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Religion und Ethik

Ich glaube, also bin ich

Feature
Hagia Sophia
Die Hagia Sophia ist Sinnbild für die Geschichte der Weltreligionen. Erbaut wurde sie 537 als christlich-orthodoxes Gotteshaus, im 13. Jhd. katholisch geweiht und schliesslich 1453 in eine Moschee umgewandelt. Foto: Daniel Gerlach

Infolge von Globalisierung und Radikalisierung suchen mehr Menschen denn je nach Identität durch ­Abgrenzung vom jeweils anderen. Die Weltreligionen wirken hierbei mit frisch entflammter Kraft, bieten aber auch neue Chancen.

Religiöse Konzepte finden weltweit wieder Eingang in die Politik, mit dem Ziel der Legitimierung von Herrschaft: Hier sind wir und dort die anderen. China sucht mit einer Neuauflage des Konfuzianismus die Kommunistische Partei zu legitimieren. In Indien kreiert eine hinduistische Regierung ein nationalistisches Narrativ, das Muslime bewusst ausschließt. Im Russland von Wladimir Putin wird das orthodoxe Christentum in Stellung gebracht gegen eine behauptete Dekadenz des westlichen, freiheitlichen Demokratiemodells. In der Türkei beseitigt Machthaber Erdoğan das laizistische Narrativ der Republik und verbindet Muslim-­Sein mit Türke-Sein. In den Vereinigten Staaten von Amerika erhöht ein populistischer Präsident den Anspruch seiner Wählerschaft, die Besonderheit und die Erwählung der USA und ihren utopischen, quasi-religiösen Gründungsmythos neu zu erwecken. In Europa wird das Christliche als Alleinstellungsmerkmal des Abendlands wiederentdeckt: Die Rede davon bewegt Wahlkämpfe in vielen Ländern der Alten Welt.

Das, was die jeweilige Kulturregion auszeichne, sei die Religion: der Konfuzianismus, der Hinduismus, das russisch-orthodoxe Christentum, der sunnitische Islam, die Erwählung durch die Vorsehung, das lateinische Christentum. Es werden nirgends etwa die Merkmale von Herrschaft selbst, wie sie in Demokratien verstanden werden, hervorgehoben – Parlamentarismus, Konstitutionalismus, die Menschenrechte, die Gewaltenteilung. Es ist das religiöse Erbe, das, neu aufgeladen und interpretiert, dazu genutzt wird, Menschen eine Identität zu vermitteln. Eine Identität durch Abgrenzung. Da diese Suche nach Identität heute ein globales Phänomen ist, spreche ich davon, dass wir in einem »Zeitalter der Identität« leben. Globalisierung und Digitalisierung haben nicht nur unsere Ökonomie verändert, sie üben auch einen Druck auf den Einzelnen und die Gesellschaften, das soziale Gerüst von Gesellschaften aus.

Am deutlichsten sichtbar wird dies in der islamischen Welt: Muslime in Nigeria wissen heute, wie Muslime in Malaysia leben. Die Frage nach dem »wahren Islam«, der richtigen Auslegung und Interpretation der Religion, seiner Zukunft, ist allgegenwärtig. Zudem ist die Begegnung mit der westlichen Moderne, mit der nicht islamischen Welt, immer noch eine Herausforderung. Es lastet also ein doppelter Druck, von außen und von innen, auf der islamischen Welt.

Die islamische Welt steht beileibe nicht allein da: Die gewaltbereite Einfalt, die monolithische ­Selbstsicht sind Rhetorik und Methode in Moskau und Delhi, in Ankara und Peking, in Budapest und Washington

Der islamistische Terrorismus, die Frucht einer antimodernen, der wahhabitischen Auslegung des Islam, richtet sich daher zuallererst gegen die islamische Welt in ihrer Vielfalt, gegen die Muslime selber. Sie haben daher die höchste Opferzahl durch diesen Terrorismus zu beklagen. Der Terror richtet sich ­gegen die Pluralität in islamischen Gesellschaften, gegen die religiösen und ethnischen Minderheiten, gegen neue Interpretation der Religion. Zukunft ist nichts anderes als angewandte, sich wiederholende Vergangenheit. Das erklärt die intellektuelle Lähmung in der arabischen Welt.

Der Vielfalt der Welt von außen, der Vielfalt einer Welt im Inneren wird mit einer gewaltbereiten Einfalt begegnet, einer Erzählung, die singulär ist und das eigene wie einen Monolith beschreibt. Hier steht die islamische Welt beileibe nicht allein da, das ist Rhetorik und Methode in Moskau und Delhi, in Ankara und Peking, in Budapest und Washington. Auch das Abendland bleibt in seiner Bestimmung auf das Christliche fixiert und damit in der Abgrenzung vom Morgenland, der arabisch-islamischen und der türkisch-islamischen Kulturwelt: Das Konzept des Christlichen hat in Westeuropa schon seit dem Untergang des Römischen Reiches zur Legitimierung der weltlichen Herrschaft gedient. Legitimität, die in dieser Zeit geschichtlich und nicht durch Wahlen vermittelt wurde. Geschichte bedeutet hier nicht Reisebericht, Reportage im Sinne des griechischen Autors Herodot, sondern das Herauslesen eines höheren Sinns, einer Bestimmung, einer göttlichen Vorsehung.

Geschichte ist im Abendland nicht das, was geschieht, sondern das, was das Geschehene bedeutet. Das Christentum bringt den Gedanken in die Welt, dass Geschichte Heils-Geschichte ist. Damit ist das konstante Eingreifen Gottes in die Welt bezeichnet: Der Lauf der Geschichte wird mit einer Bedeutung geadelt, die zu erkennen und offenzulegen eine Aufgabe, eine Möglichkeit des Menschen ist. Die darauf aufbauende Geschichtsphilosophie des Abendlandes liebt die Spekulation über den Sinn der Welt: Hegels Geschichtsphilosophie ist der bekannteste neuzeitliche Versuch, der Geschichte einen metaphysischen Sinn abzutrotzen. In seiner Tradition stehen Denker wie Oswald Spengler mit seinem Untergang des Abendlands, ebenso wie Francis Fukuyama und sein Modell vom »Ende der Geschichte«. Auch Samuel Huntingtons »Kampf der Kulturen« ist in Struktur und Aufbau der Hegel’schen Geschichtsspekulation verwandt.

Der islamistische Terrorismus richtet sich daher zuallererst gegen die islamische Welt in ihrer Vielfalt: gegen die Pluralität in islamischen Gesellschaften, gegen die religiösen und ethnischen Minderheiten, gegen neue Interpretationen der Religion

Aus der religiösen Wucht des europäischen Denkens über den Sinn der Geschichte erwächst in der Neuzeit ein neuer Zweig: der utopische Fortschrittsgedanke, der im Kern säkular-religiöse Glaube an ein nach vorn, zum Besseren fortschreitendes Streben des Menschen. Es ist der Glaube an die Befähigung des Menschen, sein Leben in die Hand zu nehmen und zu verbessern, in Europa vor allem manifest geworden in der Theorie von Karl Marx, der dem entfremdeten Menschen seinen Platz in der Geschichte zurückgeben will. Der mächtigste Spross dieses neuzeitlichen, aus der christlichen Heilsgeschichte geborenen Glaubens ist die amerikanische Konzeption des »Manifest Destiny«, die an ein innenzeitliches Utopia, an ein neues, irdisches Jerusalem in der Neuen Welt glaubt. Die Vision einer Stadt auf dem Berge, die jenem »neuen, himmlischen Jerusalem« aus der Offenbarung des Johannes an Glorie und Licht in nichts nachstehen muss.

Die Entwicklung des neuzeitlichen Fortschrittsgedankens hat das Christentum aus dem Griff der Legitimation mittelalterlicher Herrschaft befreit. Nicht mehr der Papst oder der Kaiser sind die irdischen Manifestationen von Herrschaft, die Garanten des göttlichen Eingriffs in die Welt. Es ist nunmehr die Geschichte selber, die als Ort des Politischen auch zum Ort des göttlichen Wirkens wird. Deshalb kennt das Abendland eine politische Theologie, ein politisches Christentum, das nichts mit Spiritualität oder religiöser Praxis zu tun hat, sondern damit, das Christliche aus einem frommen Mittelalter in eine säkulare Neuzeit zu überführen. Die große Mehrheit der Europäer gibt an, ihr Leben nach christlichen Werten zu gestalten. Es sind viele, viele mehr als die Zahl derjenigen, die am Sonntag zur Kirche gehen. Die meisten europäischen Aufklärer der Neuzeit sahen eben den Wert der Religion, wenn überhaupt, nur darin, als Zulieferer von Werten zu agieren, als Lehrerin der Moral.

Die meisten Christen leben heute auf dem amerikanischen Kontinent, die meisten Muslime in Südostasien. Rom, Jerusalem und Mekka bleiben dennoch Takt­geber im globalisierten Zustand der Weltreligionen

Das christliche Abendland wird, vor allem in den katholischen Teilen des Kontinents, weiterhin spirituell und religiös wahrgenommen, oft verknüpft mit einer Sehnsucht nach dem Mittelalter, was sich im 19. Jahrhundert in einer Wiederbelebung der mittelalterlichen Kirchenmusik niederschlägt, dem gregorianischen Choral, und in neuromanischen und neugotischen Kirchen, Konzerthallen und Rathäusern sichtbar wird. Damals wie heute sind epochemachende Verwerfungen durch Technologie und Wirtschaft dafür verantwortlich, dass Menschen nach einer Identität und Heimat suchen und das Heil einer Antwort in einem Rückgriff auf das Vergangene suchen.

In den protestantischen Ländern Europas wird mehr politisch als religiös spekuliert und ein Kulturbegriff des Abendlands ausgeprägt, der bis heute eher ein exklusiver ist — also einer, der andere, die Nicht-Christen, heute besonders die Muslime, ausschließt. Gegen das Abendland stehen, von Osten kommend, die Barbaren. Im 20. Jahrhundert wurde darunter vor allem das gottlose, kommunistische Russland verstanden, die an die Stelle der Hunnen getreten sind, jenes asiatische Volk, das einst Europa verheert hat

Das Christentum ist die wichtigste Triebkraft in der Entwicklung dieses Kontinents, so wie es der Islam in der arabischen Welt ist. Was resultiert aber aus einer solchen Aussage?

In gegenwärtigen politischen Bewegungen, die das christliche Abendland hervorheben, wird ähnlich operiert wie in den anderen Weltteilen: Das eigene wird überhöht, um dem anderen darin keinen Raum zu geben. China ist konfuzianistisch, Russland orthodox, die Türkei islamisch und Europa christlich. Dieses monolithische Denken hält nirgendwo der Wirklichkeit, der geschichtlichen Anschauung, stand. Es ist häufig eher Ausdruck ahistorischen Denkens: Ja, Europa ist christlich, das Christentum ist die wichtigste Triebkraft in der Entwicklung dieses Kontinents, so wie es der Islam in der arabischen Welt ist. Was resultiert aber aus einer solchen Aussage, welche Ableitungen werden heute für das Leben in den Gesellschaften, die vom Christentum und vom Islam geprägt wurden, daraus getroffen?

Das Abendland braucht das Morgenland, das Morgenland braucht das Abendland. Sie brauchen einander als Spiegelbild, als Herausforderung, als Pendant. Im Morgenland erkennen wir den Ursprung unserer Kultur, Jerusalem ist die Wiege unserer Welt. Neben Jerusalem kann nur noch Athen bestehen, die Wiege der Philosophie, der Tragödie, der politischen Staatskunst und der Rhetorik. Von uns aus betrachtet liegt Athen im Morgenland, genauso wie die antiken griechischen Quellen sagen, dass Europa und Abendland von der griechischen Welt aus, im wahrsten Sinn des Wortes, im Obskuren, im Dunklen lagen.

Das Abend- und das Morgenland gehörten im Römischen Reich zusammen, West- und Ostrom. Erst die arabische Expansion im 7. Jahrhundert nach Christi Geburt machte dieser integralen Sicht ein Ende. Das mare nostrum, unser Meer, wie die Bewohner des christlichen Erdkreises das Mittelmeer nannten, war nicht mehr umspannt von einem Reich, sondern von zweien. Gleichzeitig wurde das Erbe Griechenlands in dieser neuen Kulturwelt weitergetragen und interpretiert. Nicht wenige sagen, dass Thomas von Aquin ohne die Übersetzungen des Aristoteles durch die Araber nie zu dem scholastischen Denker avanciert wäre.

Christentum und Islam sind geografisch schon längt aus den Umrissen ihres antiken Geltungsraumes hinausgetreten

Auch das Erbe Roms, Ostroms, um genau zu sein, lebte in den Reichsgedanken der alten islamischen Welt weiter. Die Osmanen betrachteten sich als Nachfahren Roms. Die Eroberung der alten Hauptstadt Konstantinopel war das Siegel der Legitimität dieses Anspruchs. Die antiken Ideen der Philosophie und der Staatskunst lebten sowohl in der christlichen wie der islamischen Welt fort und wurden dort in je eigener Weise weiterentwickelt. Und Jerusalem, als Sinnbild für den Monotheismus, ist bis auf den heutigen Tag ein Brennpunkt. Hier verdichten sich die eschatologischen Hoffnungen und die irdischen Wahrheitsansprüche der beiden großen Weltreligionen. Dabei waren, sind und bleiben diese beiden angefragt und angezweifelt vom Judentum, das als älteste der Ein-Gott-Religionen den ältesten spirituellen Anspruch auf diesen umkämpften Flecken Erde anmeldet.

Die Erzählungen von Christentum und Islam haben sich im Verlauf der Geschichte immer weiter auseinanderdividiert. Dabei sind beide Religionen geografisch schon längt aus den Umrissen ihres antiken Geltungsraumes hinausgetreten: Die Mehrheit der Christen lebt heute auf dem amerikanischen Kontinent, die Mehrheit der Muslime in Malaysia und Indonesien. Rom, Jerusalem und Mekka bleiben dennoch im globalisierten Zustand der Weltreligionen der Taktgeber. Die Last der Geschichte wiegt schwer und mit dieser Last sind die Narrative der Unversöhnlichkeit über die Ozeane gewandert und haben sich in den neuen Welten festgesetzt.

Ein neues Zueinander von Okzident und Orient, Abendland und Morgenland, muss der Anfang einer neuen Ära sein, das Zeitalter eines neuen Narrativs der Kulturen, die das Mittelmeer umwohnen. Es ist die Pflicht des Abend- und des Morgenlands gleichermaßen, im Zeitalter der Identität ein Angebot an die Menschen zu formulieren, das sein Heil nicht in der Wiederholung der Stereotypisierung und Dämonisierung der Vergangenheit sieht. Nur so können beide vor der Geschichte bestehen.


DR. DR. ALEXANDER GÖRLACH ist Affiliate Professor »In Defense of Democracy« am Harvard University College und Fellow des Center for Research in Arts, Social Sciences and Humanities in Cambridge. Er gibt das Online-Magazin www.saveliberaldemocracy.com heraus.

Von: 
Alexander Görlach
Fotografien von: 
Daniel Gerlach

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