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Befürchtungen vor einer Dritten Intifada

Den Nerv getroffen

Kommentar

Nach Zusammenstößen im Westjordanland wachsen die Befürchtungen vor einer Dritten Intifada. Dabei setzen die Palästinenser eigentlich ganz bewusst auf eine Strategie des gewaltlosen Widerstands und zivilen Ungehorsams, meint Ingrid Ross.

Dutzende Palästinenser sind am Wochenende nach einer Solidaritätskundgebung mit dem hungerstreikenden Gefangenen Samer Issawi bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit dem israelischen Militär verletzt worden. Der plötzliche Herztod des Gefangenen Arafat Jaradat aus Hebron am Samstag, der eine Woche zuvor festgenommen worden war, goss zusätzlich Öl ins Feuer. Auch im Norden des Westjordanlandes, in Qusra nahe Nablus, gerieten palästinensische Anwohner, israelische Siedler und das israelische Militär aneinander. Israel rief die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) zur Beruhigung der Lage auf und kündigte die Überweisung eingefrorener Gelder der PA an.

 

Auseinandersetzungen sind in der von Israel besetzten Westbank an der Tagesordnung. Ob regelmäßige Freitagsdemonstrationen gegen den Verlauf der israelischen Sperranlage, wie in dem Oscar-nominierten Film »Five Broken Cameras« dokumentiert, oder Solidaritätskundgebungen mit Hungerstreikenden vor dem berüchtigten Ofer-Gefängnis nahe Ramallah – die von den Palästinensern als Formen des gewaltlosen Widerstands bezeichneten Aktionen eskalieren regelmäßig zu Gefechten, in denen Palästinenser Steine werfen und das israelische Militär mit dem Einsatz von Tränengas, Blendgranaten und Gummi-ummantelten Stahlgeschossen versucht, Versammlungen aufzulösen.

 

Den übermäßigen Einsatz dieser Maßnahmen, im Englischen als »crowd control« bezeichnet, hat jüngst die israelische Menschenrechtsorganisation B'tselem in einem Bericht scharf kritisiert. Dass die Spannungen in den letzten Monaten eine neue Qualität erreicht haben, zeigt allein ein Blick in die Statistik: Seit der Eskalation zwischen dem Gazastreifen und Israel im November 2012 sind Angaben der UN zufolge etwa 1.500 Palästinenser in der Westbank verletzt worden.

 

Kampf um die B- und C-Gebiete

 

Der gewaltlose Widerstand hatte seit Januar eine neue Form genommen, die an Aktionen der Occupy-Bewegung(en) erinnert. Die Errichtung von Zeltlagern auf strategisch wichtigem palästinensischen Grund und Boden im Westjordanland nahm mit »Bab al-Schams« am östlichen Standrand außerhalb Jerusalems den Anfang. Die israelische Regierung hatte nach der Aufwertung Palästinas zum Beobachterstaat in den Vereinten Nationen beschlossen, die Entwicklung des strategisch wichtigen E1-Gebiets östlich Jerusalems zur Bebauung voranzutreiben. Die internationale Staatengemeinschaft reagierte auf die Entscheidung Netanjahus mit den schärfsten Verurteilungen des diplomatischen Repertoires.

 

Die Palästinenser errichteten aus Protest auf selbigem Gebiet eine Zeltstadt und nannten sie »Bab al-Schams – Tor der Sonne«. Die Aktion  wurde von der Palästinensischen Autonomiebehörde geduldet, wenn nicht gar unterstützt, und medial professionell inszeniert. In der Folge entstanden im Westjordanland weitere symbolische Dörfer wie »Bab al-Karameh – Tor der Würde« oder »Bab al-Qamar – Tor des Mondes«. Die Zeltstädte und Sit-ins stehen sinnbildlich für den Kampf, der um die B- und C-Gebiete im Westjordanland entbrannt ist.

 

In der Vergangenheit waren es vor allem national-religiöse israelische Siedler, die spontan Wohncontainer ohne staatliche Genehmigung in den besetzten Gebieten errichteten. Einmal installiert, hat sich die Räumung dieser Außenposten als ein höchst zähes Verfahren erwiesen, das sich jahrelang hinziehen kann. Die palästinensischen Aktivisten von Bab al-Schams, Bab al-Karameh oder Bab al-Qamar ließ Israel jedoch nicht lange gewähren. Obwohl die Zelte auf dem E1-Gebiet auf palästinensischem Privatgrund aufgeschlagen worden waren, wurde das Lager innerhalb von 48 Stunden geräumt – ohne richterliche Deckung durch den Obersten Gerichtshof. Die neue Strategie der Palästinenser trifft auf israelischer Seite einen empfindlichen Nerv.

 

Palästina braucht die Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft

 

Auch wenn keines der Dörfer Bestand hatte: Mit Bab al-Schams haben die Palästinenser zwei wichtige Ziele erreicht. Zum einen erlangten sie internationale Aufmerksamkeit für die fortgesetzte Landnahme durch Israel im Westjordanland. Zum anderen zogen bei der Aktion unterschiedliche Akteure an einem Strang. Eine Allianz aus zivilgesellschaftlichen und parteipolitischen Gruppen, unter ihnen lokale Widerstandskomitees, Fatah und Al-Mubadara, organisierte die Initiative mit Einverständnis der Palästinensischen Autonomiebehörde.

 

Die PA, die der Sicherheitskooperation mit Israel verpflichtet ist, ist im letzten Jahr eher dadurch aufgefallen, öffentliche Proteste aus den Reihen der Zivilgesellschaft einzuhegen denn sie zu befördern. Die Kooperation zwischen Präsident Abbas und seinen israelischen Counterparts hat nach dem UN-Gang einen Tiefpunkt erreicht. Bislang kann von einer dritten Intifada noch nicht gesprochen werden, denn im Unterschied zur Ersten und Zweiten Intifada haben sich die Demonstrationen noch nicht zu Massenprotesten entwickelt, an denen sich breite Bevölkerungsschichten beteiligen.

 

Zudem ist die palästinensische Führung im Westjordanland daran interessiert, dass die Lage nicht eskaliert. Nachdem den Palästinensern jahrzehntelang das Image terroristischer Gewalttäter anhaftete, ist sich die PA bewusst, dass sie mit der Aufnahme des bewaffneten Kampfs die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft aufs Spiel setzen würde und verfolgt deswegen explizit die Strategie des gewaltlosen Widerstands. Einen eigenen Staat in den Grenzen von 1967 wird sie allein nicht verwirklichen können. Hierfür ist die Unterstützung der internationalen Öffentlichkeit und der Staatengemeinschaft unverzichtbar.

 

Von dem anstehenden Besuch von US-Präsident Obama erwarten die palästinensischen Verhandlungsführer unter Leitung von Mahmud Abbas vor allem eines: Dass Washington als der wichtigste Verbündete Israels eine neue Regierung unter Benjamin Netanjahu dazu bringt, Zugeständnisse für die Wiederaufnahme der israelisch-palästinensischen Verhandlungen zu machen. Die Freilassung von Gefangenen könnte den Druck der Straße mildern und deeskalierend wirken, doch die Anerkennung der Grenzen von 1967 als Grundlage für die Gespräche und die Einstellung des Siedlungsbaus zählen für die palästinensische Führung zu den Grundvoraussetzungen, um an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Dass die neue israelische Regierung auf diese Forderungen eingehen wird, ist kaum wahrscheinlich. 


Ingrid Ross ist Leiterin des Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ost-Jerusalem.

Von: 
Ingrid Ross

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