Ramadan-Flaute, Zinsfeindlichkeit, warum Irland das islamischste Land der Welt sein müsste, und andere zweifelhafte Theorien.
Ramadan in Istanbul: Die 16-Millionen-Metropole ähnelt einem grantigen Schlafwandler. Die Taxifahrer sind noch unfreundlicher und aggressiver als sonst. Die Simit-Verkäufer händigen die Ware in Zeitlupe aus. Immer wieder flackern Wort- und Handgefechte zwischen dauergereizten, weil hungrigen Menschen auf. Bis zu 40 Prozent sinkt die Produktivität während des Ramadans in ländlichen Gebieten, zumindest wenn der Monat in die heiße Jahreszeit fällt. Der Fastenmonat – eine von vielen Wachstumsbremsen der islamischen Welt.
Das Zinsverbot hemmt die Investitionstätigkeit derjenigen, die Geld haben und es sinnvoll einsetzen könnten. Zudem beraubt sich die islamische Welt bis zu 50 Prozent ihres Potenzials, in dem Frauen nur einen geringen Teil am Erwerbsleben haben. Schließlich legitimiert die Religion patriarchale Strukturen, die ihrerseits Kreativität, freies Denken und Innovationen behindern.
In den Ländern der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) leben rund 1,5 Milliarden Menschen, das ist etwa ein Viertel der Weltbevölkerung. Dieses Viertel produziert aber nur sechs Prozent der globalen Wirtschaftsleistung, und neun Prozent der globalen Exporte. Die These liegt auf der Hand – die Ursache für die wirtschaftliche Rückständigkeit ist die Religion. Nur entpuppt sie sich bei näheren Hinsehen nicht als haltbar.
2010 entwarfen zwei Forscher der Universität Washington einen »Islamicity-Index«, der Kategorien wie »höhere moralische Standards«, »zinslose Darlehen«, gerechtere Einkommensverteilung und andere islamische Werte umfasste. Den Index wandten sie auf alle Länder der Welt an. Das Land, das den Werten einer islamischen Ökonomie am meisten entsprach, ist demnach das insgesamt recht unmuslimische Irland. Das höchstplatzierte Land mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit war Malaysia auf Rang 33.
Das zeigt recht deutlich, dass die wirtschaftliche Rückständigkeit der islamischen Welt nur selten wirklich an der Religion selbst liegt. Die meisten Länder der islamischen Welt wirtschaften gar nicht islamisch.
Historisch betrachtet sei die heutige Rückständigkeit der islamischen Welt eine Folge des Steuerpachtsystems in den Gebieten des ehemaligen Osmanischen Reiches, das Loyalität mit Privilegien erkaufte, meint Volker Nienhaus, dessen Buch »Islam und moderne Wirtschaft« zu den Standardwerken zu dem Thema zählt. »Das funktionierte gut, solange das Reich expandierte. In der Kontraktionsphase aber führte das zu einer konfiskatorischen Besteuerung. Als in Europa die Industrialisierung einsetzte, waren im Osmanischen Reich Investitionen auf Grund dieser Steuerwillkür unattraktiv«, so der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Präsident der Philipps-Universität Marburg.
Der Ölreichtum vieler arabischer Staaten erwies sich als Fluch und Segen zugleich. Zwar spülte er jahrzehntelang Milliarden in ehemals karge Wüstenscheichtümer. Er zementierte aber auch ein Rentiersystem, in dem eine Herrscherfamilie Geld an Günstlinge verteilte oder es für teure Waffensysteme aus dem Westen ausgab. Anreize zu Unternehmensgründungen konnten so kaum entstehen. Die Länder leiden unter der »holländischen Krankheit«: Ein Rohstoffboom verursacht eine Unterentwicklung des industriellen Sektors.
Auch die Zinsfeindschaft des Islam entpuppt sich beim näheren Hinsehen nicht als Wachstumsbremse. »Ein zinsfreies Darlehen ähnelt einem Leasing-Vertrag«, sagt Fehmi Tutulmaz, Spezialist für Islamisches Bankwesen bei der Ziraat-Bank in Istanbul. Investitionsentscheidungen treffen Bank und Unternehmer gemeinsam, der Unternehmer zahlt den Betrag dann in Raten zuzüglich einer Gebühr ab. Zinsen heißen hier nur anders. »Auf die Phase der Kolonialisierung folgten in vielen islamischen Ländern sozialistische Experimente«, sagt Nienhaus. »Marktwirtschaftliche Reformen wurden erst in jüngster Zeit eingeführt – dann aber meist mit Erfolg.«
Die Rückständigkeit der islamischen Welt ist also keine Folge der Religion. Tatsächlich handelt es sich fast immer um ein Defizit an Demokratie, Markt, Rechtsstaatlichkeit und Verteilungsmechanismen – Probleme also, die sich unabhängig von der Religion lösen ließen.