Gigantische Bauvorhaben begraben Mekkas historische Struktur unter sich. Doch auch der Kaaba droht Zerstörung von einer rätselhaften Endzeitgestalt. Wer ist das Kerlchen mit den kurzen Beinen? Islamische Überlieferungen geben Aufschluss.
Bei der Modernisierung der heiligen Stadt Mekka und der Ausweitung der Einrichtungen für Pilger geht das wahhabitisch geprägte Regime Saudi-Arabiens drastisch vor. Im Jahr 2012 kamen drei Millionen Pilger in die Stadt, 2013 erhielten dagegen nur zwei Millionen Wallfahrer die Erlaubnis, was bald mit den herrschenden Baumaßnahmen in Mekka, bald mit der Ansteckungsgefahr durch das MERS-Virus begründet wurde. Für 2025 werden nichtsdestotrotz nicht weniger als 17 Millionen Pilger erwartet.
Etwas muss unternommen werden, um diese Masse in der engen, von Bergen umschlossenen Stadt aufzunehmen. In den megalomanen Bauplänen der Saudis ist die Kaaba kaum noch wiederzufinden. Unter dem Gebäudequader im Hof der Al-Haram-Moschee existiert bereits eine gewaltige Tiefgarage. Verschiedene mondäne Einkaufszentren sind in der Nähe ebenfalls vorhanden. Als Prunkstück überragt jedoch ein 601 Meter hoher Wolkenkratzer die heilige Stätte.
Die in dem Ende 2012 fertiggestellten Riesenturm integrierte Uhr hat einen Durchmesser von 43 Metern und ist »Made in Germany«. Im Vergleich dazu sind der Campanile in Venedig und der Big Ben zu London Winzlinge. Die Riesenuhr von Mekka gibt mittels grün aufleuchtender Zeiger die genauen Gebetszeiten vor. Im frühen Islam konnten die Gläubigen anhand des Sonnenstandes selbst feststellen, wann es Zeit zum Beten war; in der Praxis half ihnen ein menschlicher Muezzin.
Es gab ziemlich breite Zeitfenster, in denen das Gebet gültig war. Jetzt werden die genauen Zeitpunkte mit deutscher Präzision durch eine unpersönliche Behörde festgestellt – wenn es nach den Saudis ginge, gleich für die ganze Welt. Wer auf diese Uhr schaut, wird das Gebet zu unterlassen nicht wagen: In gigantischen Lettern steht ja der Name Gottes darüber.
Parkplätze statt Pilgerstätten
Für Hotels, Kongresszentren, Shopping-Malls, Apartmentblöcke und Parkplätze müssen selbstverständlich historische Bauten und archäologische Fundstätten aus allen Jahrhunderten weichen. Das ist nichts Neues und kommt überall vor. In Mekka wird jedoch zum Erstaunen mancher eine Sorte Denkmäler mit besonderem Eifer zerstört: die frühislamischen. Das hat nicht nur mit den Bauplänen zu tun, sondern auch mit einer doppelten religiös fundierten Abneigung der wahhabitischen Religionsgelehrten: gegen potenzielle Pilgerorte einerseits sowie gegen die Biografie des Propheten Muhammad andererseits.
Bereits 1925 haben die frisch an die Macht gelangten Religionseiferer den Friedhof von Medina, Baqi‘ al-Gharqad, zerstört. Dort lagen nicht irgendwelche Personen begraben, sondern die Frauen und Zeitgenossen des Propheten. Die islamische Welt war entsetzt, trotzdem wurde noch im selben Jahr der historische Friedhof Mekkas ebenfalls planiert. So gingen auch die Gräber von Muhammads Vorfahren und seiner ersten Frau Khadidscha verloren.
Bei den jetzigen Bauaktivitäten verschwindet unter anderem jede Reminiszenz an das Geburtshaus des Propheten. Die wahhabitische Abneigung gegen alles, was mit der Prophetenbiografie – der Sira – zusammenhängt, beruht auf zwei Aspekten. Die Verehrung von Menschen ist streng verpönt, und für den Propheten wird keine Ausnahme gemacht. Außerdem richtet sich ihr fundamentalistischer Hass gegen Dichtung im Allgemeinen.
Und die Sira ist erzählerischer Natur und darum Dichtung, das haben die Wahhabiten ganz richtig verstanden. Ihr geistiger Urahn, der strikte Religionsgelehrte Ahmad Ibn Taymiya (1263–1328) aus Damaskus, vertrat bereits den Standpunkt, dass all dieses biografische Material wertlos und bei juristischen Argumentationen nicht einsetzbar sei – es sei denn, das Thema ist von großer Bedeutung und das Zitat gut belegt.
Durch diese Einschränkung entfällt schon einmal ein erheblicher Teil der Sira: Die Geburt, die frühe Jugend, das erste Offenbarungserlebnis – all das interessiert nicht. Dennoch ist Muhammad für die Saudis zweifelsohne eine äußerst wichtige Persönlichkeit. Nur ein allzu menschliches Leben wird ihm nicht zugestanden. Was von der Sira übrig bleibt? Eine relativ beschränkte Zahl an Überlieferungen, so genannten Hadithen, welche in juristisch verwertbaren Sammlungen mit dem Titel »Fiqh al-Sira« auftauchen. Sira light also.
Die Gefahr für die Kaaba kommt also nicht von den Saudis, sondern aus Äthiopien
Apropos: In der Endzeit, also kurz vor dem Jüngsten Gericht, wird einem Hadith zufolge übrigens auch die Kaaba selbst zerstört. Unangenehme Geschöpfe werden erscheinen, die der Menschheit das Leben schier unerträglich machen. Überdies brechen gewalttätige Völker los, ein Tier erhebt sich aus der Erde und es ereignen sich Naturkatastrophen. Alte Prophezeiungen, die in Perioden der Ruhe und des Wohlergehens niemanden interessieren, in schweren Zeiten aber immer wieder die Menschen ängstigen.
Die wohl am wenigsten bekannte dieser arabischen Endzeitgestalten ist der Kaaba-Zerstörer Dhu al-Suwaiqatain, übersetzt »Der mit den kurzen Beinchen«. Von Abdallah Ibn Umar, einem Sohn des zweiten Kalifen Umar Ibn al-Khattab, wird zu dem Thema folgendes Zitat des Propheten überliefert: »Die Kaaba wird zerstört von Dhu al-Suwaiqatain aus Äthiopien, der sie ihres Zierrats beraubt und ihr die Hülle abzieht. Es ist, als ob ich ihn vor mir sähe: ein kahlköpfiges, krummbeiniges Männchen; er schlägt mit seiner Schaufel und seiner Spitzhacke darauf.«
Die Gefahr für die Kaaba kommt also nicht von den Saudis, sondern aus Äthiopien – und Äthiopisch steht im Hadith-Korpus meist für »christlich«. Denn laut alter Überlieferungen versuchten die christlichen Äthiopier schon in vorislamischer Zeit, Mekka zu erobern. Das sei durch göttliches Eingreifen misslungen, aber am Ende der Zeiten lasse Gott dann zu, dass sie tun, was sie offensichtlich schon immer wollten: die Kaaba abreißen.
Um was für ein komisches Kerlchen handelt es sich bei Dhu al-Suwaiqatain genau?
Aber um was für ein komisches Kerlchen handelt es sich nun genau? Dhu al-Suwaiqatain bedeutet wörtlich »Der mit den kleinen Unterschenkeln«, was gemeinhin als »kurze Beinchen« aufgefasst wird. Der sunnitische Gelehrte Yahya al-Nawawi aus dem 13. Jahrhundert war aber der Auffassung, dass »dünne Beine« gemeint seien. Er merkte an: »Von den Schwarzen ist bekannt, dass sie dünne Beine haben.« Ich glaube allerdings, dass al-Nawawi auf dem Holzweg war.
Er hat den Begriff Dhu al-Suwaiqatain nicht für sich selbst sprechen lassen, sondern sich einen durchschnittlichen Äthiopier vergegenwärtigt. Die Texte wollen das Männchen aber in seinen auffälligen, nicht in seinen ordinären Eigenschaften beschreiben. Auf jeden Fall beflügelte es die Fantasie. Ein anderer Hadith zum Thema lautet: »Es ist, als ob ich einen Äthiopier vor mir sähe, mit roten Unterbeinen und blauen Augen, mit einer plattgedrückten Nase und einem dicken Bauch.
Er hat seine Füße parallel auf die Kaaba gesetzt; er und einige Kumpane von ihm reißen sie Stein für Stein ab und reichen die Steine einander weiter, um sie letztendlich ins Meer zu werfen.« Zum Glück ist Dhu al-Suwaiqatain Afrikaner, sonst würden einige Leute heutzutage sicher einen fettleibigen Amerikaner oder Europäer in ihm erkennen. Aber rote Beine und blaue Augen, wie ich oberflächlich übersetzt habe, sind in Äthiopien rar.
Der Text ist jedoch nicht im modernen Hocharabisch verfasst, und früher hatten die hier auftauchenden Farbbezeichnungen ein anderes Bedeutungsspektrum als heute. Treffender wäre daher wohl, zu sagen: »(...) mit den Unterbeinen eines Weißen und mit schillernden Augen (...)«. Trotz allem also ein komisches Kerlchen. Doch am Ende der Zeiten wird ohnehin alles Überkommene aufgehoben. Laut manchen Überlieferungen wird dann sogar jeglicher Inhalt aus den Blättern des Korans hinweggefegt.