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Intervention in Syrien

Bei 100.000 Toten wird interveniert!

Kommentar

Assad auf der einen, Dschihadisten auf der anderen Seite? Mit der Politik des Nichtstuns verraten wir Syriens Bevölkerung doppelt – und gaukeln uns noch vor, damit durchzukommen. Ein Kommentar von zenith-Herausgeber Marcel Mettelsiefen.

Niemand, auch nicht die Menschen in Syrien, auf die tagtäglich Bomben und Raketen niedergehen, verlangt vom Westen, dass er das Assad-Regime militärisch niederringt und gemeinsam mit den Rebellen der Freien Syrischen Armee auf Damaskus losmarschiert. Aber die deutsche Bundesregierung tut so, als sei das die einzige Alternative zu ihrer derzeitigen Haltung. Sie rechtfertigt ihr Nichtstun damit, dass sie einen »Flächenbrand« im Nahen Osten ja verhindern wolle. Berlin möchte keiner Entwicklung Vorschub leisten, die ein militärisches Engreifen internationaler Akteure wie Russland oder Iran zur Folge haben kann.

 

Dahinter steht aber eine andere, wenn nicht noch größere Angst: Wenn man die Aufständischen indirekt mit Waffen oder offen durch Luftschläge unterstützt, riskiert man eine Mitschuld daran, dass dschihadistische Brigaden die syrische Armee schlagen, Syrien in einen Taliban-Staat verwandeln und religiöse Minderheiten wie Christen oder Alawiten massakrieren, vertreiben oder unterdrücken.

 

Insofern scheinen Berichte über die wachsende Macht der Islamisten auf der Rebellenseite, allen voran der gefürchteten Jabhat al-Nusra in Berlin nicht unwillkommen – scheinbar geben sie dem Bundesaußenminister und all jenen Recht, die davor warnen, dass Deutschland sich mit den Falschen einlässt: erklärten Feinden von Demokratie und Religionsfreiheit, die sich, wenn sie ihr Werk in Syrien vollbracht haben, als nächstes gegen Israel und den Westen wenden.

 

Das Zynische an dieser Politik: Der Westen, und vor allem Deutschland mit seiner Skepsis und seinen Forderungen nach einer »politischen Lösung«, verrät dadurch diejenigen, die unter dem Krieg leiden, gleich zum zweiten Mal. Denn je länger und brutaler die Gewalt in Syrien tobt, desto dramatischer schwinden die Kräfte jener, die ein freies Syrien wollen und mit dschihadistischen Umtrieben und selbsternannten salafistischen Scharia-Richtern nichts im Sinne haben. Ihre Hoffnungen werden zwischen den todbringenden Waffen und dem Eifer der Dschihadisten erbarmungslos zermalmt.

 

In diesen Kriegszeiten finden viele Männer Halt im Glauben, sie werden fromm, tragen lange Bärte, auch um sich mit anderen Kämpfern solidarisch zu zeigen, und sie »radikalisieren« sich aus unserer Sicht. Man kommt dabei nicht umhin zu fragen: Wenn ein europäisches Land nur eine Woche lang das ertragen müsste, was in Syrien seit zwei Jahren geschieht, würden wir uns nicht »radikalisieren«? Unser Geschmacksurteil darüber, ob eine Brigade die Revolution zum Kriegsziel hat oder den Dschihad, interessiert viele Syrer in diesen Tagen nicht. Die Dschihadisten haben die besten Waffen, sind kampferprobt und verfügen über finanzielle Ressourcen, die aus Kuwait, Saudi-Arabien und der Türkei zu ihnen fließen und mit denen sie anderen Einheiten erobertes Gerät abkaufen.

 

Viele fragen sich: Hatte Assad doch ein bisschen Recht?

 

Sie unterscheiden sich von »säkularen« Einheiten weder in ihrem Schlachtruf (»Allahu akbar«, wie man weiß), noch in ihrem Siegeswillen. Vermutlich nicht einmal darin, wie sie mit Gefangenen umgehen – sehr wohl aber in der Art und Weise, wie sie nach dem Vorbild frommer Stiftungen das Gemeindeleben organisieren: Sie lassen Müll beseitigen, verteilen Hilfsgelder und zwingen den Menschen, was vielen als das kleinere Übel scheint, ihre Vorstellung von Ordnung auf: »Winning hearts and minds«, so heißt es ja immer.

 

Nur wenige wenden sich öffentlich dagegen, wie ein Revolutionär der ersten Stunde in Aleppo, ein gewisser Abu Maryam, der den Dschihadisten argumentativ die Stirn bietet, gegen ihre Vorstellung von Scharia predigt und inzwischen schon damit rechnet, dass er deshalb nicht mehr lange lebt. Dabei sind etwa in Aleppo trotz des Krieges fast eine Million Menschen in die von Rebellen kontrollierten Gebiete zurückgekehrt. Die Lager in der Türkei sind überfüllt und die Zeltstädte auf syrischer Seite erbärmlich – da riskieren viele lieber in der Heimatstadt ihr Leben.

 

Die Luftwaffe bombardiert beinahe täglich Wohnviertel – es fallen geächtete Brand- und Splitterbomben, und Scud-Raketen, die stehend höher sind als ein Mietshaus und, in ein Wohngebiet gefeuert, 120 Menschen auf einmal töten können. Und jeden Tag fischen die Einwohner des von Rebellen kontrollierten Viertels Bustan al-Qasr zwischen vier und zehn zum Teil bestialisch zugerichtete Leichen aus dem kleinen Fluss Kuweik.

 

Es sind Menschen, die in den Wirren des Krieges auf der einen Seite der geteilten Stadt gewohnt, aber auf der anderen Seite gearbeitet haben und trotz des Krieges dieses tägliche Risiko eingingen. Bis nun bekannt wurde, dass an einem Armee-Checkpoint in der geteilten Stadt Bürger aus Bustan al-Qasr willkürlich abgegriffen, gefoltert, geknebelt, erschlagen und in den Fluss geschmissen werden – damit man sie auf der anderen Seite findet. Eine Strafaktion für abtrünnige Viertel. All das scheint System zu haben.

 

Das Regime will Angst, Schrecken, Terror verbreiten und somit eine Radikalisierung bewirken. Und, wie wir sehen, greift diese Strategie. Denn die Radikalisierung macht dem Westen Angst – oder liefert einen willkommenen Vorwand, nichts zu tun. Eine selbsterfüllende Prophezeiung: Zu Beginn des Krieges erklärte Assad die Rebellen zu Al-Qaida-Terroristen. Und tagtäglich fragen sich die Deutschen nun: Ob nicht doch etwas dran gewesen ist, an Assads Version der Geschichte? Wer weiß, ob es Zufall ist, dass zivile Gebiete täglich bombardiert werden, aber das Hauptquartier von Jabhat al-Nusra, in Sichtweite von Armee-Scharfschützen in der Zitadelle von Aleppo gelegen, bisher keine Treffer abbekommen hat.

 

Luftschläge würden Assad nicht stürzen, sondern zwingen, seine Strategie zu ändern

 

Vielleicht kann eine ernstgemeinte Drohung des Westens, militärisch einzugreifen, dem Regime Grenzen setzen. Bisher spekuliert Assad darauf, dass er, solange er keine chemischen Waffen einsetzt, nichts vom Westen zu befürchten hat. Aber eine Flugverbotszone für Scud-Raketen und Bomber auf zivile Ziele könnte ein Anfang sein – ebenso einige »chirurgische«, eher symbolisch gemeinte Luftschläge auf Scud-Basen des Regimes: Sie würden Assad zeigen, dass, wie auch immer sich der Kriegsverlauf gestaltet, der Westen nicht länger der systematischen Vernichtung der Zivilbevölkerung zusieht.

 

Das Argument westlicher Militärs und Diplomaten gegen die Flugverbotszone lautet: Wer eine solche Zone ausruft, muss sie auch flächendeckend durchsetzen können, sonst macht er sich unglaubwürdig. Aber unglaubwürdig haben wir uns ohnehin gemacht. Und sowohl die UNO als auch die Bundesregierung weiß: Bei 100.000 Toten ist die Schallgrenze erreicht. Dann wird interveniert, egal wie opportun es scheint. Heißt das, dass wir noch weitere 30.000 Tote abwarten sollten, bis wir es uns dann doch »anders überlegen«?

Von: 
Marcel Mettelsiefen

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