Lesezeit: 10 Minuten
Foto-Band »Nostalgia« von Sergei Prokudin-Gorski

Fantastische Trugbilder

Feature

Der aufwändig gestaltete Band »Nostalgia« zeigt in 280 Farbaufnahmen des Fotopioniers Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski, wie sich das Russische Reich unter Zar Nikolaus II. gerne gesehen hätte: als arbeits- und fügsamer Vielvölkerstaat.

Russland um 1900: Das ist ein Imperium, das mit rund 22 Millionen Quadratkilometern fast ein Sechstel der Erde umfasst. Doch so groß und mit über 125 Millionen Einwohnern reich an Menschen das Land des seit 1894 regierenden Zaren Nikolaus II. (1867-1918) auch ist, es hinkt anderen Großmächten wie Großbritannien, Deutschland oder den USA in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht hinterher.

 

Das Kaiserreich ist ein Riese auf tönernen Füßen. Die absolute Herrschaft des Zaren, gestützt auf orthodoxe Kirche, Adel und Militär, behindert konsequent die Teilhabe von Bürger-, Bauern- und Arbeiterschaft an der Macht und so die Entstehung einer parlamentarischen Monarchie. Große Gräben durchziehen die Gesellschaft. Reichtum und Wohlstand finden sich bei Adel und Großbürgertum, die von Privilegien und der langsamen Industrialisierung profitieren.

 

Dagegen herrschen Armut, Hunger und Analphabetismus bei der großen Masse an Bauern, die trotz der Aufhebung der Leibeigenschaft Abhängige bleiben und darum in großer Zahl in die Städte migrieren, um Arbeit in Fabriken zu finden. Vor diesem Hintergrund wird es spannend, sich mit einem im Sommer 2012 erschienenen, aufwendig gestalteten Bildband auseinander zu setzen, der das »Russland von Zar Nikolaus II.« auf spezielle Weise dokumentiert.

 

Unter dem Titel »Nostalgia« vereint eine gebundene, querformatige Ausgabe insgesamt 280 Aufnahmen des russischen Chemikers und Fotopioniers Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski (1863-1944) aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Das Besondere an dieser Neuerscheinung ist nicht nur, dass es sich um die erste deutschsprachige Veröffentlichung der Aufnahmen des hierzulande kaum bekannten Russen handelt, sondern auch und vor allem, dass er seine Bilder bereits damals in Farbe produziert hat.

 

Visuelles Spektakel und Lehrmaterial

 

Im informativen Vorwort »Auf der Suche nach einem verschwundenen Raum, einer verschwundenen Zeit« liefert die Fotohistorikerin Estelle Blaschke Informationen zum Fotografen, zu den Umständen der Entstehung, der Art der Herstellung und setzt die Aufnahmen in den Kontext ihrer Epoche. Geboren in Sankt Petersburg, studiert der Adlige dort Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Chemie. In Berlin lehrt und forscht er über den Problemen der Farbdarstellung in der Fotografie.

 

Nach einem Aufenthalt in Paris kehrt Prokudin-Gorski 1901 zurück und wird, wie Blaschke schreibt, zum »Advokaten eines in Russland noch wenig verbreiteten Mediums«. Als Mitglied der Kaiserlich-Technischen Gesellschaft lehrt er Fotografie, fotomechanische und chemische Verfahren »als neues und wichtiges Instrument der Wissenschaften«, veröffentlicht Handbücher und gibt Fotograf-Ljubtel – Amateur-Fotograf, eine der ersten russischen Fotozeitschriften, heraus.

 

Um 1904 entwirft Prokudin-Gorski, der die weltweite Entwicklung der Fotografie beobachtet und sich des Wettlaufs der Großmächte auch in der Kultur bewusst ist, den Plan, Russland in Farbbildern systematisch festzuhalten. Er stellt die Resultate seiner Experimente vor und gewinnt die Unterstützung von Großfürst Michael, der Vorsitzender der Sankt Petersburger »Fotografischen Gesellschaft« ist.

 

Dieser stellt Kontakt zu seinem Bruder, Zar Nikolaus, her, so dass der Fotograf bei einer Audienz einige Farbaufnahmen, unter anderem eine des Schriftstellers Lew Tolstoi (1828-1910), präsentieren kann. Er gewinnt Nikolaus II., wie Blaschke schreibt, durch das »visuelle Spektakel«, aber auch durch die Idee, die Fotos zu reproduzieren und als Projektionen in der Schule einzusetzen. Sie sollen den Kindern die Natur und kulturelle Vielfalt, die technische Entwicklung und Geschichte Russlands nahe bringen. Aufgrund der Finanzhilfe des russischen Herrschers ist es Prokudin-Gorski möglich, sich das nötige Equipment zu besorgen.

 

Ihm werden mobile Dunkelkammern bereit und Empfehlungsschreiben ausgestellt, die ihm das Reisen über die weiten Distanzen erleichtern. Ab 1909 besucht er den europäischen Teil Russlands, die Gebiete der Wolga und des Urals, Westsibirien, den Kaukasus und Zentralasien. 1914, mit Beginn des Ersten Weltkriegs, muss er seine Dokumentationsarbeit allerdings einschränken, ein Jahr später ganz einstellen.

 

1918 flieht er mit seiner Familie infolge der Russischen Revolution nach Norwegen, von dort zieht er weiter nach Großbritannien und schließlich nach Frankreich. Er kann jedoch an die früheren Erfolge nicht mehr anknüpfen und eröffnet mit seinen beiden Söhnen ein kommerzielles Fotostudio in Paris, wo er im Alter von 81 Jahren stirbt.

 

Exotismus und Industrialisierung

 

Die Aufnahmen, die sich in »Nostalgia« finden, sagen viel darüber aus, wie Prokudin-Gorskis Auftraggeber Nikolaus II. sein Land sehen wollte. Sie stellen eine idealisierte und romantisierte Natur und Landschaft dar, in die Dörfer mit Holzhäusern und orthodoxen Kirchen eingebettet sind. Man sieht traditionell gekleidete Bauern und Arbeiter eingebunden in ihre Arbeit auf dem Feld, am Fluss und im Dorf.

 

Das Leben auf dem Land wirkt still und idyllisch, allerdings auch sehr statisch. Das Starre wird auch nicht aufgehoben durch Bilder, auf denen die allmähliche Technisierung zu erkennen ist: Schifffahrt und Holzindustrie sind wichtige Wirtschaftsfaktoren, deren Ausbreitung sich auffallend harmonisch in das agrarisch dominierte, vormoderne Russland einfügt.

 

Die konfliktfreie Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart, von Landwirtschaft und Industrie, von bäuerlich-religiösem Leben und der Moderne mit all den dazu gehörenden Anforderungen an den Einzelnen stehen im krassen Widerspruch zu der explosiven Stimmung, die im Zarenreich unter Nikolaus II. herrscht. Die Niederlage der Russen im Krieg gegen die Japaner 1904/1905 und der Ausbruch der ersten Revolution infolge des Massenelends zeigen das Land eher als sehr instabiles Gebilde denn als starke und belastbare Großmacht.

 

Die negative Entwicklung geht vor allem auf den Zaren zurück, der, unerfahren und misstrauisch, glaubt, nur Gott verantwortlich zu sein, und Reformen kaum zulässt. Dass die Aufnahmen von Prokudin-Gorski in Farbe sind, macht diesen Gegensatz von Anspruch und Wirklichkeit noch anschaulicher. Ein Foto aus dem Jahr 1915 etwa zeigt eine Gruppe von Männern, die vor einer Holzhütte nahe eines Waldes stehen beziehungsweise sitzen und in die Kamera schauen.

 

Es sind österreichische Kriegsgefangene, die von Wärtern flankiert werden. Der Weltkrieg lässt keinen Anschein von Idylle zu. Die Farbfotos bewirken zudem, dass die dargestellte Epoche, die man sonst nur von Schwarzaufnahmen kennt, dem Betrachter plötzlich sehr nahe kommt. Scheinbar Altbekanntes entdeckt man so in einem neuen, fremden Licht.

 

Äußerst spannend zu untersuchen sind dabei die Bilder aus Sibirien, dem Kaukasus und Zentralasien, die etwa die Hälfte des Bandes ausmachen. Sie unterstreichen nicht nur die russische Herrschaft und damit die Europäisierung und Industrialisierung der asiatischen und orientalischen Gebiete. Zugleich befriedigen sie auch die touristisch-exotistischen Erwartungen der Zuschauer, wie sie in der Ära des westlichen Imperialismus und Kolonialismus genährt werden.

 

Kebabverkäufer, Kamelkarawanen im Schnee – und der korpulente Emir

 

Prokudin-Gorski schießt auch im Kaukasus Bilder von der Natur und Landschaft, insbesondere der Gebirge und Bergdörfer, von der subtropischen Schwarzmeerküste und der Großstadt Tiflis. Seine Fotos zeigen in Trachten gekleidete Einheimische wie Georgerinnen und Dagestaner, muslimische Geistliche und Landarbeiterinnen bei der Teeernte, russische Siedler und persische »Tataren«. Blaschke ist beizupflichten, wenn sie schreibt, dass diese Aufnahmen »nur wenig von sozialen und wirtschaftlichen Missständen« zeigen. Das Gegenteil ist der Fall. Eine üppige Vegetation und Vielfalt an Ethnien zeichnen die Fotos aus dem Kaukasus aus.

 

Harmonie soll auch hier jegliche Art von Konflikten, die nicht nur zwischen Besetzern und Besetzten, sondern vielfach auch zwischen den Einheimischen bestehen, ausblenden. Anders verhält es sich bei den Aufnahmen aus Russisch-Turkestan, dem heutigen Zentralasien. Hier ist die Armut der Menschen deutlich zu erkennen. Eher karg ist die Landschaft und verfallen sind die einst prächtigen Bauten in Buchara und Samarkand, die im Mittelalter große Zentren muslimischer Kultur und Wissenschaft waren.

 

Stärker als die Fotos aus dem Kaukasus erinnern indes die aus Turkestan an die Märchen aus Tausendundeiner Nacht: Zu sehen sind Fladenbrot- und Kebabverkäufer in bunten Gewändern, Hirten auf einsamen Bergen, zerlumpte Bettler und Wasserträger, Kamelkarawanen im Schnee, aber auch der korpulente Emir und andere Honoratioren wie seine Minister. Sie alle scheinen wie aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen.

 

Die 280 Aufnahmen, die in »Nostalgia« zusammengestellt worden sind, stellen in mehrfacher Hinsicht eine Rarität von hohem Wert dar. Sie bieten nicht nur einen facettenreichen Einblick in die letzte Phase des Zarenreiches und vermitteln zudem einen plastischen Eindruck, wie die Betrachter das Land damals sehen sollten. Sie sind als Farbbilder auch kunsthistorisch ein Solitär in der russischen Fotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

 

Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass die Restauratoren der Library of Congress, welche den Nachlass des Fotografen vier Jahre nach seinem Tod von seinen Söhnen erhielt, sich entschieden haben, Schäden auf den Farbplatten durch die digitale Restauration nicht zu tilgen, sondern sichtbar zu machen. So gewinnen die Bilder zusätzlich eine, wie Blaschke schreibt, »abstrakte Ästhetik«.

 

Der 320 Seiten umfassende Bildband bietet neben dem Vorwort zu jedem der vier Kapitel eine kurze Einführung. Ein Register listet alle Fotos einzeln mit Namen, (ungefährer) Entstehungszeit und Quelle auf. Bedauerlich ist, dass Quellenangaben beziehungsweise Nachweise zu weiterführender (Forschungs-)Literatur im Vorwort und in den »Kapiteleinsteigern« fehlen. Informationen zum Herausgeber und den beiden Autorinnen gibt es ebenfalls keine.

 

Einige sprachlich ungenaue Formulierungen sowie kleine inhaltliche Unrichtigkeiten wie, dass das Aserbaidschanische eine indogermanischen Sprache sei, sollten für eine Neuauflage korrigiert werden. Doch abgesehen von diesen editorischen Anmerkungen ist mit der digitalen Restauration und der Buchveröffentlichung von Prokudin-Gorskis Farbaufnahmen der Öffentlichkeit ein Fotoschatz zugänglich gemacht, der nicht nur Slawisten und Orientalisten neugierig machen und begeistern sollte.

Von: 
Behrang Samsami

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.