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Forschungsleben

Dieser verdammte Dschihadismus!

Essay
Dieser verdammte Dschihadismus!

Eine Ideologie und ihre Folgen haben uns die letzten 20 Jahre geprägt. Sie ist ein Fluch für die Gesellschaften. Aber auch für Menschen, die sich analytisch mit ihr auseinandersetzen.

Der Dschihadismus ist ein Fluch für alle, die damit irgendwie was zu tun haben. Mein erster Kontakt war in den 1990er-Jahren in Algerien. In einem Fußballstadion fand eine Kundgebung einer islamistischen Sammelbewegung statt, der Islamischen Heilsfront. Da sagte mein Bekannter Ahmed zu mir: »Die dort drüben, die Männer in den afghanischen Gewändern, die sind ganz gefährlich.« Die hätten am Hindukusch gegen die Sowjets gekämpft und seien so was von fanatisch, das könne man sich gar nicht vorstellen.

 

Ich fragte naiv zurück: Sie seien doch Mudschaheddin – Freiheitskämpfer, mit dem Westen verbündet, die die UdSSR besiegt haben. »Aber die werden uns ins Unheil stürzen«, entgegnete Ahmed.

 

Er sollte recht behalten – damals gab es die Worte Dschihadismus und Dschihadist nicht – die Extremisten wurden als »arabische Afghanen« bezeichnet. Im algerischen Bürgerkrieg begingen sie schlimmste Gräueltaten. Die Organisation, in der sie sich sammelten, reifte später zu Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) und treibt bis heute ihr Unwesen in Nordafrika und im Sahel.

 

Ich habe Politik studiert – und auch arabische Kunstgeschichte, weil ich die arabische Welt spannend und faszinierend finde. Als Halbägypter war ich angezogen von den Errungenschaften der arabisch-islamischen Hochkultur in den Künsten und den Wissenschaften, vom tollen Essen, aber vor allem von Menschen, die unter schwierigen Bedingungen versuchten, ihre Gesellschaften positiv zu verändern. Eigentlich schöne Themen.

 

Aber dann musste ich mich immer wieder mit dem Dschihadismus beschäftigen – einer Ideologie, die alles, was die arabisch-islamische Hochkultur ausmachte, verneint oder zerstört – von der erotischen Poesie unter dem Kalifat der Abassiden, Tausendundeine Nacht oder Moscheen mit beeindruckenden Mosaiken und anderen Verzierungen. Dschihadismus ist ein Phänomen, dessen verheerende Wirkung auch ich lange unterschätzt habe.

 

1998, nach den Attentaten in Daressalam und in Nairobi, tauchte der Name Osama bin Laden auf. Damals dachten ich und viele meiner Kollegen noch, das seien vereinzelte Irrgeleitete in den Bergen. Ein Randphänomen – es gab größere Probleme in der arabischen Welt. Größere Sorgen bereiteten mir und anderen Kollegen die Muslimbrüder, als immer mehr Frauen sich verschleierten. Aber die Dschihadisten wurden weiter unterschätzt. Zum Glück mache ich in meinem Leben noch andere Sachen. Aber weil ich mich schon so lange mit Dschihadisten beschäftige, wurde ich jedes Mal wieder wie in eine Spirale reingezogen, wenn das Thema hochkochte.

 

Von den Medien wurde ich herumgereicht, ja, manchmal auch ausgenutzt. Andererseits sollte man auch nicht irgendwelchen alarmistischen Pseudo-Experten den Platz überlassen.

 

Nach dem 11. September 2001 habe ich mich sehr intensiv damit beschäftigen müssen. Ich habe für Fernsehdokumentationen Interviews mit Zeitzeugen geführt und mit mittlerweile vier Generationen von Dschihadisten. Gleichzeitig – und das war mir sehr wichtig – habe ich eine Doktorarbeit über den Dschihad der Bilder geschrieben, über Al-Qaidas audiovisuelle Propaganda. Dafür musste ich mir Hunderte von Propagandavideos anschauen. Wann immer ich mich mit anderen Themen beschäftigt habe, hat mich dieser Sog wieder zum Dschihadismus gezogen. Ich habe zum Arabischen Frühling in Tunesien gearbeitet, über die Kultur, über die Mediensysteme. Dann taucht Daesh, der sogenannte Islamische Staat auf, und alles andere verschwindet wieder. Schrecklich!

 

Monate- und jahrelang ist man damit beschäftigt, zu erklären, dass es in der arabischen Welt noch ganz andere Dinge gibt, dass die Dschihadisten versuchen, unsere Gesellschaft zu spalten. Teilweise schien mein Leben nur noch daraus zu bestehen. Das hat natürlich auch persönliche Konsequenzen. Es wirkt sich auf Beziehungen aus, auf die Zeit, die ich zur Verfügung hatte. Von den Medien wurde ich herumgereicht, ja, manchmal auch ausgenutzt. An manchen Tagen, wenn ich in einer Woche 110 Interviews gegeben habe, konnte ich verstehen, wie schlecht es Stars manchmal gehen muss. Andererseits wollte ich nicht irgendwelchen Pseudo-Experten das Feld überlassen.

 

Dschihadismus-Forschung ist für manche fast schon hip geworden. Junge Leute finden das hochspannend, und man braucht ja auch Leute, die sich mit dem leidigen Thema auskennen. Ich würde aber keinem Menschen raten, sich das anzutun. Dschihadismus hat einfach nichts zu bieten. Außer einem mörderischen Heilsversprechen. Das macht es so nervtötend, sich mit der Ideologie zu befassen.

 

Die Dschihadisten haben kulturell nichts geschaffen, sie betreiben keine Forschung, sie schreiben keine schönen Gedichte, sie haben Musik verboten. Das einzige, was sie geschaffen haben, ist eine »Große Erzählung«, ein Epos – ein dschihadistisches »Star Wars«. Mit Helden, Prinzen und Quasi-Propheten wie Bin Laden oder dem Pseudo-Kalifen von Daesh verteidigen sie als das absolut Gute: ihren Islam, gegen die Weltverschwörung der Kreuzzügler und deren Verbündete sowie die Zionisten. Gemeint sind die USA, deren westliche Alliierte und Israel. Hinzu kommen als Feinde die ketzerischen Diktaturen der arabischen Welt.

 

Die Dschihadisten haben kulturell nichts geschaffen, sie betreiben keine Forschung, sie schreiben keine schönen Gedichte, sie haben Musik verboten.

 

Die Dschihadisten haben für ihre große Erzählung die Symbole des Islams geraubt. Das Banner und das Siegel des Propheten etwa, die viele Menschen für das Daesh-Logo halten. Sie verkleiden sich, um so auszusehen wie die Gefährten Muhammads. Und das alles, um mit zwei verlogenen Heilsversprechen zu rekrutieren. Erstens: Kommt zu uns, der einzig wahren Glaubensgemeinschaft, dann werden all eure Sünden vergeben. Und zweitens: Wenn ihr dann auch noch im »Kampf« sterbt, am besten durch Selbstmordattentate, bekommt ihr ein Sofort-VIP-Ticket für das Paradies, während alle anderen Muslime auf den Tag des Jüngsten Gerichts warten müssen. Es ist eine verblendete Bewegung, die das Elend der Welt für sich ausnutzt, das Elend von jungen Menschen rund um die Welt. Ich hoffe, irgendwann mit dieser Antikultur des Dschihadismus gar nichts mehr zu tun zu haben.

 

Aber auf der anderen Seite, wem überließen wir das Feld? Als in den schlimmen Jahren 2015 und 2016 die Attentate Europa erreichten, da schmissen sich diese ganzen Pseudo-Experten auf das Thema, um sich selbst zu profilieren. Aber man braucht auch das historische Gedächtnis dafür. Wer hat sich sonst die ganzen Pamphlete alle schon mal durchgelesen oder die ganzen Videos angeguckt?

 

Wenn man sich darauf einlässt, muss man viele schöne Dinge im Leben dagegenhalten. Anders ist das totale Grauen einfach nicht auszuhalten. Ich habe es ausgehalten, zum großen Teil, weil ich vorher als Kriegsjournalist bereits viel Grauen gesehen hatte. Von Irak bis zu meiner eigenen Haustür in Paris war ich Zeuge von Attentaten. Ich möchte nicht ins Detail gehen. Aber wenn etwa im Irak die verstümmelte Leiche eines Kollegen im Kofferraum eines gelben Taxis in die Leichenhalle gebracht wird, kann man so etwas einfach nie vergessen.

 

Ich denke nun vor allem an junge Leute, die sich jetzt mit Dschihadismus beschäftigen – viele sind brillant, aber was wird das Thema mit ihnen machen? Wie verändert man sich, wenn man sich dauerhaft mit dieser rückwärtsgewandten Ideologie, mit dieser Brutalität auseinandersetzt?

 

Ich bin besorgt, dass uns der Dämon Dschihadismus noch Jahrzehnte verfolgen wird. Vielleicht kann man das Niveau irgendwie so runterdrücken wie bei den Neonazis in Deutschland. Aber mich bedrückt zutiefst, was diese negative Ideologie mit unserer Gesellschaft gemacht hat. Sie hat sie gespalten und den Rechtspopulisten Auftrieb verschafft. Und sie hat uns vor allem unsere Nachbarn im südlichen Mittelmeer fremd gemacht – dabei vereint uns viel mehr, als uns trennt.


Asiem El Difraoui ist Politikwissenschaftler und Dschihadismus-Forscher. Als Mitgründer der Candid Foundation ist er seit 2015 einer der Herausgeber von zenith.

Von: 
Asiem El Difraoui

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