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Die Verbindung von Gaza und Westjordanland

Aufbau durch Einheit

Kommentar

Eine enorme Anstrengung der internationalen Gemeinschaft wird notwendig sein, um die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen zu beenden und künftig zu verhindern. Dafür muss die Verbindung von Gaza und Westjordanland wieder gestärkt werden.

Der letzte Tag der Waffenruhe zwischen Israel, Hamas und Islamischem Dschihad ist angebrochen. Ob sie verlängert wird oder nicht ist noch gänzlich unklar. Aber die Verschnaufpause hat den Menschen in Gaza erstmals seit vier Wochen die Gelegenheit gegeben, über die Zukunft nachzudenken und nicht nur über das unmittelbare Überleben. Die nächsten Monate und Jahre sehen ohne massive internationale Unterstützung düster aus. Mohammed Mustafa, stellvertretender Premierminister der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), schätzte die Kosten der Zerstörung auf sechs Milliarden US-Dollar.

 

Auf der Webseite der israelischen Zeitung Haaretz sind atemberaubende vergleichende Satellitenaufnahmen zu sehen, die das Ausmaß der Zerstörung in Gaza zeigen. 10.000 Wohnungen wurden komplett zerstört, 30.000 beschädigt. 140 Schulen wurden zerstört oder beschädigt, ebenso wie 17 Krankenhäuser, 134 Fabriken, zahlreiche Moscheen und auch Kirchen. Das einzige Kraftwerk wurde zerstört und zahlreiche Wasserpumpstationen getroffen. Nach dem Gaza-Krieg 2008/2009 wurde eine internationale Geberkonferenz im ägyptischen Sharm El Sheikh einberufen.

 

Dort wurden fast fünf Milliarden US-Dollar zugesagt. Viele dieser Gelder schafften es jedoch nie nach Gaza. Vor allem großzügige Zusagen der Golfstaaten entpuppten sich als halbleere Versprechen. Aber auch die Zusagen der USA und europäischer Staaten konnten nur äußerst schleppend umgesetzt werden.

 

Denn: Für alle Infrastrukturprojekte in Gaza pocht Israel auf strenge Kontrollen. Der Verwendungszweck aller Materialien muss sehr genau gegenüber den israelischen Behörden vor der Genehmigungserteilung dokumentiert werden. (Diese Tatsache macht Behauptungen aus manchen Kreisen, Mittel und Materialen internationaler Geber seien in Gaza für den Tunnelbau der Hamas missbraucht worden, umso unglaubwürdiger.) Oft wurden Materialien nicht nach Gaza hineingelassen, so dass Projekte monatelang ruhten.

 

Der Wiederaufbauprozess könnte dieses Mal ohne großen internationalen Druck noch viel schwieriger verlaufen. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hat verlautbaren lassen, den Wiederaufbau Gazas nur im Gegenzug für eine Demilitarisierung ermöglichen zu wollen. Das wäre ein Affront gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen Israels. Denn, nach Auffassung der UN, des Roten Kreuzes, sowie zahlreicher internationaler, israelischer und palästinensischer Menschenrechtsorganisationen, ist der Gazastreifen durch die effektive Kontrolle Israels weiterhin als besetztes Gebiet zu klassifizieren – und die Bereitstellung der humanitären Versorgung liegt somit weiterhin in Israels Verantwortung.

 

Die internationale Gemeinschaft muss nun insistieren, dass Demilitarisierung nicht eine Voraussetzung für den Wiederaufbau sein darf. Der Wiederaufbau und die humanitäre Versorgung müssen unabhängig von Verhandlungen um eine dauerhafte Lösung ermöglicht werden. Schnell und ohne Vorbedingungen müssen überlebensnotwendige Medikamente, Wasser, Nahrungsmittel und Ersatzteile nach Gaza hineingelassen werden.

 

Die internationale Gemeinschaft, allen voran die USA und die EU, die während des massiven Angriffs auf Gaza in den vergangenen vier Wochen beschämend still blieben, müssen nun umso lauter auf einen schnellen Wiederaufbau Gazas und die Aufhebung der Blockade des kleinen Küstenstreifens drängen. In einer konzertierten internationalen Reaktion muss die moderate Einheitsregierung der PA die zentrale Rolle spielen, damit die Hamas sich nicht eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in Gaza als Sieg zuschreiben kann.

 

Nur eine Lösung für ganz Palästina ist eine Lösung für Gaza

 

Im Rahmen des Wiederaufbaus und der Öffnung der Grenzen sollte das Gewaltmonopol in Gaza wieder an die PA-Regierung gehen. Von zentraler Bedeutung sind daher die Vereinigung mit dem Westjordanland und die Übertragung der Sicherheitskooperation mit Israel auf den Gazastreifen. Wohlgemerkt darf diese Sicherheitskooperation von der PA zukünftig nicht wieder als Vorwand für Unterdrückung von gewaltlosen Protesten gegen die Besatzung und von Demonstrationen gegen Korruption und Fehlverhalten der PA oder gar die Ausschaltung von politischen Rivalen missbraucht werden.

 

Die PA muss friedlichen, politischen Wettbewerb zulassen und baldige freie und faire Wahlen ermöglichen. Im Rahmen dieser Vereinigung sollte eine dauerhafte, durch internationale Aufsicht gesicherte, Verbindung zwischen Westjordanland und Gazastreifen geschaffen und Personen- und Güterverkehr ermöglicht werden. Die am Boden liegende Wirtschaft in Gaza muss wieder wachsen und exportieren dürfen – ins Westjordanland, nach Israel und in die Welt. Dieser Ansatz wird der rechten israelischen Regierung nicht gefallen.

 

Schließlich versucht sie doch schon seit Langem, das »demographische Problem Gaza« an Ägypten loszuwerden, um sich eine Annexion des Westjordanlands (oder zumindest eine ewige Beibehaltung der »temporären« Besatzung) offenzuhalten. Werden Gaza und Westjordanland als ein zusammengehörendes Gebiet betrachtet, verschiebt sich die demographische Balance zu Ungunsten eines jüdischen Groß-Israels. Dies erklärt, warum Außenminister Avigdor Lieberman Gaza lieber der UN unterstellen möchte (deren Vertreter er vor einigen Monaten noch als Gehilfen für die Hamas bezeichnet hatte) als der PA unter Mahmud Abbas im Westjordanland.

 

Dieser, so Liebermans altes Lied, sei kein Partner für den Frieden. Auf solche Vorstöße sollte sich die internationale Gemeinschaft überhaupt nicht einlassen. So lange die Staatengemeinschaft insistiert, dass Gaza und Westjordanland zusammengehören, wird die Hemmschwelle der Annexion hoch sein. Je mehr die Verbindung zwischen den beiden Gebieten gestärkt wird, desto besser stehen die Chancen für eine Zwei-Staaten-Lösung. Diese mag zwar nicht im Interesse der regierenden israelischen Rechten sein; sie ist aber im Interesse des Friedens zwischen Israelis und Palästinensern.


Jakob Rieken ist Programm-Manager bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ost-Jerusalem. Der Artikel stellt die persönliche Meinung des Autors dar und spiegelt nicht grundsätzlich die Meinung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.

Von: 
Jakob Rieken

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