemeinschaft muss helfen, Israelis den Ausweg zeigen, dass sie mit Achtung palästinensischer Rechte auch zu ihrer eigenen Sicherheit beitragen können: hin zu einem »normalen Staat«, der in der eigenen Region nicht nur als hochgerüstete Trutzburg überleben kann.

Von: 
Franz Sigel

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