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Kurdische Autonomie

Hier in Utopia

Reportage
Hier in Utopia
Foto: Birgit Haubner

Basisdemokratie, Gleichberechtigung, Umweltschutz: In Nordsyrien propagiert der PKK-Ableger PYD nichts weniger als den Aufbau eines neuen Gesellschaftsmodells – nicht nur für Kurden. Doch besteht der »demokratische Konföderalismus« den Praxistest?

Schon in den frühen September-Morgenstunden liegen die Temperaturen am Checkpoint Fisch­khabur, an der Grenze zwischen Irakisch-Kurdistan und Nordsyrien, bei knapp 40 Grad.

Auf der dreistündigen Fahrt von der Hauptstadt der halb autonomen kurdischen Region im Irak durchquert man die Stadt Dohuk. Wie vielerorts in der kurdischen Region ist auch diese Stadt von ausufernden Vororten aus großen Betonklötzen umringt, die die Sicht auf die weite Ebene versperren.

Kurz vor der Stelle, an der die Grenzen von Irak, Syrien und der Türkei aufeinandertreffen, sitzen hunderte Familien im Schatten eines blechernen Sonnendachs vor der Zollbehörde und warten darauf, dass ihre Papiere anerkannt werden, um nach Irakisch-Kurdistan einzureisen. Es hat Wochen gedauert, bis sie die Genehmigungen dafür erhalten haben, die Grenze des kriegsgebeutelten Syriens zu passieren. Die Inspektionen und Kontrollen hier, an der Grenze, verlaufen streng und gründlich – wer keinen triftigen Reisegrund und vollständige Papiere vorweisen kann, dem wird die Einreise verweigert.

Der Norden Syriens ist de facto seit 2012 teilautonom. Damals zogen sich Assads Truppen zurück. Die PYD, als Teil der syrischen Opposition, aber auch Zweig der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sowie ihr militärischer Arm, die »Volksverteidigungseinheiten« (YPG), übernahmen die Kontrolle in dieser Region. Die PYD ist die dominante Kraft in den Kantonen Cizire, Kobane und Efrin und stieß 2013 die Ausrufung der autonomen kurdischen Verwaltung von Rojava an, die offiziell als »Demokratische Föderation Nordsyrien« firmiert.

Das kurdisch-syrische Projekt präsentiert sich als Alternative zur Autonomieverwaltung in Irakisch-Kurdistan ­sowie zu Assads Zentral­regierung

Eine kleine Metallbrücke für Lastwagen und Autos führt über den Tigris von Irakisch-Kurdistan in den syrischen Teil Kurdistans und zurück. Zivilisten nutzen kleine Motorboote, um den Fluss auf die jeweils andere Seite zu überqueren.

Auf einem der kleinen Boote transportieren zwei ältere Frauen eine Waschmaschine nach Syrien. Außerdem Getreidesäcke und Körbe voller Gemüse. Der nur zwischenzeitlich offene Grenzübergang Fischkhabur ist die einzige legale Einreiseroute für Menschen und Güter zwischen Nordirak und Nordsyrien. Es ist ein geschäftiger Ort, im Norden von der Türkei, im Süden und Osten von Landstrichen umgeben, um die das syrische Regime und die Reste des »Islamischen Staats« (IS) kämpfen.

Diese Lage zwischen den Fronten hat das Gebiet wirtschaftlich isoliert. Es gebe zu wenig Benzin, kaum Brot, Ersatzteile für Autos und Maschinen, Medikamente und Kriegsgerät seien Mangelware, geben viele der Wartenden am Checkpoint Fischkhabur gegenüber zenith zu Protokoll.

Für eine kurze Strecke, auf der irakischen Seite, verläuft die Straße entlang einer scheinbar endlosen, mit Stacheldraht umzäunten Festung aus Beton, die von türkischen Truppen errichtet wurde. Im syrischen Grenzabschnitt bietet sich ein anderes Bild: Niedrige, unverputzte Ziegelhäuser drängen sich um kleine Lebensmittelgeschäfte, auf den umliegenden Feldern grasen Tiere.

»Du bist in Rojava willkommen. Du kannst so lange bleiben, wie du willst«, sagt Arshak Bavari, ein PYD-Funktionär, in dessen Pressezentrum in der Stadt Amuda im Kanton Cizire sich ausländische Journalisten registrieren müssen. Der Beamte erzählt unter anderem von qualvollen Haftstrafen, die er absitzen musste, weil er sich für kurdische Unabhängigkeit eingesetzt habe, als die Region noch unter der Kontrolle des Assad-Regimes stand.

YPG
Kämpfer und Anhänger der kurdischen »Volksverteidigungseinheiten« (YPG): Die Milizen haben den »Islamischen Staat« (IS) aus vielen Gebieten in Nordsyrien vertrieben. Doch haben die kurdischen Idealisten auch das Zeug zum Regieren? Foto: Arianna Pagani

Das kurdisch-syrische Projekt präsentiert sich als Alternative zur Autonomieverwaltung in Irakisch-Kurdistan sowie zu Assads Zentralregierung.

Anstelle der früher allgegenwärtigen Assad-Porträts hängen nun überall gelbe und grüne Flaggen mit rotem Stern, Fotos der im Kampf gefallenen Märtyrer und das Konterfei von Abdullah Öcalan, dem Mitbegründer der PKK.

Öcalans Anhänger propagieren das vom inhaftierten PKK-Chef formulierte Konzept des »Demokratischen Konföderalismus«. Sie plädieren dafür, nationale Grenzen aufzulösen – besonders in Regionen der Türkei, Syriens, des Iraks und Irans mit hohem kurdischen Bevölkerungsanteil – und durch horizontale Selbstverwaltungsstrukturen zu ersetzen, an denen alle Gemeinschaften der Region beteiligt sein sollen. Nach diesen Grundsätzen würden Frauen eine führende Rolle in den Gemeinschaften ausfüllen, Umweltschutz wäre gesetzlich verankert.

YPG-Funktionäre bemühen sich, Besucher von der Wirksamkeit dieses Gesellschaftsmodells zu überzeugen. So auch Nori Mahmud, der in Amude, der Hauptstadt des Kantons Cizire, für die neu geschaffenen Institutionen wirbt: »In jeder Stadt gibt es einen Gemeinderat, bestehend aus Kommissionen, die für Wasser, Sicherheit, Schulen, Umwelt und Geschlechtergleichberechtigung zuständig sind. Auch die einzelnen Straßenzüge formen Bezirkskomitees«, schwärmt er über die Verwaltungsreformen. »Wir sind nicht die Autorität, die Menschen verwalten sich selbst.« Die Ausführungen klingen verheißungsvoll, friedlich, beinahe ideal:

»In jedem befreiten Gebiet«, sagt er, »versuchen wir, ein offenes und inklusives Modell zu schaffen, in dem alle Gemeinschaften – Araber, Kurden, Assyrer, Turkmenen – zusammenleben können und gleichberechtigt sind.«

Inmitten der zahlreichen konkurrierenden und miteinander verwobenen Parteien im syrischen Konflikt haben die kurdischen Kräfte von Beginn an versucht, einen eigenen Platz zu finden. »Wir haben uns für den dritten Weg entschieden – weder mit dem Regime noch mit den Rebellen«, sagt Bavari. »Wir haben hier versucht, die Menschen zu schützen und ihre Rechte zu sichern. Wollt ihr wissen, ob wir die Unabhängigkeit wollen? Nein, wollen wir nicht. Wir glauben nicht an Grenzen. Wir glauben, dass alle – Männer und Frauen – ihre Rechte als menschliche Wesen wahrnehmen können müssen.« Ein paar Kilometer entfernt, nahe Qamischli, im nordöstlichsten Zipfel Syriens, sollen diese Worte Form annehmen. Das Modelldorf Jinwar nimmt Witwen, alleinstehende Frauen und jene auf, die ein traditionelles Familienkonzept ablehnen. Der Name des Pilotprojekts heißt übersetzt so viel wie »Ort der Frauen«.

Jinwar
Im Herbst stehen die letzten Außenarbeiten an den Lehmhäusern im Frauendorf Jinwar an. In dem Dorf sollen unverheiratete Frauen leben, die eine Alternative zur traditionellen Lebensform suchen.
Foto: Birgit Haubner

Hier haben arabische und kurdische Frauen, die vor dem IS geflohen sind, während der letzten sieben Monate 21 Häuser gebaut. Die Projektpläne beinhalten Gemeinschaftsgarten und -küche, einen Bereich für öffentliche Versammlungen, ein Gebäude für kleine Handwerksunternehmen und eine Ausbildungsakademie.

»Wir müssen diese patriarchale Mentalität der Gesellschaft überwinden und versuchen, Religion und Politik zu trennen, damit mehr Frauen selbstbestimmt leben können«, erklärt Romet Heval, eine der Projektinitiatorinnen. »Für Frauen bieten sich mehr Möglichkeiten im Leben als nur Heirat, lebenslange Trauer oder im Haus eingesperrt sein.« Stattdessen würden sie lernen, eigenständig und in Würde zu leben. »In dieser Region haben Frauen großen Mut und Kraft im Krieg bewiesen. Aber es ist wichtig, dass sie im Zentrum des Wiederaufbaus unserer Gesellschaft stehen«, erklärt sie mit Blick unter anderem auf all die kurdischen Frauen, die gegen den IS kämpfen und nicht bereit sind, nach dem Krieg eine Rolle als Heimchen am Herd zu akzeptieren.

Eine von ihnen ist Asmin Kobane. Die 19-jährige Scharfschützin putzt ihre Waffe im Feldquartier der »Frauenverteidigungseinheiten« (YPJ), einer komplett weiblichen Abteilung der »Volksverteidigungseinheiten« YPG. Die kurdischen Streitkräfte rücken seit zwei Jahren vom Norden und Nordosten gegen die IS-Stellungen in der Provinz Raqqa vor und schnürten einen Belagerungsring um die gleichnamige Hauptstadt des selbst ernannten Kalifats. »Wir sind hier wegen der Revolution, um die restlichen entführten Jesiden zu retten.«

Ihre persönliche Zukunft sieht sie dabei verbunden mit den Idealen, für die sie kämpft: »Ich will nicht heiraten. Wir haben noch viele Kämpfe zu bestreiten, nicht nur militärische. Wir müssen die Mentalität unserer Gesellschaft ändern, um sicherzustellen, dass so etwas wie der IS sich nie wieder hier breitmachen kann.«

Ist der demokratische Konföderalismus der Kurden nun eines der wenigen positiven Beispiele für tragfähige Selbstverwaltung, die aus der Tragödie der syrischen Revolution entstanden sind?
Gemeinschaftskooperativen und alternative Ökonomien, in denen der Gewinn unter den Mitgliedern verteilt wird, haben in Nordsyrien an Akzeptanz gewonnen. Und die Einführung der Zivilehe sowie die Abschaffung der Polygamie sind Zeichen einer positiven Entwicklung der Frauenrechte.

Jinwar Lehmhaus
In Jinwar arbeitet eine Frau an der Herstellung von Lehmziegeln. Die ­Mischung aus Erde, Stroh und Wasser wird gestampft, in Holzformen gegossen und sonnengetrocknet. Die dreißig Häuser werden in der traditionellen Kerpiç-Bauweise errichtet Foto: Birgit Haubner

Nichtsdestotrotz bestimme das Fortbestehen des Assad-Regimes unmittelbar den Grad an Autonomie von Rojava, sagt Andrea Glioti, Redakteur der Fachportals Syria­Untold: »Russland hat Ausbilder und Truppen in Efrin, nördlich von Aleppo, stationiert und die USA nutzen Militärstützpunkte in der Provinz Raqqa«, sagt er und fürchtet: »Wie viel des revolutionären und freiheitlichen Gedankenguts kann in Rojava erhalten bleiben, wenn es überlebensnotwendig wird, mit dem Regime und den USA Kompromisse zu schließen?«

Weitere heiße Eisen sind die Miteinbeziehung der Bevölkerung und die Zustimmung der mächtigen, oft konservativen Stämme zu diesen gesellschaftspolitischen Experimenten. Im von den USA seit 2015 unterstützten Milizenbündnis »Demokratische Kräfte Syriens« (SDF) geben die YPG den Ton an. Doch die SDF haben erhebliche Gebiete mit mehrheitlich arabischer Bevölkerung vom IS zurückerobert.

»Die größte Herausforderung des kurdischen Politikmodels wird der Umfang der Demokratisierung in Syrien sein«, so Glioti. Wird die Inklusion der nicht kurdischen Bevölkerung gelingen?

Die Praxis nimmt in den Reihen der SDF zwei Formen an. »Die eine ist eher idealistisch und die andere pragmatisch, aber weniger inklusiv«, meint Glioti.

Denn nach fünf Jahren Krieg sehnen sich viele Menschen nach Rückkehr in ihre Heimatorte und Stabilität – und haben noch wenig Sinn für den großen Gesellschaftsentwurf. »Wir wollen einfach zurück nach Raqqa«, berichten Zivilisten, die einen Monat zuvor aus der umkämpften Stadt geflohen sind und nun, im Oktober, weiter östlich in Lagern in Gebieten untergekommen sind, die im Zuge der Offensive befreit wurden. »Wir haben einen Schmuggler bezahlt, um aus der Stadt zu fliehen. Wir sind sehr müde. Wir haben alles verloren. Wir sind sehr müde.«

Von: 
Sara Manisera
Fotografien von: 
Birgit Haubner

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