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Kompetenzgrenzen von Frontex

Europa macht dicht

Feature

Die europäische Agentur Frontex wurde als Koordinationsstelle zum Schutze der EU-Außengrenze berufen. Doch die Befugnis- und Kompetenzgrenzen der Agentur sind oft sehr verschwommen und ihre Operationen bei Menschenrechtlern umstritten.

Die Grenzen zwischen armen und reichen Weltteilen werden immer deutlicher. Die Armen möchten immer zahlreicher in das gelobte Land – EU oder die USA. Die Industrienationen, die als vermögend angesehen werden, wollen sich wiederum gegen die Flut der Armen abgrenzen. In Europa will man vor allem die Südgrenzen dicht machen, denn über das Mittelmeer versuchen jährlich Tausende von Flüchtlingen aus Afrika in die EU zu kommen.

 

Frontex entstand 2004 durch eine Verordnung der EU-Innenminister. Der Name kommt aus dem französischen »Frontièrs extérieure« (Außengrenzen). Das Hauptquartier befindet sich in Warschau. Die Aufgaben der Agentur sollte die Koordination der operativen Zusammenarbeit der EU-Staaten an ihren Außengrenzen sein. Dazu zählt vor allem die Gefahren- und Risikoanalyse im Hinblick auf die Außengrenzen der EU.

 

Weiter soll Frontex dafür verantwortlich sein, entsprechend ausbalancierte Überwachungs- und Sicherheitsressourcen sicherzustellen. 2005 hatte die Agentur dazu ein Budget von 6,2 Millionen Euro, 2008 wuchsen die finanziellen Dispositionen bereits auf über 70 Millionen Euro. Ab 2009 bis heute liegt das Budget jährlich bei 88 Millionen Euro. Das EU-Parlament hat Frontex 2011 mit mehr Befugnissen ausgestattet, so dass die Agentur nun eigene Grenzschützer anfordern kann oder Ausrüstung, wie beispielsweise verschiedene militärische Fahrzeuge und Hubschrauber.

 

Doch man sollte dabei nicht vergessen, dass es sich um keine Behörde handelt, sondern um eine Agentur, weshalb sie praktisch keiner Kontrolle des EU-Parlaments oder eines Ministeriums unterliegt. Und hier beginnt die Schattenseite der Organisation, denn bei mangelnder Kontrolle können die Berichte und Informationen der Agentur manipuliert oder gar der Öffentlichkeit vorenthaltet werden. 2006 wurden Berichte über operative Themenkomplexe dem Bundestag teils unzugänglich gemacht mit dem Argument, dass Frontex gegenüber den nationalen Regierungen nicht auskunftspflichtig sei. Doch auf Anfrage im EU-Parlament sei es dann zu einer umgekehrten Antwort gekommen: die Einsätze werden national verantwortet, also sind Auskünfte über die jeweilige nationale Regierung einzuholen.

 

Organisation mit Schattenseiten

 

Da tut sich die Frage auf, wem Frontex eigentlich Rechenschaft schuldet? Es ist beunruhigend: bei so viel operativem Freiraum kann die Verantwortung und Kontrolle der Organisation auf der Strecke bleiben. Doch vielleicht ging es bei der Gründung von Frontex genau darum, nämlich um weniger Kontrolle, weshalb man absichtlich die Organisation zu einer Agentur machte und nicht zu einer Behörde, die per Gesetz mehr kontrolliert werden könnte; eine Aufweichung der Gesetzstruktur in der EU mit dem Zweck, die Außengrenzen effektiv und ohne viel Bürokratie und Aufsehen zu schützen.

 

Um Frontex als Risikofaktor in der EU-Politik zu betrachten, sollte man sich fragen, was die EU als Schutz ihrer Außengrenzen versteht. Hierbei ist die Migrationspolitik von entscheidender Bedeutung. Doch dieser nach soll es Einwanderung in die EU nur nach Bedarf geben; Menschen mit für die Wirtschaft gerade notwendigen hohen Qualifikationen dürften anreisen, am liebsten temporär, so dass man sie dann leicht wieder in ihre Heimat abschieben kann.

 

Asylbewerber sollen abgewiesen werden und von keinem anderen EU-Staat aufgenommen werden; auch Kinder sollen davon nicht ausgenommen werden. Dies geht aus  dem 2008 vom Europäischen Rat verabschiedeten »Pakt zu Einwanderung und Asyl« hervor. Um es deutlich zu machen: die europäische Migrationspolitik bedeutet die totale Abschottung. Die Festung Europa soll Realität werden.

 

Ein Schritt zu weit  

 

Frontex organisierte und finanzierte 2009 eine Massenabschiebung von Wien nach Nigeria und eine weitere (deutsch-polnische) von Berlin nach Hanoi. Viele Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Agentur für ihre oft brutalen militärischen Flüchtlings-Abwehrmaßnahmen. So soll Frontex vor allem in der Mittelmeer-Region Flüchtlingsboote sogar jenseits der EU-Territorialgewässer zur Umkehr nach Afrika zwingen.

 

Betroffene berichten, dass man ihnen kein Wasser für den Rückweg gibt, obwohl viele der Insassen zu verdursten drohten oder schon waren. Frontex-Mitarbeiter sollen auch schon mit Zerstörung von Flüchtlingsbooten gedroht haben. Am 25. August 2011 soll es nach Medienberichten zum Schusswaffengebrauch seitens Frontex an der türkisch-griechischen Grenze gekommen sein. Auf Anfrage der Bundesregierung diesbezüglich war den Mitarbeitern der Agentur nichts dergleichen bekannt.

 

Um Frontex wird es immer lauter; nicht nur Menschenrechtsorganisationen, sondern auch viele Politiker schauen voller Besorgnis nach Warschau und auf den Chef der Organisation, den finnischen Brigadegeneral Ilkka Laitinen. Laut dem »European Center for Constitutional and Human Rights« (ECCHR) sollte sich die Agentur an Flüchtlings- und Menschenrechte auch dann gebunden fühlen, wenn sie außerhalb der EU-Grenzen, jenseits der 12-Meilen-Zone, auf hoher See operiert.

 

Flüchtlinge, die mitten auf dem Meer aufgegriffen werden, haben somit das Recht auf einen Asylantrag und dürfen nicht zur Rückkehr gezwungen werden, wenn ihnen eine mögliche Verfolgung oder Misshandlung droht. Die Organisation »Borderline Europe« bezeichnet die EU-Seegrenze als das größte Massengrab Europas. Amnesty International schätzt die Zahl der Flüchtlingstoten im Mittelmeer zwischen 1998 und 2007 auf etwa 10.000.

 

Einerseits berufen sich die europäischen Verfassungen auf demokratisch legitime Menschenrechte, andererseits sterben jährlich Hunderte bei dem Versuch Europa zu erreichen. Irgendwo liegt hier ein Widerspruch. Und Frontex gehört möglicherweise dazu.

Von: 
Paul Lindner

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