»Memory of Trees«: Ein subtiler und zugleich unter die Haut gehender Bildband erinnert an ein Ereignis, das seine dunklen Schatten bis ins Jahr 2015 wirft – den armenischen Völkermord.
»Es ist nicht einfach. Es ist eine Geschichte von hundert Jahren«, ist diesem Buch als Motto vorangestellt. Ohne weiteres kann man sich vorstellen, wie oft Kathryn Cook diesen Gedanken gewendet haben mag im Verlauf ihrer Arbeit an »Memory of Trees«. Wie findet man als Fotografin, nach fast einem Jahrhundert, Bilder für die Ermordung vieler hunderttausend Menschen innerhalb weniger Monate? Wie zeigt man etwas, das nicht mehr vorhanden ist, nachdem eine gesamte Kultur praktisch ausgelöscht wurde? Wie wird man dem gerecht, was dieser Völkermord im Gedächtnis der Überlebenden und ihrer Nachkommen hinterlassen hat?
Schätzungen zu den Opferzahlen des armenischen Völkermords, der von der osmanischen Führung im Ersten Weltkrieg organisiert wurde, reichen bis zu 1,5 Millionen Menschen oder mehr. Von der Türkei bestritten und von den Armeniern tief verinnerlicht, ist die »Katastrophe« (»Aghet«) seit etwa eineinhalb Jahrzehnten Gegenstand einer mit neuer Schärfe entbrannten historiographischen und politischen Auseinandersetzung. Diese dürfte in den nächsten Monaten noch einmal in den Fokus der Öffentlichkeit rücken: Am 24. April 2015 jährt sich der Beginn des Massenmords zum hundertsten Mal.
Memory of Trees
Kathryn Cook
Texte von François Cheval, Karin Karakaslı, Kathryn Cook
Kehrer Verlag, 2014
159 Seiten, 70 Abbildungen, 39,90 Euro
Was kann eine Fotografin vor diesem Hintergrund leisten? Kathryn Cook hat sich für ihr Projekt Zeit genommen: Sieben Jahre lang reiste die 1979 geborene Amerikanerin immer wieder durch die Türkei, Armenien und sogar Syrien und den Libanon, bis hinunter nach Jerusalem. Sie ist den Spuren der Deportationsmärsche gefolgt und hat die ehemaligen Zentren armenischer Kultur in Anatolien besucht – deren meiste Hinterlassenschaften planmäßig oder durch den Zahn der Zeit beseitigt wurden. Was – und wer – noch zu finden ist, befindet sich fast immer im Zustand des Ruinösen, Fragmentarischen, Ambivalenten oder Verborgenen.
Ohnehin hat Cooks Projekt aber keinen dokumentarischen Charakter. Oder doch: Sie zeigt ein Land, das die Erinnerung an Leben und Sterben der Armenier bewahrt hat – in seinen Winkeln und Weiten, in seinen Wurzeln und Blättern, in seiner Krume und in seinen Steinen. Etwa die Maulbeerbäume in dem ehemals armenischen Dorf Agacli westlich von Diyarbakir, die vor 100 Jahren zur Zucht von Seidenraupen benutzt wurden.
Vor ein paar Jahren haben die heutigen kurdischen Dorfbewohner die Tradition wiederbelebt – für Cook ein zentrales Bild: »Seide ist wieder im Webstuhl, die Seidenraupe ist wieder an den Blättern, die Äste strecken sich wieder gen Himmel, in sich die Asche derjenigen bergend, die sie einst kultivierten.« Die Erinnerung von Bäumen. Dieser möglicherweise etwas esoterische, auf jeden Fall aber sehr persönliche Zugang zeigt sich auch in Kathryn Cooks Bildern. Die setzen auf das subtil Expressive. »Memory of Trees« ist in seiner Ästhetik zurückgenommen, fast zart. Kleiner als erwartet – das Format umfasst etwa eine DIN-A5-Seite –, ist der Band in der Anordnung zugleich hochkomplex. Aufnahmen in Farbe, in Schwarzweiß, in verschiedenen Formaten wechseln sich ab, ohne dass dies je unharmonisch wirken würde.
Sie zeigen die Nachkommen von Armeniern, die den Völkermord überlebt haben, Landschaften, Kirchenruinen und andere Erinnerungsorte. Eine zusammenhängende Geschichte ergibt sich dabei nicht. Im Gegenteil, schafft die Fotografin selbst immer wieder Distanz. Viele Aufnahmen sind unscharf, insbesondere die Gesichter, die zu zeitlosen Fratzen werden. Selten sieht man ein Motiv in Gänze, irgendetwas verstellt stets den Blick – Blätter, Gebäude, Lichtreflexe oder einfach Dunkelheit.
Die erscheint in manchen Bildern endlos, kulminierend in einer Aufnahme vom Schwarzen Meer, wo 1915 zahlreiche Armenier ertränkt wurden. Die Szene wird geradezu verschluckt von Schwärze. Das Grauen ergibt sich nicht aus den Bildern, sondern aus dem Wissen um den Kontext. Somit verschafft dieser fotografische Essay weniger neue Erkenntnisse, als dass er eine emotionale visuelle Perspektive für ein dunkles Kapitel der Geschichte findet. Die Bildinformationen sind spärlich, Hintergrundinformationen werden kaum vermittelt; zwei abschließende Essays schneiden jeweils interessante Punkte an, sind insgesamt jedoch keine Stärke des Buches. Kathryn Cooks Bilder aber gehen unter die Haut.