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Neue Verfassung in Tunesien

Wieder Vorreiter

Analyse

Nach vielen Rückschlägen wird Tunesien für Geduld und Kompromissbereitschaft belohnt. Denn die neue Verfassung ist auch das Produkt einer neuen, postdiktatorischen politischen Kultur, die sich erst einmal finden musste.

Im Rahmen einer feierlichen Zeremonie unterzeichneten Tunesiens Präsident Moncef Marzouki und der Vorsitzende der Nationalversammlung Mustapha Ben Jaafar am Montag, dem 27. Januar 2014, die neue Verfassung des Landes, die am Tag zuvor mit großer Mehrheit von den Abgeordneten angenommen worden war. In seiner Rede vor der Versammlung zeigte sich der Präsident enthusiastisch, dass mit diesem Text »unser Sieg über die Diktatur« bestätigt sei.

 

Auch auswärtige Beobachter, wie UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, heben die Bedeutung der Verabschiedung der Verfassung hervor. In einer Pressemitteilung bezeichnet er sie als »historischen Meilenstein«, der ein Vorbild für andere Völker sein könne, die Reformen anstrebten. In der Tat strahlt Tunesiens Stern momentan hell in der arabischen Welt. Drei Jahre nach dem Fall des ersten Diktators in der Region hat sich das Blatt in den meisten Ländern wieder gewendet.

 

Insbesondere in Ägypten, wo sich General Abdelfattah Sisi in Stellung um das Präsidentenamt bringt, scheint das Pendel wieder auf die Ausgangsposition oder sogar noch weiter zurück Richtung Militärherrschaft zurückzuschlagen. Vom grausigen Krieg in Syrien und den von Stammesrivalitäten und regionalen Spaltungen zerrissenen Revolutionsländern Libyen und Jemen gar nicht zu sprechen.

 

Zwar sah die Situation in Tunesien in den letzten drei Jahren alles andere als rosig aus, zeitweise stand das Land vor dem politischen Kollaps. Doch in einer postdiktatorischen Gesellschaft, in der lange Zeit unterdrückte politische Strömungen den sich plötzlich öffnenden Raum nutzten, um zu erstarken, konnte man auch keine Wunder erwarten. Stattdessen macht das Land einen langwierigen revolutionären Prozess durch.

 

Die Troika übergibt nun das Zepter an ein Übergangskabinett

 

Marzouki selbst spielte in seiner Rede auf diese langfristige Perspektive an. Es bleibe noch viel zu tun, »um die Werte unserer Verfassung ein Teil unserer Kultur werden zu lassen«. Zwar ist die verabschiedete Verfassung das Ergebnis eines Konsenses der verschiedenen politischen Strömungen im Land, nachdem die islamistische Ennahda zuvor vergeblich versucht hatte, als Wahlsieger ihre Weltanschauung durchzusetzen. Gleichzeitig unterstreicht der Präsident, dass manche Aspekte der Verfassung auch im Land selbst als ein Meilenstein angesehen werden.

 

Das gilt insbesondere für die Gleichstellung von Mann und Frau sowie für die Gewissensfreiheit. Zwar war Tunesien schon seit dem Personenstandsgesetz 1956 unter Präsident Bourguiba in punkto Frauenrechten Vorreiter in der Region. Diese Besonderheit wurde vom alten Regime jedoch politisch instrumentalisiert, um von anderen Problemen abzulenken. Nach der Revolution schließlich wurde die Stellung der Frau immer mehr zum Zankapfel zwischen Islamisten und Säkularen. Ennahda-Abgeordnete wollten Frauen in der Verfassung als »Ergänzung des Mannes« festschreiben, scheiterten jedoch schließlich am Widerstand der anderen Parteien.

 

Auch die Garantie der Gewissensfreiheit ist in anderen muslimischen Ländern alles andere als selbstverständlich. Die Troika aus Ennahda, Kongresspartei und Ettakattol übergibt nun das Zepter an ein Übergangskabinett von Technokraten unter der Führung von Mehdi Jomaa. Sie wurde als Teil eines Deals zwischen Ennahda und der Opposition im Dezember eingesetzt, um die politische Krise zu beenden und die Zeit bis zu Konstituierung einer neuen regulären Regierung nach Neuwahlen zu überbrücken.

 

Die Regierungsbildung verlief schwierig, da Jomaa zunächst keinen geeigneten Konsenskandidaten für das wichtige Innenministerium finden konnte. Der Übergangsregierung gehört unter anderem Finanzminister Hakim Ben Hammouda an, ein Wirtschaftswissenschaftler mit Erfahrung bei der Afrikanischen Entwicklungsbank, und Außenminister Mongi Hamdi, ein ehemaliger UN-Beamter. Nach Monaten der Ungewissheit kommt wieder Bewegung in Tunesiens politische Landschaft, die Verabschiedung der neuen Verfassung ist dabei ein wichtiger erster Schritt. Sie soll eine neue Diktatur verhindern. Nun geht es darum, die hehren Prinzipien mit Leben zu füllen.

Von: 
Johanne Kübler

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