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Fahrt in die Freiheit, Fahrt in den Tod

Fahrt in die Freiheit, Fahrt in den Tod

Essay

Wer in Israel trampt, will nicht nur von A nach B kommen: Der Tramp ist Lebensgefühl und kultureller Code – bis heute. Über Fernweh, Wanderlust und Lagerfeuerlarmoyanz.

Zwei Stunden und 41 Minuten hätte die 45 Kilometer lange Fahrt gedauert. Für Gilad Shaer, Naftali Fraenkel und Eyal Yifrach eine Ewigkeit. Die drei Teenager entschieden sich folglich am 12. Juni 2014 dagegen, den Bus der Linie 164 von Gusch Etzion nach Jerusalem um 21:49 Uhr zu besteigen. Sie trampten – wie es tagein, tagaus viele junge Israelis an Straßenkreuzungen überall im Land tun. Kurze Zeit später waren die Jeschiwa-Schüler tot, ermordet von Terroristen der Hamas.

 

Die Nachricht ging um die Welt, ebenso ihre Folgen: Gewalttätige Auseinandersetzungen in Jerusalem, ein Rachemord an einem palästinensischen Jungen, eine Verhaftungswelle im Westjordanland und schließlich Israels Militärkampagne im Gaza-Streifen, genannt »Starker Felsen«. In Israel entbrannte eine Debatte über diesen Krieg. Und über das Trampen: Wie es sein könne, dass Eltern ihren minderjährigen Kindern erlauben, im Westjordanland spätabends zu trampen, fragten einige Kommentatoren.

 

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Über alle parteipolitischen Grenzen hinweg – von der linksliberalen Tageszeitung Haaretz bis hin zum konservativen Massenblatt Israel HaYom – erscholl es einträchtig: Wer in Israel trampe, der wolle nicht nur von A nach B kommen. Vielmehr sei der Tramp ein Lebensgefühl und kultureller Code des Zionismus.

 

Auf den ersten Blick mag das verwundern, schließlich gilt Israel als moderne Start-up-Nation, viel ist zu lesen vom »Silicon Wadi« und den kostenlosen Wifi-Promenaden von Tel Aviv. Jenseits der urbanen Hipster-Szene der »Weißen Stadt« hat sich jedoch ein Zeitgeist erhalten, der seinen Ursprung im Jischuw hat – also in der zionistisch-jüdischen Gemeinschaft Palästinas vor der Staatsgründung 1948 – und der von Fernweh und Wanderlust geprägt ist.

 
 

Das gilt für die israelische Siedlerjugend im Westjordanland ebenso wie für die jungen Kibbuzniks in der südlichen und nördlichen Peripherie des Landes. Zum einen haben sie keine eigenen Autos und es existiert nur ein unzureichend ausgebautes Busnetz im Land. Zum anderen gibt ihnen das Trampen ein Gefühl von Freiheit – und Nervenkitzel; etwas, das alle Jugendlichen auf der Welt begeistert.

 

Ein Mann, der dieses Gefühl bereits vor Jahrzehnten mit anthropologisch geschulten Augen und offenen Ohren wie kein anderer vor oder nach ihm erfasst und textlich zu Melodien für Millionen verarbeitet hat, war Haim »Kilometer« Hefer. Den Spitznamen brachte ihm seine schmächtige Figur ein, in etwa: ein Kilo schwer, ein Meter groß. Hefer, 1925 im schlesischen Sosnowitz geboren, wanderte im Alter von elf Jahren mit seinen Eltern nach Palästina aus und diente ab 1943 in der Palmach, jener legendenumrankten Eliteeinheit, die den Staat Israel maßgeblich miterkämpfte.

 

Während des Unabhängigkeitskriegs gründete der Sohn eines Handelsvertreters für Schokoladenprodukte die Chizbatron-Band, deren Liedtexte 1949 in seinem Erstlingswerk »Leichte Munition« erschienen. Das Buch wurde zum Bestseller. Chizbatron ist eine Wortkreation: chizbat leitet sich vom arabischen Wort für Lüge ab, kadhaba, und bezeichnet humoristische Lagerfeueranekdoten, die beim kameradschaftlichen Zusammensitzen unter freiem Himmel flunkernd erzählt wurden und die Teil des Esprit de Corps der Palmach waren.

 

Die Chizbatron-Band war eine Unterhaltungstruppe und legte den Grundstein für die zahlreichen Militärbands der israelischen Armee, die über Jahrzehnte die populärsten Sänger und Entertainer des Landes hervorbringen sollten – »Israel sucht den Superstar« in Tarnfleck.

 

Mao Zedong, Samsons Füchse – und Israels berühmtester Schlager

 

Die Idee, Chizbatron zu gründen, war Hefer im Januar 1948 durch die Lektüre »Roter Stern über China« des US-Journalisten Edgar Snow gekommen. In dessen 1937 erschienenem Reportage-Buch berichtete Snow über eine Militärkapelle, die Mao Zedong und seine Rebellenarmee über 12.500 Kilometer auf dem »Langen Marsch« begleitete – der zentrale Gründungsmythos der Kommunistischen Partei. Zum Repertoir der Chizbatron gehörten pantomimische Sketche, humoristische Anekdoten und Lieder.

 

Hefer schrieb auch den ultimativen Hit des Unabhängigkeitskriegs. Der Palmach-Poet hatte im März 1949, unmittelbar vor den Waffenstillstandsverhandlungen auf der griechischen Insel Rhodos, mit seiner Chizbatron-Gruppe den Marschbefehl gen Süden bekommen, um die kämpfende Truppe bei der Einnahme Eilats zu unterhalten. Ohne Auto. Hefer wäre niemals rechtzeitig am heutigen Touristenhotspot angekommen – und trampte in einem Jeep der Givati-Brigade, »Samsons Füchse« genannt.

 

Die offene Karosserie jener geländefähigen, motorstarken und im Feld beweglichen Jeeps symbolisierte das romantisch-maskuline Image der privilegierten Palmachniks. Auf jener Fahrt ans Rote Meer schrieb Hefer den Song »Hey, gen Süden nach Eilat«: »Der Sturm zieht hier vorüber / galoppiert auf dem Weg, / Gen Wüste trabt das Regiment. / Jeeps fliegen hier wie der Wind / der Schopf des Soldaten ist zerzaust, / hier auf dem Weg nach Eilat. / Hey, gen Süden, Hey, gen Süden, / Hey, gen Süden nach Eilat!« Ein Mythos war geboren.

 

Haim Hefer selbst erlangte durch dieses Lied Legendenstatus und zementierte seine herausragende Stellung in der israelischen Popindustrie in den folgenden Jahrzehnten mit Liedern, die den Nerv der Zeit ebenso trafen wie »Hey, gen Süden nach Eilat« – und die bis heute in den Radiostationen Kultstatus genießen. 1958 sorgte er für den nächsten Ohrwurm: »Der rote Felsen« war ein Lied über Meir Har Zion, den ultimativen in Palästina geborenen Sabra aus Ein Harod, der es fünf Jahre zuvor als Teenager mit einer Freundin geschafft hatte, die alte Nabatäerstadt Petra zu Fuß zu erkunden.

 

Meir Har Zion wurde später Elitesoldat. Mosche Dayan pries ihn als den besten Soldaten, den Israel je habt habe, und Ariel Scharon bezeichnete ihn als personifizierte Elite der Elite. Har Zions Tagebuchaufzeichnungen über die gefährliche Wanderung, die illegal gewesen war, gehören bis heute zum Bildungsprogramm vieler Elite- und Infanterieeinheiten – wenngleich aufgrund der nationalistisch-militaristischen Weltanschauung, für die Har Zion stand, gegenwärtig darüber diskutiert wird, ob es nicht bessere Helden für die israelische Jugend gibt.

 

Autostopp mit Botschaft: Wer trampt, symbolisiert seinen Anspruch auf das Land

 

In den späten 1950er Jahren jedoch war er unumstritten der primus inter pares des zionistischen Nachwuchses. Er verkörperte den »alten« Pioniergeist des Jischuw, den bereits damals viele – zumal Anhänger des revisionistischen Zionismus – für verloren hielten. Man warnte vor einer Verwestlichung und Verweichlichung der Jugend, die in Tel Aviv zur Jeunesse dorée heranwachse – jenem urbanen Sündenpfuhl, dem der Dichter Avigdor ha-Meiri bereits 1927 attestiert hatte, an »Morbus Gasosi« zu leiden, womit er auf »Gasos« anspielte: Sodawasser mit Fruchtgeschmack.

 

Mehr als ein Dutzend Jugendliche versuchten auf Meir Har Zions Pfaden im Haschemitischen Königreich Jordanien zu wandern. Nur einer kehrte lebend zurück. Die Regierung unter Staatsgründer David Ben-Gurion verbot deshalb schließlich Hefers Song »Der rote Felsen«: »Auf der anderen Seite der Berge und der Wüste / so erzählen es die Geschichten, da ist ein Ort, / von dem noch kein Mensch lebend zurückgekehrt ist, / und der heißt roter Felsen / Ho, der rote, der rote Felsen. / Drei zogen mit dem Sonnenuntergang auf den Weg hinaus, / den glühend roten Bergen entgegen, / ein alter Traum, eine Karte und eine Wasserflasche, / nahmen sie mit zum roten Felsen / Ho, der rote, rote Felsen.«

 

Das Verbot verfehlte seine Wirkung komplett. Aryeh »Arik« Lavie, ein im thüringischen Erfurt geborenen Schlagerstar jener Jahre, sang Hefers Lied mit solchen Charme, dass es, wie zehn Jahre zuvor »Hey, gen Süden nach Eilat«, zum Hit wurde. Mit dem Sieg im Sechstagekrieg 1967 eroberte Israel riesige Gebiete: das Westjordanland, den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel und die Golanhöhen. Levi Eschkol, damals Ministerpräsident, war überwältigt von der Weite des besetzten syrischen Hochplateaus. »Genau wie in der Ukraine!«, rief er begeistert bei seinem ersten Besuch im Golan aus.

 

Noch populärer wurde aber der Sinai: Jeden Frühling und Herbst, zur Zeit der jüdischen Feiertage, bahnten sich von nun an lange Autokolonnen ihren Weg auf die Halbinsel, ein Gebiet mehr als drei Mal so groß wie Israel bei seiner Staatsgründung. Strandurlaube zwischen den Basthütten von Dahab und im Taucherparadies der Dardawill-Lagune, Wadi-Wanderungen unweit der Gartenstadt Jamit und Casino-Abende im Hilton-Hotel von Taba – wer auf der Halbinsel reisen wollte, aber kein eigenes Auto besaß, der trampte: hop on, hop off in der Wüste, von einem Militäraußenposten zum anderen, von einer Siedlung zur nächsten.

 

Die Siedler in »Alt-Neuland« personifizierten in den Augen der Altvorderen den zionistischen Zeitgeist. Ihre oftmals über Nacht und illegal errichteten Siedlungen galten als Ausdruck des Spirit des Jischuw und der brothers in arms der Palmach: ein Hauptgrund für die jahrzehntelange Unterstützung der Siedlerbewegung durch das säkulare Establishment, deren eigene, prägende Jugendjahre in die Zeit der Staatsgründung gefallen und die im Geiste der Illegalität groß geworden waren. Die Siedler »siedelten in den Herzen«, wie es der israelische Historiker Michael Feige prägnant ausgedrückt hat.

 

Den Traum von der Wildnis leben – allen Verboten zum Trotz

 

Von den barfüßige Soldatinnen in lauschigen Obstgärten und dem auf offenem Feuer gegrillten frischen Fisch der Sinai-Siedlungen, welche die Grande Dame der israelischen Popmusik, Naomi Schemer, besungen hat, ist nach dem Camp-David-Vertrag freilich nichts mehr geblieben. Auf dem Sinai als Israeli zu reisen, ist heute de facto nicht mehr möglich, ebenso wenig wie im Gazastreifen; im Westjordanland und auf den Golanhöhen indes schon.

 

Für viele Jugendliche ist es eine rite de passage, eine Mutprobe zumal, für national-religiös erzogene Israelis gar ein politisches Zeichen: Wer trampt, so lautet die Botschaft, der hat keine Angst, sich in seinem eigenen, von Gott versprochenen Land frei zu bewegen. Haim Hefer und Meir Har Zion sind tot, das von ihnen verkörperte Lebensgefühl nicht. Jedes Kind in Israel kennt die beiden.

 

Als Hefer 2012 starb, verfiel selbst Gideon Levy, ein pazifistischer Journalist, der von vielen in Israel angefeindet wird, in Lagerfeuerlarmoyanz. In einem bis dato einzigartig sentimentalen Gefühlsausbruch teilte er mit den Lesern der Haaretz fast liebevoll Erinnerungen an seine Kindheit und Hefers Lieder, die er vor dem Schlafengehen gemeinsam mit seinem Bruder im Schlafanzug gesungen habe. Wie in den 1950er Jahren versucht der Staat auch heute, mit Gesetzen gegen unliebsame Phänomene vorzugehen.

 

Einst waren es Wanderungen jenseits der Grenze in Jordanien, bereits seit 20 Jahren ist es das Trampen. Im Zuge der Ersten Intifada kam es immer wieder zu Entführungen von Soldaten, auch zu Vergewaltigungen, weshalb die Armee 1994 das Trampen offiziell verbot und seither Militärpolizei in ziviler Streife die bekannten Kreuzungen anfährt, um »Trampistim« in Uniform dabei zu erwischen, wie sie per Anhalter durch das Land fahren.

 

In der Praxis hat dieses Verbot indes nicht viel geändert. Das zionistische Ethos lässt sich nicht durch Dekrete einmotten, zumal zentrale Texte der israelischen Popkultur bis heute ebenjenes Ethos propagieren: Herren des Landes zu sein, nachts über verwaiste Landstraßen zu trampen, die mit dem Zuckerguss der nationalstaatlichen Moderne überzogene Flora und Fauna zu erkunden – all das besitzt immer noch eine magische Anziehungskraft auf viele israelische Jugendliche.

 

Der Tramp bleibt für viele eine Fahrt in die Freiheit. Haim Hefer hat die Zeilen für ebenjenen Zeitgeist geschrieben: »Die Wege werden Dich leiten, / bevor die Nacht kommt / Geh, mein Bruder, geh voran in die Wüste / Wieder und wieder werden wir zurückkehren, / die Felsen werden es laut ausrufen, / ein großes Sonnenlicht / wird über uns scheinen. / Gen Wüste, / Land ohne Wasser, / Ach, Du, meine Erde, / wir sind zu Dir zurückgekehrt.« Der renommierte Kunsthistoriker Simon Schama hat über den »Traum von der Wildnis« geschrieben: »Bevor die Landschaft je ein Refugium für die Sinne werden kann, ist sie schon das Werk des Geistes.« Die Werke von Haim Hefer und anderen sind der beste Beweis.

Von: 
Dominik Peters

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