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Wie wichtig ist der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern?

Liebling, ich habe den Nahostkonflikt geschrumpft

Kommentar
Interview mit Raz Zimmt über Iran und den Wahlkampf in Israel
Benjamin Netanyahu und Wolfgang Ischinger während der Münchener Sicherheitskonferenz 2018 Kuhlmann / MSC

Wie kann es Frieden zwischen Israelis und Palästinensern geben? Früher war es die zentrale Frage in der Nahost-Berichterstattung. Heute scheint kein Hahn mehr danach zu krähen. Bis es irgendwann wieder knallt.

Das israelisch-palästinensische Verhältnis befand sich bereits im Zwielicht des Übergangs von Einigung zu Krieg, als die zenith-Redaktion vor zwanzig Jahren diskutierte, wie sich der in Oslo angestoßene Friedensprozess wohl weiter entfalten würde, oder ob nicht doch die Radikalen obsiegt. Alles stand auf der Kippe. Da war Jitzchak Rabin lange tot, hatte Siedler Baruch Goldstein bereits 29 muslimische Betende in Hebron ermordet und die islamistische Hamas daraufhin mit Selbstmordanschlägen begonnen.

 

Aber es gab auch noch Hoffnung, diplomatische Bewegung und vor allem: internationale Aufmerksamkeit. Heute interessiert sich niemand mehr für den sogenannten Friedensprozess. Was nicht nur daran liegt, dass es keinen gibt. Das, was gemeinhin und fälschlicherweise Stillstand genannt wird, nämlich die schleichende Annexion des Westjordanlandes, reißt ob seiner Langsamkeit und vermeintlichen Uneindeutigkeit niemanden mehr vom Hocker.

 

Anderswo in der arabischen Nachbarschaft wird Giftgas abgeworfen, verhungern Kinder, sind ganze Staaten in ihren Grundfesten erschüttert. Was bedeutet dagegen eine israelische Ausschreibung über ein paar Hundert weitere Wohneinheiten in den Siedlungen im besetzten Westjordanland? Oder der Abriss eines palästinensischen Hauses in Ostjerusalem, weil das ohne israelische Genehmigung gebaut worden war?

 

Jeder weiß heute: Die Zweistaatenlösung ist tot. Das liegt nicht nur an Benyamin Netanyahu. Eine international vermittelbare Alternative hat Israel noch nicht gefunden, jedenfalls keine, die nicht nach Apartheid oder Vermischung der Völker in einem gemeinsamen Staat riecht, was das Ende der jüdischen Mehrheitsregierung bedeuten würde. Alles alte Argumente, tausendmal gehört und analysiert.

 

Was bedeutet der Abriss eines Hauses, wenn nebenan ganze Staaten zerfallen?

 

Viele Israelis wünschen sich, die Journalisten mögen doch endlich mal woanders hingehen, wünschen sich die Einkehr von ein bisschen Langeweile. Die Wirtschaft läuft recht gut, und auch wenn seit Jahren die Verhandlungen zwischen Ramallah und israelischer Regierung auf Eis liegen, sind gleichzeitig die Terroranschläge deutlich zurückgegangen. Jedenfalls ist die Gefahr eines Autounfalltodes längst um ein Vielfaches höher.

 

Was wiederum auch eine Folge des Wirtschaftsaufschwungs ist: Es gibt einfach zu viele Autos auf zu wenig Straßen und zu wenig Geduld und Verkehrserziehung. Es schließt sich also gewissermaßen der Kreis. Auf palästinensischer Seite fühlt man sich mehr denn je doppelt besetzt: von Israel und von der eigenen phlegmatisch-korrupten Autonomiebehörde. Hoffnungslosigkeit macht sich breit.

 

Zuletzt lag das meist an Donald Trump, der auch das Heilige Land in Wallung bringt. Die Verlegung der Botschaft nach Jerusalem, die Einstellung sämtlicher ziviler Hilfsgelder für die Palästinenser und das beständige Versprechen eines Jahrhundertdeals haben für eine oft künstliche Aufregung gesorgt: Die Botschaftsverlegung ist symbolisch gewesen, denn man hat einfach eine Plakette an dem bereits in Jerusalem bestehenden Konsulat ausgetauscht. Die meisten der rund 1.000 US-Diplomaten arbeiten weiterhin in Tel Aviv, in dem Gebäude, das einst Botschaft genannt wurde. Jetzt steht auf dem Schild gleich hinter dem Strand »Botschaft Jerusalem – Branch Office Tel Aviv«.

 

Der Verlust der Hilfsgelder trifft die Palästinenser zwar, aber andere Kräfte springen ein. Und der Jahrhundertdeal, den nennt selbst Washington mittlerweile nur noch Vision. Besuche Jared Kushners im Nahen Osten locken noch etwas Interesse hervor, aber dies gleicht doch eher der medialen Lust an Freaks und ihrem Scheitern.

 

Nüchtern betrachtet ist Israel geopolitisch gar nicht so bedeutend.

 

Als zenith anfing und die orientalische Welt tiefer ausleuchtete, als die Medien das bisher meist getan hatten, da schienen die Araber noch weit weg, kurzzeitig in die unmittelbare Aufmerksamkeit geholt durch die Angriffe des 11. September 2001. Jetzt leben sie mitten unter uns, Syrer, Iraker, die als Flüchtlinge kamen und langsam Deutsche werden. Wer denkt da noch an Palästinenser und den Nahostkonflikt? Die sind zwar noch da, treten aber politisch auch nicht gerade kreativ hervor.

 

Und so nähert sich der Blick auf das Heilige Land mehr und mehr dem an, was es nüchtern betrachtet ist: geopolitisch nahezu unbedeutend. Mit der Bevölkerungszahl von insgesamt höchstens einer internationalen Großstadt. Wirtschaftlich mag die Entwicklung Israels zwar beachtlich sein, aber global gesehen auch nicht völlig außergewöhnlich.

 

Zum einen arbeiten neunzig Prozent der Bevölkerung in vollkommen unproduktiven überregulierten Sektoren, auch der überverhältnismäßig gelobte Hightech-Sektor reiht sich ein in ein breites Feld vieler Standorte – Bangalore oder Singapur sind im Cyberbereich ähnlich »innovationskräftig«. Von den Vereinigten Staaten insgesamt, Russland oder China gar nicht zu reden, die auch im Bereich der militärischen Cyberabwehr deutlich weiter sind.

 

Das ist alles natürlich nicht schlimm, der Boom in Tel Aviv und Umgebung bleibt beeindruckend. Nur: Muss darüber mehr berichtet werden als über das Schwabenland, das kontinuierlich neue Patente auf den Markt wirft? Muss Israels Touristenboom mit jeder Bekanntgabe neuer Landesrekorde vermeldet werden, wenn allein nach Griechenland mehr als sieben Mal so viele Touristen reisen? Muss über die Siedlungspolitik ausführlicher berichtet werden als über, sagen wir, die unterdrückten Uiguren in China?

 

Fragen, die jeder für sich beantworten darf. Am Ende bleibt Israel doch ein besonderes Land, mit seiner endlosen Komplexität und den tiefen Gräben. Sicher ist, dass sich auch die Israelis, die sich nach Ruhe sehnen, beschweren würden, wenn man dereinst wirklich aufhören würde, sich für sie zu interessieren.

 

Denn Israel kann in Isolation gar nicht existieren. Und ist auch keine »Villa im Dschungel«, wie Ehud Barak das vor zwanzig Jahren sagte. Ohne Europas Wirtschaft geht hier nicht viel, und Amerika bleibt Sicherheits- und Geldgarant. Unter Donald Trump werden auch im Nahen Osten die alten Ordnungen durchgeschüttelt, gewinnen in Israel Kräfte an Macht, die hier vor zwanzig Jahren noch wie Aussätzige behandelt wurden. So wie in Amerika.

 

Fragen nach Identität werden auch in Israel wichtiger, und immer mehr Menschen halten »Judentum« für wichtiger als »Demokratie«. Als ob dies Gegensätze wären. Die Linke schwebt im freien Fall programmatischer Ratlosigkeit, weil ihr Friedenskonzept nicht verfing und sie das gespaltene Land nicht zusammengebracht hat. Netanyahu, der die Linke verdammt, wenn nicht ganz ignoriert, aber auch der Rechten nicht so weit entgegenkommt, wie die das will, lässt die Dinge im Land beim Alten.

 

Solange, bis, ja, bis sich alles verändert, explodiert, fragmentiert. Und das wahrscheinlich nicht wegen der Palästinenser. Das moderne Israel ist mehr als fähig, sich zu verteidigen. Der sinkende Zusammenhalt der eigenen Gesellschaft ist viel wirkmächtiger. Die Ultraorthodoxen werden in zwanzig Jahren mehr als ein Drittel der Bevölkerung stellen. Immer weniger nationalreligiöse Siedler stellen Demokratie an die erste Stelle ihres Staatsverständnisses.

 

Damit können sich immer weniger junge säkulare Israelis identifizieren, deren Blick in Tel Aviv sich zunehmend gen New York oder Berlin richtet, weniger nach Jerusalem. Ist das Schwarzmalerei? Die jüdische Tradition mit ihrem tief verwurzeltem Humanismus, ihren kritischen Geistern, dem steten Willen zum Widerspruch und dem Aushalten von Widersprüchlichkeit hat Betrachter von Außen noch immer überrascht.


Jochen Stahnke arbeitet seit 2010 für die Frankfurter Allgemeine Zeitung als Redakteur in Frankfurt und seit November 2016 als Korrespondent in Tel Aviv. Von 2005 bis 2008 gehörte er der zenith-Redaktion an.

Von: 
Jochen Stahnke

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