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EU-Richtlinien und Israels Siedlungspolitik

Recht geht vor Gewohnheit

Kommentar

Beugt sich die Bundesregierung dem israelischen Druck und stellt sich gegen die EU-Richtlinien zu Projekten in den palästinensischen Gebieten? Wer Völkerrecht nicht anwendet, schafft es ab, meint Botschafter a.D. Gerhard Fulda.

Eine neue EU-Richtlinie zur Zusammenarbeit mit Israel erhitzt die Gemüter. Demnach sollen für Israel bestimmte europäische Fördergelder nicht mehr Projekten in den besetzten palästinensischen Gebieten zugute kommen. Die Befürworter einer stringent durchgezogenen EU-Linie gratulieren, während Philipp Mißfelder erklärt: »Es ist zu begrüßen, dass sich die Bundesregierung von den EU-Leitlinien distanziert, nach denen ab 1. Januar keine israelischen Projekte im Westjordanland, im Gazastreifen, in Ostjerusalem und auf den Golanhöhen finanziert werden sollen.«

 

Bei diesen Leitlinien, so Mißfelder, »handelt es nicht um objektive Erfordernisse, sondern um reine Ideologie und Symbolpolitik.« Pech nur für den außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, dass er anscheinend mehr weiß als die Bundesregierung selbst. Diese hatte lediglich darauf verwiesen, dass die Kommission im Rahmen ihrer Zuständigkeit gehandelt hat. Eine Distanzierung von der Substanz der Förderrichtlinien ist das aber noch lange nicht.

 

Tatsächlich ist diese Richtlinie nur auf Projekte der europäisch-israelischen Zusammenarbeit anwendbar, die aus dem EU-Haushalt finanziert werden. Es geht dabei nicht um die bilaterale Zusammenarbeit, zum Beispiel zwischen Deutschland und Israel. Es geht auch nicht um die Frage von Einfuhrzöllen für Produkte aus den Siedlungen in den seit 1967 besetzten und teilweise von Israel annektierten Gebieten.

 

Die widerstreitenden Reaktionen von Bundesregierung und CDU/CSU-Fraktion haben aber auch ihr Gutes und zeigen: Das Völkerrecht weckt Emotionen. Von vielen in die Ecke gestellt – in der es auch bleiben soll – wenn so genannte realpolitische Interessen ohne rechtliche Beschränkungen durchgesetzt werden sollen, löst jetzt schon die bloße Ankündigung seiner  tatsächlichen Anwendung Angst aus – oder Freude.

 

Bisher konnte die israelische Regierung gut mit den völkerrechtlichen Positionen der Europäer leben

 

Dennoch, diese Entscheidung war längst überfällig. Sie beendet eine jahrzehntelange Schizophrenie der europäischen Nahostpolitik. Immer wieder hatte die EU ihren dem Völkerrecht entsprechenden Standpunkt bekräftigt, dass die besetzten Gebiete in Palästina nicht als Teile des souveränen Staates Israel betrachtet werden dürften – auch nicht die von Israel annektierten Gebiete Ostjerusalems und der Golanhöhen.

 

Trotzdem flossen Gelder in beträchtlicher Höhe nach Israel und landeten – von der EU nicht kontrolliert – direkt und indirekt in Projekte, die den illegalen Siedlungs- und weiteren Ausbau begünstigten. Bisher konnte die israelische Regierung gut mit den völkerrechtlichen Positionen der Europäer leben. Solange der schriftliche Protest nur auf den hintersten Seiten ellenlanger Entschließungen des Europäischen Rats versteckt war, fand er selten den Weg in die Öffentlichkeit.

 

Die Europäer mochten immer wieder beklagen, dass die völkerrechtswidrig vorangetriebene israelische Besiedlung des Westjordanlandes massiv den Friedensprozess behindere. Die israelische Regierung aber konnte trotzdem frei über die Geldmittel verfügen und finanzierte damit Maßnahmen zur Verhinderung der Zwei-Staaten-Lösung.

 

Half Kerrys Frust bei der Entscheidung nach?

 

Ehemalige europäische Staats- und Ministerpräsidenten, Außenminister und hochrangige Diplomaten hatten immer wieder gefordert, dass die Bundesregierung und die EU ihren Worten Taten folgen lassen müssten. Jetzt scheint es soweit zu sein. Vielleicht hat auch der Frust von US-Außenminister John Kerry im Zuge seiner jüngsten Shuttle-Diplomatie etwas nachgeholfen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will sich einem »ausländischen Diktat« nicht beugen.

 

Die Siedlerbewegung, so heißt es in den Medien, »schäumt«. Der Zentralrat der Juden in Deutschland lässt durch seinen Präsidenten Dieter Graumann mitteilen, die EU sei »ungerecht und habe wohl nichts Besseres zu tun«. Das Völkerrecht hat eine unangenehme Eigenschaft: Auch vertraglich vereinbarte und schriftlich festgehaltene Verträge können durch Gewohnheitsrecht obsolet werden. Wer Völkerrecht nicht anwendet, schafft es ab.

Von: 
Gerhard Fulda

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