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Mütterprotest in Syrien

Eigentlich nur eine Mutter

Feature

Manche Menschen bleiben einfach stehen, egal wie viele Wellen über ihnen zusammenbrechen. Vielleicht ist Fatima Khan so ein Mensch. Sie verlor ihren Sohn in Syrien und verlangt Aufklärung. Vielleicht ist sie auch einfach nur eine Mutter.

Die Geschichte, die Fatima Khans Leben zu einem Teil des Syrienkriegs machte, begann mit drei Worten: »Abbas ist verschwunden.« Und sie endet vorerst auf einem Bordstein im schweizerischen Genf. Dort sitzt die 57-Jährige, eingehüllt in ihren langen Wollmantel. Umringt von Mikrofonträgern, denen sie auch dieses Mal wieder die Geschichte von ihrem Sohn erzählen wird. Zehn Tage wollte Abbas, der Chirurg, eigentlich in die Türkei reisen, um dort syrischen Flüchtlingen zu helfen. Im August 2012 war das.

 

Dass er heimlich über die Grenze in die syrische Stadt Aleppo reisen werde, hatte er seiner Mutter verschwiegen. Eine Stadt, die wie kaum eine andere sinnbildlich steht für den menschlichen Abgrund des Syrienkrieges. Eine Stadt, die auch Fatima Khans Sohn verschluckte. »Ich hätte ihm die Beine gebrochen, hätte ich gewusst, dass er nach Syrien geht«, erzählt sie am Mikrofon vor den Toren der Genfer Konferenz, hinter denen das Leid verhindert werden solle, welches unzähligen Müttern wie ihr täglich widerfährt. 

 

Der Kontrast zwischen dem Genfer Tagungshotel und Fatima Khans englischer Heimat Streatham könnte kaum größer sein. Hier Anzugträger, schwarze Limousinen, das Epizentrum internationaler Diplomatie. Dort ein heruntergekommener Stadtteil im Süden Londons. Fatima Khan lebte dort mit ihren sechs Kindern – als es noch sechs waren. Abgeordnete, Minister, Diplomaten: Monatelang telefonierte sie jeden ab, der ihrem Sohn helfen könnte. Nichts. Ob sie nicht von der Reisewarnung gewusst habe, ist die Antwort des Außenministeriums. Ob ihr Sohn nicht doch Dschihadist statt Arzt sei, will ein Beamter wissen. »Wenn er Terrorist wäre, würde ich ihn selbst umbringen«, sagt Fatima Khan ins Mikro des syrischen Staatssenders.

 

Als der Krieg in Syrien über Fatima Khan kam, kam sie zu ihm

 

Neun Monate ist ihr Sohn schon verschwunden, als sie von tunesischen Frauen hört, die nach Damaskus gereist sind, um ihre verschwundenen Söhne zu suchen. Wenig später sitzt sie im Flugzeug. 18 Jahre alt war sie bei ihrer letzten großen Reise. Aus der indischen Industriemetropole Hyderabad zog sie 1974 nach London. Das Geld reichte nie. Glücklich, sagt sie, war die achtköpfige Familie dennoch. Ein Koffer voller Süßigkeiten ist nun alles, was sie dabei hat. Weil ihr Sohn die so gerne mag. Wieder beginnt die Odyssee durch Beamtenbüros und Botschaften.

 

Nur mit einem Bild von Abbas und einem Zettel voller arabischer Sätze läuft sie durch die Straßen von Damaskus, klappert Hotellobbys ab, fragt willkürlich Menschen. Es gebe keinerlei Möglichkeit, den Sohn zu finden, sagt ihr die britische Regierung. Zehn Tage später erhält sie einen Anruf aus dem syrischen Außenministerium: Ihr Sohn sei am Leben, sie könne ihn besuchen. Was sie dann zu sehen bekommt, sieht mehr nach Tod als Leben aus: Auf 35 Kilo ist Abbas nach acht Monaten Gefängnishaft abgemagert.

 

Terrorist soll er sein. Sein Körper, schreibt Fatima Khan in einem Brief an britische Medien, sei übersät gewesen mit Narben, Spuren ausgedrückter Zigaretten, Stromschlägen, herausgerissenen Fingernägel. Der 32-jährige Chirurg fleht sie an: »Bitte Mami, bring mich nach Hause.« »Ich sah ein Skelett«, erzählt sie in einem Telefonanruf seinen Geschwistern. Einmal pro Woche dürfen die beiden sich nun sehen. Nicht nur Abbas wandelt am Rand des Todes: Auf der Fahrt zum Gefängnis gerät ihr Bus unter Beschuss.

 

Ein Sprengsatz explodiert am Straßenrand. Sie bleibt dennoch: Sie schmuggelt Briefe ihres Sohnes aus dem Gefängnis an den britischen Außenminister, William Hague. Keine Antwort. Ein anderes Mal bringt sie syrischen Beamten Schokolade, fleht auf Knien, küsst ihre Füße, verspricht verzweifelt, sich als Propagandistin missbrauchen zu lassen. Sie klappert Richter, Anwälte, Wärter ab, bezahlt insgesamt 27.000 Dollar Bestechungsgelder. Ergebnislos.

 

Seit Anfang Februar steht Fatima Khan nun täglich vor den Toren der Genfer Syrienkonferenz

 

Fünf Monate geht das so, bis schließlich der erhoffte Anruf kommt: Ihr Sohn kommt frei. Abbas wird in ein anderes Gefängnis verlegt – ohne Folter. Er bekommt regelmäßig zu essen, erholt sich. In einem Brief an seine siebenjährige Tochter schreibt Abbas am 8. Dezember, dass er Weihnachten zuhause sein wird. Eine Woche später erhält Fatima Khan erneut einen Anruf: Ein Vertreter des Justizministeriums erwarte sie. »Ich war so glücklich. Ich gab ihm all meine Süßigkeiten«, schreibt sie.

 

In einem Geheimdienstgebäude erwarten sie zehn bis an die Zähne bewaffnete Männer. Die Begrüßung: »Lassen Sie mich unser tief empfundenes Beileid ausdrücken. Ihr Sohn hat heute Selbstmord begangen.« Mit seinem Pyjama soll sich Abbas an einem Türknauf erhängt haben. Später soll es der Fensterrahmen gewesen sein. Seit Anfang Februar steht Fatima Khan nun täglich vor den Toren der Genfer Syrienkonferenz.

 

Nach Abbas' Tod kamen sie alle: David Cameron kondolierte in einem Brief. William Hague meldete sich persönlich. Der Vorsitzende der Syrischen Exilopposition, Ahmed al-Jarba, erklärte: »Für mich ist Fatima wie eine Mutter.« Und die Vertreter der syrischen Regierung dementieren. »Warum habt Ihr meinen Sohn getötet?«, wollte Fatima Khan zuletzt auf dem Genfer Bürgersteig mit überschlagender Stimme wissen. Um sie herum strömten die Männer und Frauen im Anzug aus dem Tagungshotel, wie die nächste Welle um den Fels, der nur eine Mutter sein wollte.

Von: 
Fabian Köhler

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