Lesezeit: 8 Minuten
Kampf gegen sexuelle Belästigung in Ägypten

»Die Stimme der Frauen ist die Revolution«

Analyse

Der Kampf gegen sexuelle Belästigung in Ägypten ist längst kein Nischenthema weniger Aktivisten mehr. Die Übergriffe nehmen zwar in erschreckendem Maße zu, doch immer mehr Frauen setzen sich zur Wehr.

Sexuelle Belästigung in Ägypten ist kein neues Thema, aber es gewinnt immer mehr an Brisanz – einerseits wegen der immer häufigeren Vorfälle, anderseits, weil die betroffenen Frauen immer seltener schweigen wollen. Besonders nach der Revolution hat das Thema an Aufmerksamkeit gewonnen. Frauen fanden Gehör – zunächst auf Twitter und Facebook, dann auch in Talkshows im Fernsehen. Sexuelle Belästigung war keine individuelle Schande mehr, es war ein gesellschaftliches Problem, das Aktivisten öffentlich anprangerten und für das eine politische Lösung gefunden werden musste.

 

Zwei Jahre später ist diese Lösung noch immer nicht in Sicht. Im Gegenteil, die sexuellen Übergriffe auf dem Tahrir-Platz nehmen so schlimme und brutale Ausmaße an wie nie zuvor. Zeigte sich sexuelle Belästigung zuvor in Gestalt von Betatschen und Übergriffen durch Einzeltäter, sind in den vergangenen Wochen teils gezielte Massenvergewaltigungen zu beobachten. Über 20 Frauen wurden allein am 25. Januar 2013, dem 2. Jahrestag der Revolution, von einer Horde Männer brutal attackiert, die Kleidung heruntergerissen – und mitten auf einer Demonstration vergewaltigt.

 

Bereits seit Jahren, aber immer besser organisiert, engagieren sich Aktivisten gegen sexuelle Belästigung, wie zum Beispiel das Team von »Operation Anti-Sexual Harassment«. Hunderte Frauen und Männer sorgten dafür, dass Opfer in Sicherheit gebracht und medizinisch und psychologisch versorgt werden. Obwohl viele dieser Aktivisten während ihres Einsatzes selbst Opfer von sexueller Belästigung werden, haben sie immer mehr Zulauf. »Viele kamen spontan während der Demonstrationen vorbei und sagten, dass sie helfen wollten«, erzählt Yahya, der schon seit etwa einem Jahr bei »Operation Anti-Sexual Harassment« dabei ist, nachdem seine Verlobte brutal angegriffen wurde.

 

Unterstützung von Marokko bis Jordanien

 

Doch der Kampf gegen sexuelle Belästigung ist längst nicht mehr nur Thema von Frauenrechtsorganisationen oder Aktivisten. Für den 12. Februar hatten mehrere Gruppen zu einem weltweiten Protest gegen sexuelle Gewalt gegen Demonstrantinnen in Ägypten aufgerufen – und dürften wohl selbst von ihrem Erfolg überrascht gewesen sein, schließlich war es nicht der erste derartige Appell. Ob zum Weltfrauentag oder als Solidaritätsaktion nach schlimmen Übergriffen, immer wieder brachten das Thema durch sichtbaren Protest an die Öffentlichkeit.

 

Die meisten Demonstrationen waren relativ klein, wurden im besten Fall belächelt, ihre Rufe durch Störer übertönt. Vielfach wurden sie aber von wütenden Männern angegriffen – Medienberichterstattung und Aufmerksamkeit jenseits der kleinen Aktivistenszene blieben aus. Doch Ägypten hat sich offenbar verändert, die immer wieder und wieder geführten Diskussionen über sexuelle Belästigung oder die Rolle von Frauen bei den Protesten sind nicht spurlos an Gesellschaft und Politik vorbeigegangen. Die Demonstration am 12. Februar war nicht nur in Ägypten ein voller Erfolg, weltweit gab es Unterstützeraktionen, besonders in der arabischen Welt.

 

Fotos aus Jordanien, dem Libanon oder Marokko gingen durch das Netz, überall hielten Frauen Plakate in die Höhe, auf denen sie sich wehrten, als Objekt oder »Ehre« der Familie zu gelten. Frauen, die sich wehren – das gilt in Ägypten schon lange nicht mehr als Schande, nun aber auch nicht mehr als totgeschwiegene Notwendigkeit. Frauen, die für ihre Rechte und gegen Gewalt einstehen, sind Inbegriff der Revolution selbst, wie es der ägyptische Graffitikünstler »El Zeft« künstlerisch ausdrückt. Im Januar tauchten zudem in den sozialen Netzwerken früher undenkbare Motive auf: Fotos, die junge Frauen im Kampf mit der Polizei zeigen – mit Kopftuch, Gasmaske und Stein in der Hand.

 

Solche Bilder wurden mit Unterschriften wie »Wir können stolz auf unsere ägyptischen Frauen sein« versehen und tausendfach geteilt. Dabei hatten anfangs selbst Aktivistinnen betont, dass zuerst die politischen Forderungen auf der Tagesordnung stünden, bevor man sich mit gesellschaftlicher Gleichstellung beschäftigen könne.

 

Der einfache Ratschlag der Islamisten: Frauen sollten eben nicht mit Männern zusammen demonstrieren

 

Nun wandeln sie den berühmten Slogan der Revolution »Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit« in »Brot, Freiheit, Würde für ägyptische Frauen« um. Auch vielen Aktivisten ist nun zwei Jahre nach der Revolution klar, dass ihre Forderungen nicht gehört werden, wenn sie in erster Linie Rücksicht sie auf kulturelle Empfindlichkeiten nehmen. »Zuerst dachten wir, dass wir die Demokratie nicht durchsetzen können, wenn wir sie mit Frauenrechten und Gleichstellung verbinden. Heute wissen wir, dass wir die Demokratie mit den Muslimbrüdern so oder so nicht durchsetzen können.Also fordern wir nun direkter und ungeschminkter unsere Rechte ein«, erzählt Aktivist Ahmed.

 

Er fügt schmunzelnd hinzu, dass das Thema nun nicht mehr nur das einzelner junger Leute sei, auch seine Mutter sei zu den Protesten auf die Straße gegangen – und hätte zu ihrem Schutz Nägel mitgenommen. Das neue Selbstbewusstsein drückt sich auch sprachlich aus. Statt von »sexueller Belästigung« sprechen viele jetzt von »sexuellem Terrorismus«, wenn sie über die Übergriffe während Demonstrationen sprechen. Der Begriff Terrorismus soll verdeutlichen, dass es sich um ein gezieltes Mittel der wahllosen Gewalt handelt, mit dem Demonstrantinnen eingeschüchtert werden sollen.

 

Es ist eine andere Kategorie als die Belästigungsfrage, die häufig mit falsch verstandenen Flirtversuchen in Zusammenhang gebracht wird und die jede belästigte Frau in Ägypten (und auch anderswo) erst einmal in eine Diskussion über ihren Kleidungsstil zwingt. Wie reagiert die Politik darauf? Natürlich leugnen alle politischen Kräfte, allen voran die Muslimbrüder, gezielt junge Männer zu bezahlen, um durch sexuelle Übergriffe Demonstrationen zu stören. Der Schura-Rat, die zweite Parlamentskammer und zurzeit das einzige gewählte Gremium, nahm sich dem Thema an.

 

Da Salafisten und Muslimbrüder dort fast unter sich sind, fielen die Kommentare auch entsprechend aus: Weibliche Teilnehmer wüssten genau, dass auf solchen Demonstrationen nur Kriminelle seien und müssten so auch die Verantwortung für ihr Handeln tragen. Frauen dürften eben nicht mit Männern zusammen demonstrieren, so der einfache Ratschlag der Abgeordneten. Die Regierung ist einerseits höchst besorgt und plant, höhere Strafen für sexuelle Übergriffe einzuführen – obwohl kaum ein Fall zur Anzeige gebracht werden kann. Andererseits müssen Präsident Mursi und seine Muslimbruderschaft erst einmal die Vorwürfe entkräften, dass sie hinter den organisierten Attacken auf Frauen stecken.

Von: 
Victoria Tiemeier

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.