Lesezeit: 8 Minuten
Dichter und Orientalist Friedrich Rückert

Schweres Blut, leichte Verse

Essay
Friedrich_Rückert_app..jpg

Welchen Wert hat Dichtung heute? Mit einer beherzten Neulektüre des Orientalisten Friedrich Rückert lässt sich die Gegenwart doch noch zum Besseren wenden

In einer Zeit, da alles prosaisch entschlüsselt und vermessen erscheint, strebt niemand mehr nach Erkenntnisgewinn aus lyrischem Geplänkel – so scheint es. Doch gerade die Berichte über die politische Großwetterlage konfrontieren uns regelmäßig mit epischen Vergleichen, die sintflutartige Katastrophen an die Wand projizieren: Die Rede von der »Flüchtlingswelle« und dem anhaltenden »Flüchtlingsstrom« im Spätsommer und Herbst 2015 hallt noch immer nach.

Dass Poesie in dieser Gemengelage als Fluchthelferin vermitteln und aufklären kann, behauptet nun Stefan Weidner in einem impulsstarken Essay. Der 150. Todestag des vielfach gerühmten und zugleich unrühmlich vernachlässigten Dichters und Gelehrten Friedrich Rückert im Jahr 2016 bot dem ebenfalls gelehrsamen und dichtenden Stefan Weidner den Anlass für seine These mit dem Titel: »Fluchthelferin Poesie – Friedrich Rückert und der Orient«, die jetzt im Wallstein Verlag erschienen ist. 

Wie kein Zweiter verstand es der »Abendländer im Morgenlande«, lyrisch-leichtfüßig in allerlei neue Gewänder zu schlüpfen 

Die sogenannte Flüchtlingskrise erzeugt bei Weidner einen Widerhall, in dem er die Erfahrung Rückerts, des polyglotten Übersetzers zahlreicher orientalischer Sprachen, in der realen Fluchtbewegung unserer Zeit gespiegelt sieht. Sowohl die Flüchtenden als auch Rückert strebten demnach einem idealisierten Sehnsuchtsort entgegen – der sich im Laufe der Zeit freilich diametral gewandelt hat. Die Zerrissenheit, die wir heute allerorten im »Orient« beobachten, herrschte zu Rückerts Lebzeiten (1788–1866) in Europa vor, allen voran den deutschen Landen. 

Nur: Wer war dieser Rückert? Beinahe anmaßend titelte die Süddeutsche Zeitung zum jüngsten Jubiläum des eigentümlichen Sprachgenies am 31. Januar 2016: »Vergesst Goethe, lest Rückert«. Dabei pflegten beide Dichter ein wertschätzendes Verhältnis: Als »alten Teufelskerl« bezeichnete der viel jüngere Rückert den betagten Dichterfürsten, der mit seinem »West-Östlichen Divan« (1819) den 31-jährigen Panglottisten in Wallung versetzte. Doch im Gegensatz zu Goethes orientalisierter Dichtung beabsichtigte der sprachfromme Rückert, seinen Zeitgenossen einen möglichst authentischen Eindruck östlicher Sprachgewandtheit zu vermitteln. Was ihm letzten Endes auch den Ruf einbrachte, selbst ein »deutscher Hafiz« zu sein. 

Und dennoch: Nur alle Jubeljahre erinnert man sich bislang an den Sohn der Stadt Schweinfurt zurück. Trotz seiner weltgewandten Sprachbeflissenheit blieb »der deutsche Bändiger der orientalischen Form« seiner süddeutschen Heimat stets aufs Tiefste verbunden. Auf seine mainfränkische Herkunft gemünzt, sagte Rückerts Frau Luise, geb. Wiethaus-Fischer, einmal: »Die Weinlese-Trommel muss für dich sein, was dem Schweizer sein Kuhreigen.« 

Von dieser stark verwurzelten Identität zeugt auch die äußere Erscheinung des eigenwilligen Fritz, wie Rückert im engeren Kreis gerufen wurde. Ein Weggefährte der Jugendzeit beschrieb ihn mit den Worten »eine vollkommene Riesengestalt, altdeutsche Tracht, langer Schnurrbart, dunkles Haar, das in langen, dichten Locken auf die breiten Achseln fällt, die Augenbrauen finster zusammengezogen, die Augen gedankenvoll, bieder, bald kindlich milde, bald kriegerisch blitzend«. Hinter dem tiefen Blick verbarg sich jedoch eine unbändige Fantasie. Wie kein Zweiter verstand es dieser »Abendländer im Morgenlande«, lyrisch-leichtfüßig in allerlei neue Gewänder zu schlüpfen. Von einer schrulligen Zurückgezogenheit Rückerts erzählt wiederum eine Anekdote des berühmten Indologen Friedrich Max Müller (1823–1900), der in Berlin darauf drängte, dem großen Dichter vorgestellt zu werden. Bei einem königlichen Bankett sollte er mit folgendem Hinweis die Gelegenheit dazu bekommen: »Der breitschultrige Bauer, der da ein großes Stück Brot mit den Ellbogen auf dem Tisch verzehrt, das ist unser Dichter!« In solchen Momenten traf vielleicht zu, was an anderer Stelle über den eigenwilligen Genius kolportiert wurde: »Rückerts Sinn war vielleicht mit der Weisheit des Orients beschäftigt und ruhte betrachtungsvoll unter Palmen.« 

Dass Rückert eine zutiefst melancholische Gestalt war, springt einem aus jedem seiner Porträts entgegen. »Das sorglose unbeschwerte Genießen lag seinem eher schwerblütigen Charakter nicht«, sagt auch Ingeborg Forssman, die Biografin von Rückerts Frau Luise (1797–1857). »Nur dank ihrer Fürsorge und ihrer Nähe konnte er das Leben ertragen.« Die innige Zuneigung zu seiner »Liebesfrühlingsluise«, die ihm zehn Kinder gebar, besang der Familienmensch all die 37 Ehejahre und noch über ihren Tod hinaus in geradezu hymnischer Weise. 

Rückerts Kinder überlieferten eine Begebenheit aus dem sonntäglichen Gottesdienst, als einmal einem kleinen Mädchen beim Anblick des stattlichen greisen Mannes die Frage entfuhr: »Du, Vater, ist das der liebe Gott?« Und in der Tat: Rückerts Werk trägt für sich genommen übermenschliche Züge. Über 2.150 seiner Gedichte sind im 19. Jahrhundert veröffentlicht worden. Darunter allein in 17 Auflagen der vielfach vertonte »Liebesfrühling«. Aus heutiger Sicht ist der Erfolg seiner profanen Liebeslieder dem gelehrten Dichter jedoch gleichsam zum Verhängnis geworden: Außer in Fachkreisen ist Rückerts restliches Werk in Vergessenheit geraten. Dabei gehörten noch in der Weimarer Republik seine Gedichte zum Schulkanon wie z. B.: Es ging ein Mann im Syrerland, / Führt’ ein Kamel am Halfterband. / Das Tier mit grimmigen Gebärden / Urplötzlich anfing scheu zu werden ... 

Rückerts Flucht in die geistigen Sphären des Ostens bewahrte ihn davor, mit der tatsächlichen Realität des Orients seiner Zeit konfrontiert zu 

Auch wenn diese einleitenden Verse unweigerlich den Eindruck von Karl May erwecken, war sein lyrisches Schaffen für Friedrich Rückert in erster Linie ein Schlüssel, mit dem er der deutschen Sprache neue Welten aufschloss. So beruht die zitierte Weisheitsparabel auf Versen aus dem indischen Mahabharata-Epos, die neben dem großen Mystiker Dschalaladdin Rumi eben auch den »gewandten Meister deutscher Töne« – wie Rückert unter anderem gerufen wurde – inspirierte. 

»DER SCHULMEISTER VON HIMS« 

(...) Du hast dem Werke die Kron’ aufgesetzt – und deines Lehrers Augen mit Freudenthränen genetzt. –
Du lügst, um zu leimen; –
und rügst, um zu reimen; –
du gehörst zu den Philologen, –
die so heißen, weil viele logen. (...) 

Als Professor für orientalische Sprachen in Erlangen, später in Berlin, genoss er den Ruf eines »herzgewinnenden Lehrers«, der zahlreiche Studenten anzog – wobei er seine Lesungen selbst am liebsten im Morgenrock in der heimischen Gelehrtenstube abhielt. Als leibhaftig gewordener »Thesaurus der Weltliteratur« beherrschte Rückert über 44 Sprachen, neben den semitischen und indischen Sprachen so exotische wie Hawaiianisch und Tschagataisch. Und das alles, ohne jemals einen Perser, Araber oder Inder gesehen, geschweige denn gesprochen oder überhaupt gehört zu haben. 

»ZU ROSTEM UND SUHRAB« 

Dacht’ ich Wunder,
was ich hätte zu Wege gebracht,
Und hab’s euch wieder nicht recht gemacht, Da ich euch Rostem und Suhrab
Aus Fülle meines Herzens gab.
Ihr sprecht: Auf deutschen Bühnen Was sollen die fremden Hünen?
(...)
Statt meiner fremden Hünen empfehl’ ich euch
Ihr lieben Enkel von Freia
Lest zu Eiapopeia
Hinkel. Gokel und Gakelei. 

Das Tamilische eignete er sich innerhalb weniger Monate an, um dem Wunsch eines Adherenten gerecht zu werden, in dieser Sprache unterrichtet zu werden. Auf die Veröffentlichung der sprachlichen Nachbildung der »Makamen des Hariri« aus dem Arabischen, einer Art lyrischen Eulenspiegels (1826), reagierte der französische Orientalist Silvestre de Sacy (1758–1838) dereinst mit den Worten: »Dank Ihnen wird nun jemand, der Deutsch kann, nicht mehr Arabisch lernen brauchen.« 

Geflissentlich bezeichnete das »Riesenkind orientalistischen Fleißes mit deutscher Muse« sein Lebenswerk selbst als buntfaserigen Teppich, was die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel zu der Vermutung veranlasste: »Kann man nicht seine ganze Kunst als unauflösbares Gewebe feinster Fäden östlicher und westlicher Kultur ansehen?« Gleichzeitig lag es wohl an eben dieser Zwitterhaftigkeit, die weder vom Publikum noch von den Orientalistenkollegen je so recht in ihrer Bedeutung gewürdigt wurde. Dabei klingt Rückerts Vision so einleuchtend, und Stefan Weidner legt sie uns in »Fluchthelferin Poesie« von Neuem ans Herz: Wenn wir uns mit der Poesie fremder Völker befassen, erschließt sich uns ein neues Lebensgefühl. So reiht sich das Fremde wie ein neuer Stern an unseren Horizont. 

Rückerts Flucht in die geistigen Sphären des Ostens, der kongeniale Nachdichtungen wie »Die Weisheit des Brahmanen« (1835) entsprangen, bewahrte ihn jedoch davor, mit der tatsächlichen Realität des Orients seiner Zeit konfrontiert zu werden. Dieser romantische Schutzschild zwischen Vorstellung und Wirklichkeit löst sich beim heutigen Aufprall der Geflüchteten mit der europäischen Realität jedoch in Luft auf. 

Doch davon lässt sich Weidner in seinem Essay nicht beirren. Vielmehr gelingt es ihm, die Weltanschauung Rückerts in unseren heutigen Kontext zu übertragen. Das mag verrückt klingen, ist aber – wie das Beispiel eines Verses zeigt – ganz und gar verrückert: Mög’ euch die schmeichelnde Gewöhnung / Befreunden auch mit fremder Tönung, / Daß ihr erkennt: Weltpoesie / Allein ist Weltversöhnung. Dennoch: Wie bitte kann uns die Poesie in Zeiten, da reale Fluchterfahrungen Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit und unseres Alltags werden, aufklären und Annäherung stiften? 

»DER ABENDLÄNDER IM MORGENLAND« 

Auszog ich aus dem Abendlande, Ausziehend seine Sitten,
Im morgenländischen Gewande Durch Morgenlandes Mitten.
(...)
Ich sprach: daß ich mit Rechte rühme, Mich gründlich zu belehren, Will ich in eigenem Kostüme
Mit jedem Volk verkehren.
(...)
Geh weg, man rechnet dir zur Schande Die farbigen Gewänder.
Was spielst du Narr im Morgenlande Den einzigen Morgenländer. 

In der Begegnung und Auseinandersetzung mit neuen, fremden Gedankenwelten – wie wir sie jetzt im Angesicht der Geflohenen erwarten – »wird die Poesie, besonders aber die Übersetzung von Poesie und das Nachdenken darüber, wahrlich zu einer Fluchthelferin«, so Weidner. Wir fänden darin »das geistige Rüstzeug«, das uns dem Neuen gegenüber nicht nur öffne, sondern auch dessen Integration ermögliche – und zwar wechselseitig. Die Voraussetzung einer solch weltversöhnenden Poetik liegt daher in der Sprache selbst verankert, oder wie Rückert reimte: Mit jeder Sprache mehr, die du erlernst, befreist / Du einen bisdaher in dir gebundnen Geist, / Der jetzo thätig wird mit eigner Denkverbindung / Dir aufschließt umbekannt geweßne Weltempfindung. 

»Ich sage mir oft, dass Dichten mein einziges Handeln ist«, so gab Rückert sein eigenes Mantra wider. Und eben darin liegt auch der Wert, den wir heute wieder aus jenen lyrischen Sprachspielen ziehen können, mit dem er die Welten verband. Begriffen als solche fantastische Welterweiterungsmaschine, wie Stefan Weidner am Ende seines Plädoyers für Rückerts dichterischen Universalismus ausführt, kann die Poesie genauso als geschliffene Nadel dienen, »mit der wir die aufgeblasene Gegenwart mit einem lauten Knall zum Platzen bringen können«. • 

Von: 
Ruben Schenzle
Fotografien von: 
Reproduktion Günter Josef Radig, nach einem Gemälde von B. Semtner, herausgegeben 1876 von Sophus Williams Verlag Berlin

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.