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»Breaking the Silence« zum Gaza-Krieg

Die Kronzeugen des Gaza-Krieges

Kommentar

Der Report der Veteranenorganisation »Breaking the Silence« zum Gaza-Krieg zeigt, wie weit Anspruch und Wirklichkeit der israelischen Armee auseinanderklaffen. Israels Politik sollte die Berichte seiner Soldaten nicht länger ignorieren.

Es ist ein heißer Sommertag im Juli 2014. Die Luft steht in Mazkeret Batya südlich von Tel Aviv. Selbst das Meer bringt in diesen Tagen keine kühle Brise mehr in die Vororte der israelischen Metropole. Über den Straßen flimmert die glühende Hitze, als Mike Ripstein von der Arbeit kommt. Gerade als er sein Auto in der Auffahrt parkt, geht sie los. Die Sirene, die durchdringende Warnung vor Raketenangriffen auf Tel Aviv und Umgebung.

 

Er sprintet ins Haus, hechtet die Treppen hinunter und ist froh, dass alle da sind. Familie Ripstein sitzt bereits im Bunker, seine Frau und seine beiden kleinen Kinder haben ihn schon erwartet. Eigentlich wäre es jetzt Zeit fürs Abendessen. Mike hat genug davon. Es reicht. Er möchte für sich und seine Familie ein Leben in Sicherheit, Lebenszeit im Bunker ist verlorene Lebenszeit. Er will, dass die Bedrohung aus dem Gazastreifen aufhört. Er will endlich Ruhe.

 

Ripstein ist einer von 80.000 Reservisten, die im Zuge des jüngsten Gaza-Krieges eingezogen wurden und aktiven Militärdienst in der Operation »Protective Edge« leisteten. Er erzählt authentisch von den großen und den kleinen Sorgen, von seiner persönlichen Situation als Reservist und der kurzen Zeitspanne zwischen Anruf und Einsatz. Auch an diesem Abend im Juli erhält er einen Anruf: Sachen packen, einrücken, in zwei Stunden Treffpunkt in der Militärbasis. Er hat schon damit gerechnet.

 

Als Stabsfeldwebel der Panzertruppe der Israeli Defense Forces (IDF) ist er oft einer der Ersten, die eingezogen werden. Und er ist stolz darauf, nicht nur zusehen zu müssen, sondern für sein Leben in Sicherheit aktiv eintreten zu können. Er liebt seinen Job als Reservist. Kritische Fragen hasst er. Wenn man Ripstein mit dem Ergebnis der Operation »Protective Edge« konfrontiert – laut UN 1.563 getötete Zivilisten, darunter mindestens 700 Frauen und Kinder – reagiert er schroff: »Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich effektiver war als die andere Seite. Verurteilt das Spiel, nicht die, de es spielen müssen.«

 

Das Spiel, von dem Ripstein spricht, ist das Spiel Israels und der Hamas. Seit Jahren wechseln sich immer wieder Raketenbeschuss aus dem Küstenstreifen auf israelisches Kernland und eine entsprechende Antwort des israelischen Militärs ab. Wie du mir, so ich dir. Wenn es doch nur nicht um rund 2.000 Menschenleben ginge, von denen eine Mehrheit als Zivilisten identifiziert werden konnte. Menschen, die wie Mike Ripstein ein Leben in Frieden ersehenen. Die keine Raketenalarmsysteme haben, keine Bunker, in denen sie sich vor den zerstörerischen Raketen der IDF verstecken können.

 

Es klafft eine Lücke zwischen dem Selbstanspruch der israelischen Armee, stets moralisch handeln und dem desaströsen Ausmaß der Zerstörung sowie der Vielzahl von Todesopfern im Gazastreifen. Wie kommt es dazu? Auf der Suche nach Antworten interviewte die israelische Veteranenorganisation »Breaking the Silence« rund 60 Soldaten, die im Gaza-Krieg im Sommer 2014 kämpften. In über 100 Erfahrungsberichten bezeugen diese Soldaten ihre Erlebnisse anonymisiert, jedoch unter Offenlegung des Ranges, der Einheit und des konkreten Einsatzortes.

 

Während Mike Ripstein heroisch anmutende Bilder von Soldaten auf Panzern herumreicht und stolz das gesamte Arsenal an Waffen präsentiert, benennen die Soldaten gegenüber »Breaking the Silence« die Schattenseiten der Militäroperation »Protective Edge«. Die Organisation veröffentlichte im Mai die Sammlung der Erfahrungsberichte, die den Titel »This is how we fought« trägt. Die Veteranen entfachten damit die Diskussion über moralische Grundsätze in Militäreinsätzen der IDF im nationalen und internationalen Kontext.

 

Israel »klopft an«

 

Die Israelische Armee ist nach den im eigenen Ethik-Kodex festgelegten Grundsätzen eine moralische Armee. In der Praxis bedeutet dies, dass zivile Opfer in jedem Falle vermieden werden sollen. Die IDF bedient sich dabei dem sogenannten »Anklopfen«. Das läuft wie folgt ab: Die Armee ruft bei einem Telefonanschluss im Gebäude an und warnt deren Bewohner vor einem nahenden Angriff auf das Gebäude aus der Luft. »Sie haben zehn Minuten Zeit, das Gebäude zu verlassen, um sich und andere Bewohner in Sicherheit zu bringen«, so die Vorgabe.

 

Gibt es keinen Telefonanschluss, wird mit einer leichten Rakete auf dem Dach des Gebäudes »angeklopft«, was zunächst nur geringe Zerstörung verursacht und als »Warnschuss« verstanden werden kann. Das ist zumindest die Theorie. In der Realität, die die Soldaten in »This is how we fought« beschreiben, sieht das anders aus: »Der Kopf der Terrorzelle war dort und die Entscheidung war gefallen, auf dem Dach des Gebäudes ›anzuklopfen‹ – um dann sofort danach eine Bombe darauf abzuwerfen.« Was heißt »sofort«? »Irgendwas zwischen 30 Sekunden und einer Minute.«

 

Nicht genug Zeit für alle, das Gebäude zu verlassen. Mehrere Soldaten bezeugen, dass die Hamas häufig Wohngebäude für entsprechende Waffenlager nutzte und Raketenabschussrampen bewusst in Wohngebiete platzierte, um die Bewohner als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Das »Anklopfen« ist also an sich eine Maßnahme, die die Menschen in den Wohngebieten schützen soll, die konkrete Ausführung jedoch widerspricht den eigenen moralischen Grundsätzen des Ethik-Kodexes. Und dieser Widerspruch bleibt nicht der einzige, der sich aus den Interviews mit den Soldaten ergibt.

 

Im Gaza-Krieg zählte nicht, wer an Kampfhandlungen teilnahm oder nicht, sondern wer sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand

 

In Gaza kam es sowohl zu Luftangriffen, als auch zu Gefechten zwischen IDF und Hamas am Boden. Die Anweisungen, die dort durch Kommandanten erfolgten, beschreiben die Soldaten gegenüber der Veteranenorganisation als moralisch fragwürdig: »Alles was sich bewegt in dem Viertel, in dem du dich befindest, sollte nicht dort sein. Die Zivilisten wissen, dass sie nicht dort sein sollten. Deshalb töte, wen auch immer du dort rumlaufen siehst.« So die Anweisung eines Kommandanten in Deir al-Balah, etwa 15 Kilometer südlich von Gaza-Stadt, bezeugt durch einen Feldwebel der Panzertruppe.

 

Ganz ähnlich klingt das im nördlichen Gazastreifen, wo ein Feldwebel des Ingenieurkorps kämpfte: »Die Anweisung ist, sofort zu schießen. Wen auch immer du entdeckst – bewaffnet oder unbewaffnet, egal. Jede Person, der du begegnest, die du mit deinen eigenen Augen sehen kannst, erschießt du. Das ist eine explizite Anweisung.« Es geht um sogenannte Hamas-Hochburgen, um Teile des Gazastreifens, in denen die Unterstützung besonders groß ist, in denen der militärische Geheimdienst Ziele ausgemacht hat: Waffenlager, Raketenabschussrampen, Kontroll- und Kommandozentralen.

 

Und dennoch leben hier auch Zivilisten. Einer der zentralen Grundsätze des humanitären Völkerrechts ist der besondere Schutz von Nichtkombattanten, also von allen Personen, die nicht unmittelbar an Feindseligkeiten und Kampfhandlungen teilnehmen. In Gaza, so zeigen die Aussagen der Soldaten, zählte jedoch nicht, wer an Kampfhandlungen teilnahm oder nicht, sondern wer sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand. »Es ist eine komplizierte Situation, vielleicht werden unschuldige Menschen getötet, aber du kannst das Risiko nicht eingehen, dich und deine Kameraden zu gefährden. Du musst schießen, ohne zu zögern«, so die Antwort eines Offiziers, die ein Feldwebel, der im nördlichen Gazastreifen kämpfte im Interview mit der Veteranenorganisation bezeugte.

 

Artilleriegeschosse in Wohngebieten

 

Die Soldaten berichten von einem unübersehbaren Ausmaß der Zerstörung in Gaza. Zerbombte Häuser, kaum befahrbare Straßen, überall Schutt und Asche. War der Zustand vor Kriegsbeginn schon schlecht, so gleicht der Gazastreifen nun einem einzigen Trümmerfeld.  »Was Artillerie betrifft, hat die IDF alle Beschränkungen, die einst galten, aufgegeben«, so ein Leutnant der Infanterieeinheit gegenüber »Breaking the Silence«.

 

Und noch etwas: »Ich habe keine Zweifel – und ich sage das laut und deutlich – Ich habe keine Zweifel, dass Artillerie auf Häuser abgefeuert wurde.« Ein Feldwebel aus dem Ingenieurkorps bestätigt und berichtet von kontinuierlichem Artilleriebeschuss der Häuser, die er mit seiner Einheit südlich von Gaza Stadt passierte. »Sie haben jedes einzelne Haus mit Maschinengewehren beschossen. Hin und wieder wurden dann Bomben auf diese Häuser abgeworfen.« Um weiter voranschreiten zu können, wurde regelmäßig mit Hilfe eines bewaffneten Bulldozers aufgeräumt.

 

»Jedes Haus, das wir verließen, wurde im Anschluss mit einem D9 plattgemacht«, berichtet ein Feldwebel der Panzergrenadiere, der in Deir al-Balah während der Operation »Protective Edge« kämpfte. Das Niederreißen von Gebäuden bis auf ihre Grundpfeiler, der Artilleriebeschuss von Wohngebieten und damit die Gefährdung der Zivilbevölkerung lässt sich sowohl mit den moralischen Grundsätzen der IDF, als auch mit geltendem internationalen Recht nicht vereinbaren.

 

Mit ihrem Bericht »This is how we fought« leistet »Breaking the Silence« einen wichtigen Beitrag zur innergesellschaftlichen Diskussion um Moral und Ethik der Israeli Defense Forces. Die Sammlung der Interviews erreichte zuletzt sogar das israelische Parlament, wo Erfahrungsberichte der Soldaten im Plenum verlesen wurden. Dov Khenin, Mitglied der Knesset für die Hadash-Partei, findet das richtig: »Ich empfehle die Bezeugungen im Plenum zu verlesen und schlage allen Mitgliedern der Knesset vor, sie selbst zu lesen und zu reflektieren. Wenn Sie sich weigern zuzuhören, ändert sich nichts an der Realität.«

Von: 
Johanna Sand

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