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Aufarbeitung der Korruption in Tunesien

Wir sind jung und brauchen das Geld!

Feature

Die ehrgeizig begonnene Aufarbeitung der Korruption gerät ins Stocken. Die schwebenden Verfahren gegen wichtige Geschäftsleute verunsichern Investoren. Für die Regierung hat inzwischen die Wiederbelebung der Wirtschaft Vorrang.

Blau strahlt das Mittelmeer. Sanft fallen die Hügel zur Bucht von Tunis ab, grüne Pinien säumen die Küste. Der Minister aus dem letzten Kabinett des gestürzten Machthabers hat die Terrasse eines Luxushotels in der antiken Hauptstadt Karthago ausgesucht, um aus der Zeit unter dem Regime zu erzählen. Von dem Ministerkollegen etwa, der eines Tages eine Mitteilung aus dem nahen Präsidentenpalast erhielt, unterschrieben von Zine el-Abidine Ben Ali persönlich: Der Bildungsminister möge bitte eine bestimmte Studentin in die Universität einschreiben.

 

»Selbst um so etwas hat sich Ben Ali gekümmert. Wir haben Regeln für die Einschreibung von Studenten, sind von der Unesco für unser System ausgezeichnet worden«, sagt der Minister, der nicht namentlich genannt werden will. »Doch Ben Ali hat das alles umgangen.«

 

Ein paar Kilometer weiter nördlich sieht es selbst an der Küste so ärmlich aus wie im Landesinneren mit seiner hohen Arbeitslosigkeit, wo der Arabische Frühling Ende 2010 begann. Vor kleinen Läden mit Lebensmitteln oder Baumaterial warten die Händler auf Kunden. Die Wirtschaft ist kleinteilig, auf das Dorf beschränkt. Häuser stehen zum Verkauf, bevor sie fertig gebaut sind.

 

Hier, in dem 10.000-Einwohner-Nest Raoued, sollte Tunesien zum Finanzzentrum Nordafrikas gemacht werden. Auf mehreren Hundert Hektar Land direkt am Meer wollte die bahrainische Investmentbank Gulf Finance House (GFH) ein Bankenzentrum bauen, das aus Tunesien die bevorzugte Adresse in der Region für ausländische Finanzunternehmen machen sollte. GFH versprach, Investitionen in Höhe von drei Milliarden US-Dollar für das Projekt anzulocken.

 

Noch heute weiden Schafe auf dem Gelände, der Wind treibt leere Plastiktüten über die Pfützen aufs Meer zu. Hat die Regierung das Land zurückgefordert? Wie viel Geld hat sie überhaupt für das Land bekommen? Hatte GFH lokale Partner mit Verbindungen zum Regime an Bord? Warum wurde das Projekt nie gebaut?

 

Wer in Tunis Spitzenbeamte aus der heutigen und der früheren Regierung befragt, erhält darauf keine Antworten. Sie beteuern immer noch, das Projekt werde gebaut. Dabei liegt GFH längst am Boden, zermalmt vom Immobiliencrash am Golf und den intransparenten Geschäften, die die Finanzfirma mit Regierungen in fast einem Dutzend Ländern betrieben hat.

 

Nach der Revolution arbeitete Tunesien die Günstlingswirtschaft und Korruption unter Ben Ali zunächst intensiv auf. Ein Antikorruptionsministerium wurde eingerichtet, eine Kommission veröffentlichte einen Bericht zur Korruption in allen Bereichen der Wirtschaft. Doch bei dem Projekt in Raoued ist die Aufarbeitung noch nicht ankommen, und vielleicht wird sie das auch niemals tun.

 

»Wir sollten nicht auf jegliche good governance verzichten«

 

Die Schlagzeilen zur Korruptionsbekämpfung gelten den in Frankreich und der Schweiz beschlagnahmten Häusern und Bankkonten, auf denen Ben Ali seine Reichtümer geparkt haben soll. Die neue Regierung bemüht sich intensiv darum, die im Ausland vermuteten Milliarden Euro nach Hause zu holen. Die tunesische Zentralbank hat den Schweizer Anwalt Enrico Monfrini, der schon die beiseite geschafften Gelder des nigerianischen Diktators Sani Abacha wieder auftrieb, mit der Jagd nach dem Geld beauftragt. In Frankreich hat Transparency International gegen den Widerstand einer politisch gesteuerten Staatsanwaltschaft die Beschlagnahme von Vermögenswerten erwirkt.

 

Auch in Tunesien hat die Regierung Unternehmensanteile beschlagnahmt. Doch deren ungeklärter rechtlicher Status belastet zunehmend die ohnehin schwächelnde Wirtschaft. Wie kaum ein anderer arabischer Autokrat hat Ben Ali zusammen mit der Familie seiner Frau Leila Trabelsi über erzwungene Beteiligungen die tunesische Wirtschaft kontrolliert. »Habt Ihr einen Kontakt im Präsidentenpalast?« war die erste Frage, die tunesische Unternehmer von potenziellen ausländischen Geschäftspartnern gestellt bekamen. Über im Palast angesiedelte Gremien wie die »Höhere Kommission für Großprojekte« oder die »Höhere Kommission für öffentliche Aufträge« konnte Ben Ali an der Ministerialbürokratie vorbei direkt auf Verträge und Projekte zugreifen. Mehr als hundert Menschen aus dem Dunstkreis des alten Regimes sind inzwischen wegen Korruption verurteilt worden.

 

Weitere gut 400 Beschuldigte stehen unter Reiseverbot; ihre Vermögen und Unternehmensanteile sind eingefroren. Ihre ausländischen Geschäftspartner sind verunsichert. »Das ist ein wirtschaftliches Handicap, denn unter ihnen sind die wichtigsten Geschäftsleute des Landes«, sagt Finanzminister Houcine Dimassi.

 

Die Regierung sieht als ihre wesentlichen Aufgaben inzwischen die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Wiederbelebung der Wirtschaft an, die 2011 um 1,8 Prozent geschrumpft ist. Denn die ständigen Proteste jugendlicher Arbeitsloser belasten den politischen Neubeginn. »Ich denke, es ist Zeit, sich zu entscheiden«, argumentiert Dimassi deshalb mit Blick auf die noch laufenden Verfahren gegen Korruptionsverdächtige. »Entweder man verurteilt sie anhand von Beweisen, oder man einigt sich gütlich, indem sie zum Beispiel etwas in den Haushalt einzahlen – der kann das gebrauchen.«

 

Die Regierung verwaltet treuhänderisch die eingefrorenen Unternehmensanteile, darunter die Mehrheit am Telekomanbieter Orange Tunisie sowie komplette Banken. Der Verkauf allein der Anteile, deren Beschlagnahme juristisch schon abgeschlossen ist, könnte der Staatskasse laut Dimassi ein bis zwei Milliarden Euro einbringen. Doch in der von Ben Ali kultivierten Günstlingswirtschaft sind viele Fälle verworren: Wo endet die legitime Geschäftsbeziehung, und wo beginnt das Profitieren von der Nähe zum Präsidentenpalast?

 

Auch Dimassi räumt ein, dass die juristische Differenzierung dauern wird. Doch der politische Umbruch hat keine Zeit. In den ärmlichen Regionen in der Landesmitte protestieren arbeitslose Jugendliche immer noch fast täglich. Vor allem im so genannten Minenbecken um Gafsa blockieren sie oft Straßen und Eisenbahnstrecken, auf denen die wichtige Phosphat- und Chemieindustrie ihre Produkte zur Küste transportiert. In diesen strukturschwachen Regionen ist die Hälfte aller Jugendlichen arbeitslos. Durch den Einbruch des Tourismus im vergangenen Jahr – aus Deutschland etwa kamen 40 Prozent weniger Touristen – sind auch die besser entwickelten Küstenregionen von der Wirtschaftskrise betroffen.

 

»Man schafft mehr Wachstum im Land, wenn man die Korruption bekämpft«

 

Neben neuen Touristen braucht das Land Investoren, doch aus deren Sicht sind zu viele Fragen ungeklärt. »Es besteht noch ganz viel Unsicherheit, politisch und in sozialer Hinsicht«, sagt Slim Feriani, der tunesische Chef des rund 750 Millionen Euro schweren Vermögensverwalters Advance Emerging Capital. Der Fonds hat seine Investitionen in Tunesien während der Revolution von fünf auf ein Prozent seines Portfolios in der Region reduziert und will erst einmal weiter abwarten.

 

»Es gibt eine große Auseinandersetzung über die zukünftige Richtung des Landes«, sagt Feriani. »Die oberste Priorität sollte es jetzt sein, endlich schnell und pragmatisch die Verfassung abzuhaken und sich nicht in ideologischen Fragen zu verlieren.« Vor allem die Vorstellungen der islamistischen Ennahda-Partei – der derzeit stärksten politischen Kraft im Land – von einer Islamisierung seien wenig verheißungsvoll und könnten speziell den Tourismus treffen, an dem fast die Hälfte aller Arbeitsplätze in Tunesien hängt.

 

Doch viele Tunesier wollen trotz der wirtschaftlichen Probleme nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Auf Facebook attackieren Aktivisten den Gouverneur der Zentralbank, der noch aus der Ben-Ali-Ära stamme und deswegen nicht gegen die Financiers des alten Regimes vorgehe.

 

»Es hat sich nichts verändert«, sagt auch Sofiane Reguigui von der tunesischen Vereinigung für Transparenz im Energie- und Minensektor. »Wegen der Pressefreiheit diskutieren wir jetzt ständig über Korruptionsfälle, aber viele Geschäftsleute aus der Ben-Ali-Ära sind noch da.« Reguigui fürchtet, die Islamisten wollten die Aufarbeitung der Korruption abkürzen, um es sich nicht mit der nach wie vor mächtigen Wirtschaftselite des Landes zu verscherzen.

 

Ebenso wie vielen anderen Tunesiern bereitet es ihm Unbehagen, dass nach der Revolution zwar das Geld aus anderen Quellen kommt, aber die Intransparenz die gleiche geblieben ist. So verweist Reguigui darauf, dass die Regierung ein zwei Milliarden US-Dollar teures Raffinerieprojekt ohne Ausschreibung an eine Staatsfirma aus Katar vergeben wolle. Der reiche Golfstaat hat im Arabischen Frühling auf die Aufstandsbewegungen in der Region gesetzt und pumpt jetzt über mehrere Projekte Geld ins Land, um seine neu erworbene Stellung als Regionalmacht zu festigen. »Wir brauchen dringend das Geld«, sagt Reguigui. »Aber das heißt nicht, dass wir auf jegliche good governance verzichten sollten.«

 

»Aus Sicht der Investoren sind zu viele Fragen ungeklärt«

 

Seine Vereinigung setzt sich vor allem dafür ein, dass sich Tunesien wie schon mehr als 30 andere Staaten um die Aufnahme in die Transparenzinitiative der Rohstoffwirtschaft bemüht.

 

Die Verwaltung, die mit Ausnahme des Zolls weitgehend vom alten Regime übernommen wurde, weist jede Schuld an der Korruption von sich. Auch der Ex-Minister auf der Hotel-Terrasse in Karthago wurde nach der Revolution nach seiner Rolle in der Günstlingswirtschaft befragt. »Es ging um Zuteilungen von Land, keine große Summen. Doch die Minister haben auf schriftlichen Befehl von Ben Ali gehandelt, sie hatten keine Wahl«, sagt er.

 

Neben den Verflechtungen der Wirtschaft mit dem Präsidentenpalast Ben Alis plagt sich Finanzminister Dimassi noch mit einem weiteren Erbe des alten Regimes. Der Wirtschaftsexperte, der als politisch Unabhängiger an den Parlamentswahlen teilnahm, sorgt sich vor allem um die hohen Ölpreise. Ebenso wie andere arabische Autokraten hatte sich Ben Ali die Bevölkerung mit massiven Subventionen von Benzin und Lebensmitteln gewogen gemacht.

 

Doch das kann sich Tunesien immer weniger leisten in Zeiten, in denen seine Devisenreserven nicht einmal mehr reichen, um die Importe für vier Monate zu decken. »Vom rein finanziellen und wirtschaftlichen Standpunkt her müssen wir vor allem die Benzinpreise korrigieren«, sagt Dimassi in seinem Palast im Regierungsviertel von Tunis. Eine Kürzung der Subventionen dürfte jedoch weitere soziale Proteste zur Folge haben – und damit den Spielraum der Regierung, sich mit der Vergangenheit statt mit der Zukunft zu beschäftigen, weiter einengen.

 

Fondsmanager Feriani warnt bei allem Pragmatismus dennoch davor, die Aufarbeitung der Korruption zu vernachlässigen. Die grassiere vor allem im öffentlichen Sektor Tunesiens auch nach dem Ende des Ben-Ali-Regimes noch immer. »Die Priorität sollte jetzt auf Wachstum liegen, aber das heißt nicht, dass sie nur das tun und für die nächsten beiden Jahre die Korruption ignorieren sollten«, betont Feriani. »Beides gehört zusammen. Man schafft mehr Wachstum im Land, wenn man die Korruption bekämpft, denn Korruption kostet die Wirtschaft sehr viel Geld.«

Von: 
Frederik Richter

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