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Infrastruktur nach dem Krieg in Gaza

Von Wiederaufbau keine Spur

Feature

100 Tage nach Kriegsende bleibt der versprochene Wiederaufbau für die Menschen in Gaza eine Illusion. Feldzüge und Blockade haben die Hamas nicht von der Macht verdrängt – und stärken die radikalsten Elemente unter den Islamisten.

2012 warnten die Vereinten Nationen, dass Gaza bis 2020 nicht mehr lebensfähig sein wird. Wer heute, mehr als 100 Tage nach dem letzten Krieg, nach Gaza fährt muss erschrocken feststellen: Gaza ist bereits jetzt nicht mehr lebensfähig. Die Zerstörung ist unbeschreiblich. Ganze Stadtteile sind komplett zerstört. Kinder klettern auf Trümmern um nach verwertbaren Dingen zu suchen—vom Wiederaufbau fast keine Spur.

 

Die Menschen in Gaza, trotz ihrer totalen Isolierung weltoffen und neugierig, sehen sich zunehmend von der internationalen Gemeinschaft ignoriert. Nicht nur, so klagen viele Menschen hier, hat die Welt während des Kriegs weggeschaut und zugelassen, dass über 2.200 Menschen starben. Sie schaut nun zu, wie die Menschen in ihren ausgebombten Häusern leben müssen, während der Winterregen die Straßen überschwemmt. Sie schaut zu, wie Israel unerbittlich die Blockade aufrechterhält. Sie trägt, so meinen viele in Gaza, gar zur Verstetigung der Katastrophe bei.

 

Denn: Der internationale Wiederaufbaumechanismus löst bei den Menschen in Gaza nur Kopfschütteln oder trauriges Lachen aus. Die Vereinten Nationen haben sich zu einem rigiden Verfahren verpflichtet, welches sicherstellen soll, dass keine Materialien zweckentfremdet werden. Das führt dazu, dass ein hochkomplexes Register erstellt wird mit Errechnung des Grads der Zerstörung und den GPS-Koordinaten einzelner Häuser.

 

Erst nach einem Prüfungsprozess wird den Menschen erlaubt, einige Säcke Zement zu kaufen. Diese reichen hinten und vorne nicht, so dass viele ihren Anteil einfach auf dem Schwarzmarkt weiterverkaufen. Damit erübrigt sich die Intention des Mechanismus. Ohnehin wurden bisher nur wenige Lastwagen mit Baumaterialien in den Gazastreifen hineingelassen. Diese haben eher Symbolcharakter, als das sie ernsthaft zum Wiederaufbau des zerstörten Küstenstreifens beitragen.

 

Die hohen finanziellen Zusagen für den Wiederaufbau sind oftmals Rechenspiele. Große Teile bereits vorher zugesagter Mittel werden erneut miteingerechnet. Auch Zahlungen an die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland, die es nie in den Gazastreifen schaffen, werden mitgezählt. Besonders die hohen Summen aus den Golfstaaten, so zeigt die Erfahrung bei vorherigen Geberkonferenzen, haben nahezu fiktiven Charakter.

 

Die Lage aktuelle Machtbalance in der Hamas undurchschaubar

 

Nachdem die rekonstituierte ägyptische Militärregierung nun eine kilometerbreite Pufferzone am Gazastreifen einrichtet und die israelische Regierung keinerlei Anstalten macht, die Blockade auch nur einen Deut zu lockern, fühlen sich die Menschen in Gaza wie in einem schlechten Traum. Die im Rahmen des Waffenstillstands vereinbarten Gespräche zur Lockerung der Blockade finden nicht statt.

 

Selbst der palästinensische Präsident Mahmud Abbas beteiligt sich nach Auffassung vieler Menschen in Gaza an der Belagerung des Gazastreifens, wohl in der wahnwitzigen Hoffnung, die Bevölkerung in Gaza durch Aushungern zum Aufstand gegen die Hamas zu bewegen, um seine Fatah-Partei wieder installieren zu können. Doch diese Strategie könnte nach hinten losgehen. Denn die Hamas ist weit davon entfernt aufzugeben.

 

Der militärische Flügel ging aus dem Krieg gestärkt hervor und hat die pragmatischeren politischen Kräfte der Hamas an den Rand gedrängt. Allen zivilen Verlusten zum Trotz – man habe es dem israelischen Militär gezeigt. Diesmal, so heißt es aus Gaza, wird man nicht auf Israel warten, den Krieg zu beginnen. Die Lage ist unübersichtlich und die aktuelle Machtbalance in der Hamas undurchschaubar.

 

Inzwischen zirkulieren diverse Drohschreiben mit IS-Logo in Gaza

 

Inzwischen zirkulieren diverse Drohschreiben mit IS-Logo in Gaza. Einige Beobachter rechnen diese extremen Elementen in den Hamas-Sicherheitskräften zu, die seit Monaten nicht von der Einheitsregierung bezahlt werden und zunehmend die Geduld verlieren. Es könnte ein Signal sein: Wenn wir weiter mit dem Rücken zur Wand stehen, werden wir zulassen, dass sich extremistische Gruppierungen bilden und Chaos sähen.

 

In den letzten Tagen gab es vermehrt »Raketentests« – Abschüsse aufs offene Meer, die signalisieren sollen, dass der Hamas der Geduldsfaden reißt. In der letzten Dekade hat es, mehr oder weniger fristgerecht, alle zwei Jahre einen Krieg gegen Gaza gegeben. Zynische israelische Militärs nennen das »Rasenmähen«. Doch selbst diese horrende Taktung könnte bald Geschichte sein: Die Grundlagen für den letzten Krieg sind bereits jetzt, drei Monate später, wieder vorhanden.

 

Es bedarf lediglich wieder eines Funkens. Die israelische Regierung würde, in Anbetracht von Neuwahlen im März 2015, mit noch härterer Hand reagieren. Klar ist schon jetzt: Die internationale Gemeinschaft wird durch ihr klägliches Versagen beim Wiederaufbau für den nächsten Krieg mitverantwortlich sein. Und Leidtragende werden wieder die Zivilisten sein.

Von: 
Franz Sigel

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