Mehmet Görmez, Präsident des türkischen »Amtes für Religionsangelegenheiten« im Interview über die Beschneidungsdebatte, Imam-Ausbildung für Deutschland und die Rechte von religiösen Minderheiten in der Türkei.
zenith: Professor Doktor Mehmet Görmez, sicherlich haben Sie vom Beschneidungsurteil des Kölner Landgerichts gehört. Insbesondere die türkischen Medien setzten sich intensiv mit diesem Thema auseinander. Was halten Sie von einem Beschneidungsverbot in Deutschland?
Mehmet Görmez: Das Urteil hat nicht nur die Muslime in Deutschland, sondern in ganz Europa friedlos gestimmt. Politiker und Juristen sollten nicht das Recht haben, symbolische religiöse Grundsätze verbieten zu dürfen. Diese Situation verdeutlicht uns ein weiteres Mal, wie wichtig es ist, dass Politiker und Juristen sich hinsetzen und Religionsgeschichte studieren. Die Beschneidung ist ein Grundsatz in allen Buchreligionen, sie wird seit dem Propheten Ibrahim praktiziert. Es ist ein symbolischer Akt zur Persönlichkeitsbildung der jungen Männer. Dies als eine Körperverletzung zu bezeichnen, ist ein Unding.
Wie sollten die Muslime in Deutschland auf dieses Urteil reagieren?
Die Muslime sollten versuchen, den Juristen die Religionsgeschichte näherzubringen und ihnen zu erklären, welche große Bedeutung Symbolik in der Geschichte der Gläubigen hat. Nicht nur bei den Muslimen, wohlgemerkt, auch im Judentum.
Der Anti-Islam-Film »Die Unschuld der Muslime« hat zu Protesten und gewaltsamen Ausschreitungen in nahezu allen islamischen Ländern geführt. In der Türkei gab es allerdings kaum Proteste und auch keine Übergriffe auf Botschaften westlicher Länder. Was ist der Grund dafür, dass die Türken recht gelassen mit dieser Provokation umgehen?
Man braucht eine gewisse Bildung, um zu wissen, wie man sich in solchen Situationen zu verhalten hat. Nachdem sehr schnell klar war, dass es sich bei diesem Film um eine Provokation handelt, waren die Reaktionen der Muslime sehr verschieden. Gewiss haben auch wir uns gegen den Film ausgesprochen. Aber unsere Kritik blieb auf der Ebene rationaler Argumente.
Was halten Sie denn von dem Film?
Zuallererst darf man nicht unterschlagen, dass dieser Film eine globale Provokation war. An diese Untat den Maßstab der Meinungsfreiheit anzulegen, ist inakzeptabel. Der effektivste Weg, um eine Gruppe zu erniedrigen, ist es, ihre Moralvorstellungen und ihren Heiligkeitsbegriff anzugreifen. Der französische Philosoph Michel Foucault hätte dies als eine abstrakte und kulturelle Folter eingeschätzt. Außerdem haben die Provokateure natürlich auch erkannt, dass die aggressiven Reaktionen mancher Muslime die Islamophobie nährt. Dadurch schaffen sie es, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: zu beleidigen und zu hetzen. Man darf sich nicht auf solche falschen Spiele einlassen.
Apropos Islamophobie: Wie stehen Sie zu der Aussage, dass in der Türkei derzeit eine Islamisierung stattfindet?
In allen Religionen gibt es leider Extremisten. Trotzdem sollte man die Muslime nicht in zwei Gruppen teilen. Die Türkei besitzt hier sicherlich einen ganz besonderen religiös-historischen Kontext. Die Präsenz von Diyanet, 80 islamisch-theologischen Fakultäten, islamischen »Imam Hatip«-Gymnasien, das gute Bildungssystem und das hohe Bildungsniveau verhindern die Entstehung von Extremismus. Ein falsches Religionsverständnis wird in der Regel von einem ungebildeten Umfeld geschaffen.
Auch die meisten Imame in Deutschland werden von der Diyanet gestellt oder sind in der Türkei ausgebildete Prediger. Viele sprechen kein Deutsch und sind kaum mit der deutschen Kultur vertraut. Wie wollen Sie gegen dieses Problem vorgehen?
Ich möchte hier anmerken, dass die Funktion eines Imams nicht nur einen sprachlichen Aufgabenbereich beinhaltet. Er muss die Gebete leiten und ein Vorbild für ein religiös-spirituelles Leben sein. Der Imam-Export ist in ganz Europa deswegen entstanden, weil die Muslime nicht in der Lage waren, ihre eigenen Religionsgelehrten auszubilden, und daher auf die Imame ihrer Herkunftsländer zurückgreifen mussten. Um ehrlich zu sein, versuchen wir seit den vergangenen zehn Jahren besonderen Wert darauf zu legen, dass die Imame der deutschen Sprache mächtig sind und sich auch in kulturellen Aspekten gut einleben können. Trotzdem haben wir gemerkt, dass wir nicht weiter auf diese Weise agieren können, und haben das Konzept der »International-islamischen Theologie« entwickelt. In diesem Programm können junge Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund nach ihrem Abitur ein Stipendium für das Theologiestudium in der Türkei erhalten, um dann nach ihrem Studium wieder nach Deutschland zu kommen. Derzeit bilden wir 600 Studenten in diesem Programm aus.
Auch Deutschland bemüht sich seit kurzem verstärkt um die Ausbildung von Imamen.
Ja, und wir haben unsere Bereitschaft bekundet, die vier deutschen Universitäten mit ihren neuen islamischem Theologie-Studiengängen zu unterstützten. Die Lösung dieses Problems ist bloß durch die Kooperation zwischen der Türkei und Deutschland möglich. Trotzdem bin ich der Überzeugung, dass das aktuelle DITIB-Modell, welches durch die Zusammenarbeit mit der Diyanet entstanden ist, immer noch das beste Moscheen-Modell in Europa darstellt. Natürlich gibt es auch ernsthafte Defizite, die behoben werden müssen.
Gibt es denn schon Absolventen dieses »International-islamische Theologie«-Studiengangs?
Ja, seit nunmehr zwei Jahren. Alle Nichtregierungsorganisationen dürfen nun diese Absolventen einsetzten.
Das heißt, die Absolventen sind seit zwei Jahren arbeitslos und sind noch nirgends zum Einsatz gekommen?
Sie werden bald beschäftigt.
Studenten dieses Programms berichten von Zukunftsängsten und schlechten Zuständen in denen von der Diyanet gestellten Wohnheimen in Ankara. Insbesondere die Mädchenwohnheime sind schlecht ausgestattet und bieten kaum Lernmöglichkeiten. Ich habe sie selbst besichtigt und habe mit den Studentinnen gesprochen. Was sagen Sie zu diesen Zuständen?
Sie können den Studentinnen sagen, dass sie sich keine Sorgen machen sollen. Denn wenn sie zurück nach Deutschland kommen, werde sie hier gebraucht werden. Was die Wohnsituation betrifft, sind wir derzeit dabei, in Ankara zwei neue Wohnheimanlagen für die Studentinnen zu bauen. In einem Jahr werden sie hoffentlich fertig sein.
»Ein falsches Religionsverständnis entsteht aus einem ungebildeten Umfeld«
In den DITIB-Moscheen werden die Predigten generell auf Türkisch gehalten. Muslime, die kein Türkisch beherrschen, haben daher große Schwierigkeiten, sich in die Gemeinden zu integrieren. Wie wollen Sie dieses Problem lösen?
Ich denke, es gibt nach jeder Predigt eine deutsche Zusammenfassung. Aber wie diese Angelegenheiten geklärt werden, liegt allein in den Händen der einzelnen Moscheen. Wir haben mit DITIB nur ein Gentlemen’s agreement getroffen, den Rest überlassen wir ihnen.
Lassen Sie uns kurz über religiöse Minderheiten in der Türkei sprechen. Glauben Sie, dass sich türkische Aleviten und Schiiten mit der Religionsbehörde Diyanet identifizieren können, die für einen sunnitischen Staatsislam steht?
Beim Thema Aleviten muss die Diyanet wirklich seriöse Selbstkritik üben. Wieso können wir keine Projekte konzipieren, die auch unsere alevitischen Geschwister involvieren? Natürlich kritisieren wir uns auch selbst. Wichtig ist uns aber das wahre anatolische Alevitentum – und nicht die Gruppen, die politische Hintergedanken haben und den Dialog zwischen Sunniten und Aleviten verhindern wollen.
Dürfen Christen in der Türkei ihren Glauben frei ausüben?
Zu Beginn meiner Amtszeit habe ich mich mit allen religiösen Führern in der Türkei getroffen und gefragt: »Gibt es Rechte, welche wir Muslime in der Türkei besitzen und ihr nicht? Wenn ja, dann bitte sagt es mir, damit wir diese Ungleichheiten aus der Welt schaffen.« Die Türkei ist möglicherweise das einzige Land, das auch in Anbetracht seiner osmanischen Geschichte eine religiöse Vielfalt duldet und fördert. Ich möchte natürlich nicht ausschließen, dass es auch bei uns früher einige Freiheitsbeschränkungen gegeben hat. Aber seit etwa zehn Jahren hat sich die Situation der Christen in der Türkei sehr verbessert. Ich würde sogar sagen, dass sie im weltweiten Vergleich sehr viel besser dastehen als viele andere religiöse Minderheiten in anderen Ländern. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht immer noch viele Lücken gibt, die wir zu schließen haben.
Welche Lücken meinen Sie?
Ein Beispiel: Die religiöse Ausbildung ihrer Kinder findet in fremden Ländern statt. Das ist etwas, was ich nicht akzeptieren kann. Wenn im eigenen Land die Gläubigen auf andere Länder angewiesen sind, dann entsteht dort ein großes Problem. Diese Menschen müssen ihre eigenen Schulen eröffnen können, um ihre Gelehrten in ihrem eigenen Land, der Türkei, ausbilden zu können. Ich bin mir sicher, dass wir auch dieses Problem bald lösen werden.
Mehmet Görmez,53, lehrte bereits während seiner Studienzeit er an Koranschulen, schloss sein Theologiestudium an der Universität Ankara im Jahre 1990 ab und wurde 1994 promoviert. Nach weiteren Forschungs- und Lehraufenthalten in Großbritannien und Kasachstan wurde er 2006 zum Professor berufen. Im Oktober 2010 wurde Görmez als Präsident des »Amtes für Religionsangelegenheiten« (Diyanet İşleri Başkanlığı) ernannt.