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Ein Universum aus Straßenstühlen

Ein Universum aus Straßenstühlen

Feature

Über Jahre hinweg sind zwei Kairoer durch Ägyptens Hauptstadt gestreift, um Straßenstühle zu fotografieren. Entstanden ist ein einfühlsames Buchportrait einer Stadt im Umbruch. Eine Crowdfunding-Kampagne soll nun den Druck ermöglichen.

Der Weg durch die aufgeregten Straßen Kairos ist selten eintönig oder gar beschaulich. Meist gleicht er eher einem Hindernislauf und nicht selten sieht man sich plötzlich unerklärlich platzierten Gegenständen am Straßenrand gegenüber, die wie eine bizarre Installation im öffentlichen Raum anmuten. Oft stellen sich diese Gegenstände als Stühle und Sitzgelegenheiten heraus, in allen Formen und Zuständen – auf den ersten Blick bereit für den Sperrmüll, auf den zweiten Blick aber trickreich und weit über die ihnen zugedachte Lebensdauer hinaus repariert, verändert und individuellen Bedürfnissen angepasst. »Kreative Designpraktiken« nennen Manar Moursi und David Puig das, aus wenig viel machen, mit unerwarteten und ausgefallenen Ideen und Mitteln. Für Moursi und Puig sind die Straßenstühle so etwas wie ein Wahrzeichen Kairos und erzählen die Stadt mit all ihren verschiedenen Bedeutungsebenen wie kaum ein anderes Objekt. Inmitten der politischen und wirtschaftlichen Unruhen haben die beiden in den letzten vier Jahren über 2.000 Polaroid-Fotos von solchen Sitzmöbeln in den verschiedensten Vierteln Kairos geschossen.

 

Eine sorgfältig kuratierte Auswahl dieser Fotos ergänzt durch Interviews, Essays und literarische Texte stellen die beiden nun in ihrem geplanten Buch »Sidewalk Salon: 1001 Street Chairs of Cairo« vor. Nur die Mittel für den Druck fehlen noch – dem soll eine Kampagne auf der Crowdfunding-Plattform Indiegogo Abhilfe schaffen. Es ist noch früh für Kairo, als wir uns treffen, nur der Pförtner sitzt schon auf seinem Stuhl vor dem Haus und beobachtet Passanten und Nachbarn. Manar Moursi, eine junge Architektin und Designerin mit einem besonderen Interesse am Urbanen, nippt am grünen Tee und schiebt die Brille zurecht, bevor sie lossprudelt.

 

»Ich lasse mich gern von alltäglichen, banalen Objekten auf der Straße inspirieren, Ausrangiertes, oder Dinge, die leicht übersehen werden. Ich versuche sie neu zu konfigurieren, zu neuem Leben zu erwecken, einem anderen Zweck zu widmen.« Einige ihrer Kreationen sind in der Wohnung verteilt, Möbel aus Palmfaserkisten, die in Ägypten überall für Gemüse verwendet werden. Zuletzt war sie Teil eines Kunstprojektes im öffentlichen Raum, das sich dem Geschichtenerzählen widmete. Das Buch der 1001 Straßenstühle verbindet all ihre Interessen.

 

Es ist ein Herzensprojekt. Das Buch ist ein langer Prozess. Am Anfang standen ausgedehnte Entdeckungstouren. »Wir waren zuerst einfach nur daran interessiert, diese allgegenwärtigen Stühle, oder besser, Sitzkreationen, als Objekte fotografisch zu dokumentieren. Für mich als Ausländer ging es auch darum, die Stadt kennen zu lernen«, erklärt David Puig, der im diplomatischen Dienst für die Dominikanische Republik seit 2010 in Kairo lebt und sich als Verleger eines kleinen Verlags für Kunstbücher in der Dominikanischen Republik schon lange dem Medium Buch verschrieben hat.

 

Sie entschlossen sich früh, eine Polaroid-Kamera zu verwenden. Zu glatt schienen Aufnahmen mit einer digitalen Kamera, die grobe Qualität der Polaroids korrespondiert besser mit der Erscheinung der Stühle. »Außerdem half es enorm, eine Verbindung zu den Leuten herzustellen. Wir mochten, wie fasziniert sie von den Sofort-Fotos waren, selbst fotografiert werden wollten. Mit diesen Kameras kann man nicht zoomen, man muss nah ran gehen und so kommt man sofort in Kontakt mit den Leuten. Wir arbeiteten völlig analog, ohne GPS. Wir haben das GeoTagging manuell erstellt, das heißt wir haben die Fotos nummeriert und dann die Nummer des jeweiligen Stuhls auf einer ausgedruckten Karte eingetragen. Die Polaroids halfen als tatsächliches physisches Objekt auch dabei, besser zu begreifen, wo diese Objekte im größeren Kontext der Stadt waren.«

 

Vom kreativen Objekt zum Überwachungssystem

 

»Das mochten wir«, bestätigt Puig. »Uns war aber schnell klar, dass mit den Stühlen noch ganz andere Ebenen verbunden sind. Nicht nur, dass jeder Stuhl eine eigene Geschichte hat, womöglich durch die Stadt gewandert ist, verschiedene Transformationen durchlief, einen Besitzer hat. Zunächst ist da die Designebene, die aus Notwendigkeit geborene Recyclingkultur und Kreativität der Leute, dann die menschliche Dimension mit all ihren Geschichten.

 

Die dritte Ebene aber ist eher eine Annäherung an die Stadt unter urbanistischen Gesichtspunkten, die uns erlaubte, die komplexe und oft sehr schwierige und ungleiche sozio-ökonomische Landschaft zu hinterfragen und zu erkunden, und die Frage von öffentlichem und privatem Raum und Vereinnahmung, die damit zusammen hängt.« »Beispielsweise wie jemand sich ein Nest auf dem Gehsteig mit so einem Stuhl baut, diese menschliche Komponente des Hausens«, ergänzt Moursi, und Puig nickt bekräftigend. Oft beendet einer nahtlos den Satz des anderen.

 

Vier Jahre gemeinsamer Entdeckungstouren in Kairo und die geteilte Leidenschaft für das Projekt haben Spuren hinterlassen. Und natürlich spielte auch die Politik immer wieder eine große Rolle in den Gesprächen mit den Besitzern. Das Wort für Stuhl, »kursi« hat im Arabischen auch die Konnotation von Präsidentensitz. »Als wir 2011 anfingen, war es sozusagen Teil der Interviews, dass Leute aus unterschiedlichsten Herkünften und Kontexten ihre Meinung zur Hierarchie und der Beziehung zwischen dem Herrscherstuhl und ihrem kund taten.«

 

Moursi denkt kurz nach und spricht dann weiter. »Für mich war in diesen Gesprächen auch der Aspekt des Beobachtens und beobachtet Werdens sehr spannend. Was bedeutet das für eine Frau oder einen Mann unter genderspezifischen Gesichtspunkten, dass jeder alles über dich weiß und diese Geschichten auf einer horizontalen Ebene weitererzählt werden, sozusagen von Stuhl zu Stuhl. Wir haben versucht hier Antworten auf die Frage zu provozieren, was die Leute über diese sehr paternalistischen Überwachungsmechanismen denken, die sich ja in der Politik fortsetzen.«

 

Viele sehr persönliche Meinungen und Geschichten haben sie auf diese Weise gesammelt, und mit ihnen ein Stück Geschichte Kairos. »Jemand, der an der selben Stelle für 50 Jahre gesessen hat, ist so eine Art Lokalhistoriker«, erklärt Puig. »Er kann dir alles darüber erzählen, was in dieser Straße geschehen ist, und welche Veränderungen auf der lokalpolitischen Ebene passiert sind. Es sind Leute, die im wahrsten Sinne des Wortes ein räumliches Gedächtnis haben.«

 

Anregung für eigene Entdeckungstouren

 

Das Ergebnis liegt als Prototyp vor mir auf dem Tisch, es sieht schön aus, ein intimes Portrait der Stadt und ihrer Bewohner. Es hat verschiedene, wohl durchdachte Kapitel – thematische Serien und exemplarische Spaziergänge, die den Arbeitsprozess dokumentieren, anschaulich gemacht durch ausfaltbare, selbst hergestellte Karten. Ein Anliegen der beiden war, die Vielfalt Kairos zu zeigen, und da man viele Viertel der schnell und rhyzomatisch wachsenden Megastadt auf den gebräuchlichen Stadtkarten gar nicht findet, mussten sie Karten selbst zeichnen.

 

Befreundete Architekten und Designer halfen, die auch für die Crowdfunding-Kampagne beispielsweise Taschen und Zeichnungen entworfen hatten. Neben den Bildern und Karten findet man zweisprachige Interviews mit Stuhlbesitzern und Beiträge von zeitgenössischen Autoren wie Yasser Abd El Latif, Taher al Sharqawy, Maged Zaher, Mohamed Al Fakhrani und Amira Hanafy,  jeweils inspiriert von einem bestimmten Bild oder einem bestimmten Stuhl.

 

Auf meine Frage, ob Moursi und Puig über Stuhl-Stadtführungen nachgedacht haben, tauschen sie einen kurzen Blick und lachen. »Wir haben tatsächlich darüber nachgedacht, und etliche Freunde haben uns schon begleitet. Aber wir denken, dass Leute durch das Buch vielleicht Lust bekommen, auf eigene Faust los zu laufen und zu entdecken. Uns gefällt die Idee, dass wir Leute dazu inspirieren können, alltägliches Leben, bestimmte Objekte, ihre Stadt mit neuen Augen zu sehen, und sich Geschichten dazu auszudenken oder zu sammeln.« Wenn genügend Geld durch das Crowdfunding zusammenkommt, denken sie auch über eine Ausstellung und interaktive Webseite nach. Doch erst mal muss der Buchdruck finanziert werden, damit das Buch im Sommer 2015 erscheinen kann. 

Von: 
Sara-Duana Meyer

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