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Expertentum und Berichterstattung zum Nahost-Konflikt

Reagieren oder analysieren?

Kommentar
Corona in Palästina
Der Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreifen Wikimedia Commons

Der Hamas-Terrorangriff auf Israel bestimmt die Schlagzeilen. Nun schlägt die Stunde der Experten. Doch die stehen vor einem Dilemma.

Die erste Medienanfrage kommt am Samstagmorgen um 8 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt gelangen die ersten Meldungen über den, wie sich sehr schnell herausstellt, größten Terrorangriff, den Israel in seiner Geschichte je erlebt hat, gerade in die Newsrooms der Welt. Wer sich lange mit dem Nahen Osten beschäftigt und als Experte Rede und Antwort zu Hintergründen und Aussichten gibt, hat sich in der Regel zur Maxime gemacht: nicht überreagieren. Nicht jede Demonstration mündet in der Revolution, nicht jeder Anschlag, nicht jedes Feuergefecht endet im Flächenbrand.

 

Ereignisketten, wie sie an diesem zweiten Oktober-Wochenende ihren Lauf nahmen, stellen solche Annahmen naturgemäß auf den Kopf – und wirken sich eben auch darauf aus, was man als Experte in den wenigen Live-Minuten auf Sendung mitteilen möchte. Lässt sich kompetent antworten auf die Frage, in welche Richtung der Nahost-Konflikt sich entwickelt, wenn man die Hamas-Operation, zumindest in dieser Größenordnung, nicht auf dem Zettel hatte?

 

Ja und nein. Wenn sich beinahe stündlich die Nachrichtenlage überschlägt, lässt sich nur schwerlich Schritt halten und mehr als Reaktionen sind schon rein zeitlich kaum möglich. Das gilt umso mehr für die ohnehin begrenzten Slots im Live-Programm. Und selbst Sondersendungen bestehen oft eher in einer Aneinanderreihung von Reaktionen. Und die, so deutlich muss das gesagt werden, sind nicht die Aufgabe der Experten. Unser Geschäft ist die Analyse. Und dennoch lässt sich da mitunter ein Kompromiss finden.

 

Die Einordnung des vermeintlichen Scoops erwies sich dann eben doch als nützlich

 

Bestes Beispiel: Der Bericht des Wall Street Journal, der bereits am Wochenende die Planungen für den großangelegten Anschlag minutiös nachzeichnete. Die Kollegen des ansonsten reputablen Blattes waren wohl dem Druck nach schnellen Erklärungen erlegen. Bei genauerer Betrachtung braucht es auch nicht lange, um zu erkennen, wie unwahrscheinlich es ist, dass Irans Außenminister Hossein Amir-Abdollahian, dessen Bewegung ein Dutzend Geheimdienste auf Tritt und Schritt verfolgen, unbemerkt zu einem Geheimtreffen mit Hamas und Hizbullah in Beirut spazieren kann.

 

Die Einordnung des vermeintlichen Scoops erwies sich dann eben doch als nützlich, schließlich bot sich so die Gelegenheit, statt bloßer Reaktion ein wenig Analyse einzustreuen: Nämlich darüber, wie Irans Regime seine Außenpolitik führt, in welchem Verhältnis Teheran zu seinen Vasallen steht, wie eigenständig oder abhängig seine Verbündeten von der Islamischen Republik sind.

 

In anderen Themenfeldern gestaltet sich das ungleich schwieriger, allen voran dem zentralsten: dem Nahost-Konflikt. Bei kaum einem anderen Thema ist die Wahrscheinlichkeit so groß, ungewollt in eine Schublade gesteckt oder vereinnahmt zu werden. Es ist nicht Aufgabe, Leid, Menschenleben oder Anteilnahme gegeneinander aufzuwiegen – und darauf konzentriert sich das Interesse nicht nur in vielen Medienanfragen, sondern vor allem in der Reaktion des Publikums. Was hängenbleibt ist oft genug: Experte X ist steht auf Seite der Israelis – oder der Palästinenser. Betont die eine Seite mehr als die andere. Wer Hintergründe erklären möchte, kommt so oft in die Situation, dass Positionierung verlangt und mitunter einzig akzeptiert wird.

 

Diese Aufregungsspirale dreht sich auch ohne uns Experten und es ist auch nicht unsere Aufgabe, sie einzuhegen – das könnten wir auch gar nicht (wenngleich etwa der rapide Wandel von Twitter zum wichtigsten Hassverstärker im Netz wenig weiterhilft). Stattdessen geht es darum zu zeigen, welchen Beitrag Expertise und Analyse in Zeiten wie diesen leisten können. Ich kann nicht in Echtzeit während der Schalte überprüfen, ob Hamas-Kämpfer israelische Babys in Kfar Azza enthauptet haben. Ich kann aber nachzeichnen, wie und warum Menschen aus dem Gazastreifen auf Israel schauen, aus welchen Lebenserfahrungen welche Weltsichten erwachsen, warum sich Menschen der Hamas anschließen. Und trotzdem wird solch eine Perspektive auch gerne als Rechtfertigung für den Hamas-Terror abgetan.

 

Entscheidungen, die unter diesem Druck getroffen werden, haben möglicherweise fundamentale Folgen für die kommenden Jahrzehnte

 

Dennoch lohnt es sich, am Ball zu bleiben, wenngleich gerade unter jenen Kollegen, die sich seit Jahren und Jahrzehnten mit dem Nahost-Konflikt beschäftigen, eine Resignation breitmacht, die über das sonstige Maß weit hinausgeht. Zwei Zielgruppen sollten dabei im Vordergrund stehen. Da wäre zum einen jener Teil der interessierten Öffentlichkeit, der der überdrehten Aufregungs- und Reaktionsspirale ebenso überdrüssig ist und sich in dem Wust an Meldungen und Posts überfordert fühlt, aber mehr lernen möchte. Vielleicht, um dann auch zu reagieren. Möglicherweise nicht im Netz, aber mit Freunden, Kollegen – Menschen, die das Thema Nahost-Konflikt berührt.

 

Das ist völlig legitim und wir Experten sollten diesem Bedürfnis einer interessierten Öffentlichkeit, konversationsfähig zu bleiben (oder zu werden) entgegenkommen. Schließlich gehört es zu unseren Kernkompetenzen, komplexe Zusammenhänge und Entwicklungen verständlich herunterzubrechen.

 

Klar muss aber sein: Wer mitreden will, muss sich Zeit nehmen. Die Genese der Hamas seit den Achtzigern, der Aufstieg der religiösen Rechten in der israelischen Politik, die zahlreichen (und recht konkreten) Friedenspläne und Verhandlungsrunden ebenso wie Perspektiven auf und Involvierung in den Nahost-Konflikt in den vielen so unterschiedlichen Ländern der Region: All das passt nicht zwischen Sport und Wetter.

 

Die zweite Zielgruppe ist vielleicht noch entscheidender: Entscheidungsträger oder auch einfach die Politik, die in diesen Tagen wohl am meisten von der Nachrichtenlage getrieben wird. Bundeskanzler Olaf Scholz ließ nun verlautbaren, in diesem Nahost-Konflikt hätte ein »Ja, aber« keinen Platz. Viele Kollegen mögen sich gerade über zwanzig Jahre zurückversetzt fühlen: in die Tage und Wochen nach dem 11. September 2001. Gerade vor dem Hintergrund dieser Erfahrung macht sich das Gefühl breit: In diesen Tagen ist der Handlungsdruck so gewaltig und zugleich so weitreichend, dass Entscheidungen, die unter diesem Druck getroffen werden, möglicherweise fundamentale Folgen für die kommenden Jahrzehnte haben.

 

Weite Teile der israelischen Öffentlichkeit haben nicht vergessen, was in Deutschland medial dann doch in den Hintergrund gerückt ist

 

Noch mehr als für uns im Westen gilt das übrigens für eigentlich alle beteiligten Akteure vor Ort: So drohen etwa Iran und Hizbullah, in die selbst gestellte ideologische Falle zu tappen: Auch wenn vieles darauf hindeutet, dass die Hamas die Terroroperation weitestgehend selber ausgebrütet hat, müssen Nasrallah und Khamenei die »Einheit« ihrer »Widerstandachse« betonen. Auch jegliche Gräueltaten müssen mit den übergeordneten Zielen gerechtfertigt werden. Vor allem aber gilt es, Gesicht zu bewahren, Stärke zu demonstrieren und dabei womöglich zu bluffen. Auch wenn das bedeutet, sich auf einen Krieg einzulassen, von dessen Ausgang man weit weniger überzeugt ist, als man es nach außen zeigen darf.

 

Auch in Israel wachsen, nachdem sich der erste Schock einigermaßen gelegt hat, die Zweifel, ob diese Regierung tatsächlich in der Lage ist, richtig auf die Lage zu reagieren. Benyamin Netanyahu hat zwar ein sogenanntes Kriegskabinett ins Leben gerufen, das mit seinem politischen Widersacher Benny Gantz auch einen Karrieresoldaten umfasst. Dennoch befürworten einer aktuellen Umfrage zufolge, die der Journalist Ben Caspit auf Twitter teilte, 56 Prozent der Israels einen Rücktritt des Premierministers nach Ende der Gaza-Operation (wobei deren Umfang und Länge kaum zu berechnen sind).

 

 

Denn weite Teile der israelischen Öffentlichkeit haben nicht vergessen, was in Deutschland medial dann doch in den Hintergrund gerückt ist: Nämlich die größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes, die im Übrigen auch immer mehr Israelis dazu bewogen hat, einen Zusammenhang zwischen Besatzungspolitik, Sicherheitslage und den (bedrohten) demokratischen Errungenschaften Israels zu ziehen. Prominent vertreten unter diesen kritische israelischen Stimmen sind im Übrigen prominente Figuren des israelischen Sicherheitsapparats. Zuletzt kritisierte etwa Ex-Mossad Tamir Pardo im September, dass Israel im Westjordanland und im Gazastreifen Bedingungen, die das Land weniger sicher machten (und spracht dabei im Übrigen auch ganz offen von »Apartheid«).

 

 

Fachmedien und Experten muss es auch darum gehen, solche Perspektiven wiederzugeben, die ein realistisches Bild vom öffentlichen Diskurs in den Ländern unserer Berichterstattungsregion wiedergeben. Das gilt für Israel, aber in diesen Tagen insbesondere für die vielen anderen Länder dieser Region. Nur so lässt sich eben auch erklären, warum so viele Menschen im Nahen Osten – ähnlich wie im letzten Jahr zu beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine – eine so unterschiedliche Sicht auf Israel haben als viele Gesellschaften im Westen – und auch, wie Politik und Öffentlichkeit damit umgehen können.

Von: 
Robert Chatterjee

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