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Fünf Jahre Arabischer Frühling in Tunesien

Es beginnt wieder in Tunis

Feature

Die Feierstimmung zum fünften Revolutions-Jubiläum hält sich in Tunis in Grenzen. Die prekäre Sicherheitslage erstickt den Protest gegen die ausbleibende soziale Dividende. Doch das leistet der Terrorgefahr in ganz Nordafrika Vorschub.

Am 14. Januar 2011 schaute die Welt staunend auf Tunis. Präsident Zein El Abedine Ben Ali verließ das Land nach lautstarken Straßenprotesten überstürzt gen Saudi-Arabien, nicht ohne seine Frau Leila Traboulsi noch bei der Zentralbank vorbei zu schicken. Gerüchteweise war es sogar ihre eigene Idee, säckeweise Geldscheine in ihren Begleitkonvoi laden zu lassen.

 

Die Anekdote trübte den Freudentaumel der jungen Demonstranten kaum, die mit vergleichbar wenig Blutvergießen den Diktator verjagt hatten. Obwohl die Schilder mit der Aufschrift »Dégage – Hau ab!« auf den Straßen von Tunis die jungen Revolutionäre Ägyptens und Libyens inspirierten und in die Weltgeschichte eingingen, war es doch ein anderer, nicht so einprägsamer Slogan, den viele Tunesier auf selbst gemalten Schildern vor sich her trugen: »Travail, Travail, Travail – Arbeit, Arbeit, Arbeit«. Die meisten trieb der Wunsch nach einem Auskommen auf die Straße, das Verlangen nach Respekt, Geld um eine Familie zu gründen und das Ende der täglichen Demütigungen.

 

Fünf Jahre nach der Sturz Ben Alis hat die Mehrheit der Bevölkerung in Nordafrika weder die Freiheit, ihre Meinung zu sagen, noch ein Einkommen, das sie von einer besseren Zukunft träumen lässt. Desillusionierte Algerier, Libyer und Tunesier aus den vergessenen ländlichen Gebieten gehen nicht mehr auf die Straße. Sie machen sich leise auf den Weg, nach Tunis oder Tripolis, nach Syrien oder Europa.

 

Auf der Avenue Habib Bourguiba, dem Herz von Tunis, ist die Feierstimmung gedämpft. Schwerbewaffnete Polizisten und in Cafés herum sitzenden, arbeitslose Männer dominieren das Bild. Die überlaute Reggae-Musik aus den Soundanlagen der Aktivisten, klingt wie ein lauter Weckruf: Es ist noch nicht vorbei! Die Spannung ist spürbar. Wohin geht die Reise?

 

Seit den Attentaten am Strand von Sousse im Juni und die Präsidialgarde im November 2015 – nur ein paar Hundert Meter von der Lebensader der tunesischen Hauptstadt entfernt –, ist das Tragen von Rucksäcken verboten, bärtige Männer werden misstrauisch beäugt. »Die Terroristen haben das erreicht was sie wollten. Sie freuen sich zu Angst verbreiten. Doch sie haben übersehen, dass die Angst auch den Parteien Enhahda und Nidaa Tounes hilft.

 

Einen zweiten Aufstand gegen die im Kampf gegen die Armut unfähige Regierung gibt es nur wegen der Terrorgefahr nicht«, sagt der Aktivist Houssam Shougar aus Sidi Bouzid, der vergessenen Armenmetropole im Südwesten. Doch in diesem Patt scheint sich die Strategie der Ennhada langsam durchzusetzen. Die Spaltung der säkularen Partei Nidaa Tounes, dem Gewinner des letzten Wahlgangs Ende 2014, hat die moderaten Islamisten über Nacht zur stärksten Kraft im Land gemacht. Dabei wollen die Vertreter des politischen Islams die Verantwortung für die prekäre Lage zurzeit gar nicht haben und schieben die Verantwortung lieber auf den 89-jährigen Präsidenten Beji Caid Essebsi.

 

Welche Perspektiven kann Tunesien seinen Bürgern bieten?

 

Der Auftritt von Ennahda-Chef Rachid Ghannouchi auf dem Parteikongress von Nida Tounes am 10. Januar barg wohl auch die Hoffnung, dass der Koalitionspartner und politische Gegner von einst nicht völlig implodiert, nachdem 12 Parlamentsabgeordnete die Partei verlassen hatten. Vor den Polizeiwachen und Parteikongressen stünden ohne das Damokles-Schwert des Terrors wohl längst wieder die Demonstranten.

 

Stattdessen schließen sich immer mehr Perspektivlose nach Gehirnwäsche in den Hinterhofmoscheen von Kairouan oder Sousse militanten Gruppen in den Bergen in Tunesiens Süden oder Libyen an. Mit Geld und einem stetig wachsenden Netzwerk an Anwerbern ist ihr Versprechen mittlerweile verlockender als die Flucht nach Europa, in dem die Chance auf einen legalen Aufenthaltsstatus gleich null ist. Die Islamisten bieten ein üppiges Einkommen, Spiritualität und das Gefühl, gegen die täglichen Ungerechtigkeiten etwas tun zu können.

 

Der Staat bietet dagegen nur brutal oder korrupt auftretende Polizisten auf, die gegen die junge Männer schon für den Besitz verschwindend geringer Mengen Marihuana für ein Jahr ins Gefängnis schicken, aber die Waffen- und Drogenschmuggler aus Libyen oftmals laufen lassen. Von der Macht der Milizen im östlichen Nachbarland hängt das Schicksal Tunesiens wesentlich ab. Nicht nur der »Islamische Staat« (IS) wirbt um Kämpfer, die informelle Schmuggelwirtschaft an der Grenze hat mittlerweile die ehemaligen Touristenzentren erreicht, genauso wie die in Libyen trainierten Selbstmordattentäter.

 

In Tunis wird auch über Libyens Zukunft verhandelt

 

Mit Spannung schauen internationale Diplomaten daher auf den Ausgang der Hinterzimmer-Diplomatie, die zurzeit in verschiedenen Hotels der tunesischen Hauptstadt um Lösungen ringt. Die mögliche Ausrufung einer libyschen Einheitsregierung wäre wohl der einzige Anlass, der während der Feierlichkeiten zum 5. Jahrestag der Jasmin-Revolution Euphorie auslösen würde. Doch auch bei den libyschen Delegierten ist die Stimmung schlecht.

 

Vor dem Hotel  werden die aus allen Teilen Libyens anreisenden Kandidaten für Posten und Positionen immer wieder und ganz offen von den tunesischen Polizisten um eine Spende gebeten. Bis auf die libyschen Gäste herrscht in den Luxushotels im teuren Vorort Gammarth gähnende Leere. Die Anschläge im Bardo-Museum und im Badeort Sousse, ausgeführt von vier Extremisten, reichten, um Touristen und ausländische Investoren vollends zu vertreiben. »Ich weiß nicht, was mich trauriger macht, die bettelnden tunesischen Polizisten außerhalb oder die um jeden Posten schachernden Delegierten innerhalb des Hotels«, schimpft ein vor den Milizen aus Tripolis geflohener libyscher Aktivist.

 

Ist der Arabische Frühling nach fünf Jahren gescheitert? Nein. Eigentlich hat er noch gar nicht begonnen. In Tunesien sind die schlagenden Lehrer, die prügelnden Polizisten, korrupten Beamten noch da. Ebenso aber NGOs, die sich für Frauenrechte und die Reform der Gesellschaft einsetzen. Politische Stiftungen aus Deutschland unterstützen sie dabei. Europa hat erkannt, wie wichtig Tunesien für die nötige Reform der arabischen Welt ist.

 

In Nordafrika hat der IS strategisch vor allem ein Land im Blick

 

Die Künstlerin Dalinda Louati aus der Industriestadt Sfax etwa hat mit ihrem Grafitto gegen die Verschmutzung der Küste durch die lokale Phospahtindustrie protestiert. Obwohl sie eine offizielle Genehmigung für ihre »Street Art« hatte, nahmen Polizisten sie fest, »Erregung öffentlichen Ärgernisses«. Anders als zu Ben Alis Zeiten war sie nach Stunden wieder frei. Die Behörden in Sfax fürchten Proteste der vielen jungen Umweltaktivisten in der Stadt, die in sozialen Netzwerken gegen die Chemieschleuder mobilisieren. »Die letzten fünf Jahre benötigten wir zur Bestandsaufnahme der Probleme unserer Gesellschaft. Nun sind wir bereit für eine Evolution, einen Wandel durch Politik von unten«, sagt die Künstlerin.

 

Weil die Teilhabemöglichkeiten aber immer noch stark beschränkt sind und die ökonomische Krise die soziale Lage vieler Menschen weiter verschlechtert, gerät diese Evolution in Nordafrika unter immensen Zeitdruck – nicht nur in Tunesien. Dass sich nun auch immer mehr junge Algerier über die Türkei und die Balkanroute auf den Weg nach Deutschland machen, kündigt davon, dass durch den niedrigen Ölpreis nun auch das 40-Millionen-Einwohner-Land Algerien vor einer Krise steht.

 

Sicherheitsexperten warnen, dass für den IS Libyen und Tunesien nur Vorbereitungen für die Destabilisierung der ehemaligen französischen Kolonie sind. Viel Hoffnung, dass in Libyen bald Frieden herrscht, sollte sich niemand machen. Denn fünf Jahre nach Beginn des Arabischen Frühlings wird ein neuer Krieg vorbereitet, genau genommen hat dieser bereits begonnen. Denn trotz aller Beschwichtigungen zahlreicher Nahostexperten, die den IS in Libyen immer noch als zu vernachlässigende Gefahr sehen, kontrolliert die Bewegung ein größeres Gebiet als der neue Premier Fayez Serraj.

 

Der neue Krieg in Libyen wird sich von dem in Syrien oder dem im Irak grundlegend unterscheiden

 

Fünf Jahre nach der Flucht von Ben Ali hat mit der Bombardierung der Außenbezirke von Sirte durch unbekannte Kampflugzeuge ein Krieg der Nadelstiche begonnen.

 

Augenzeugen in Sirte berichten, dass der lokale IS-Anführer am 12. Januar von einem Scharfschützen getötet wurde. Den Sudanesen Hamad Abdel Hady, auch Anas Al Muhajer genannt, traf eine Kugel, als er ein Krankenhaus in der Stadt betrat. Der neue Krieg in Libyen gegen die Extremisten wird sich von dem in Syrien oder dem im Irak grundlegend unterscheiden.

 

In Washington und Brüssel hat man verstanden, dass sich die Strategen aus Raqqa von Bomben und Cruise Missiles zerstörte Wohnviertel, in die sich der IS in Sirte, Sabratah und Benghazi zurückgezogen hat, herbeisehnen. Denn es gibt vielleicht nur eine Sache die alle Libyer vereint und vor der Muammar Gaddafi vier Jahrzehnte lange gewarnt hatte: Ein ausländische Intervention mit dem Ziel, sich das Öl unter den Nagel zu reißen.

 

Das Trauma hat die Öffentlichkeit blind dafür gemacht, dass diese Intervention bereits stattgefunden hat, nicht in Form von Kampflugzeugen und am Strand landenden UN-Truppen. Es sind junge Männer aus Tunesien, Algerien, dem Sudan oder Europa, die mit Linienflügen oder über die grüne Grenze kommend aus Libyen ein Schlachtfeld gemacht haben. In Libyen und Tunesien arbeiten viele Bürger unauffällig an den Visionen weiter, für die sie 2011 auf die Straße gegangen sind. Dialogquartett, Verfassung und Initiativen wie das Bürgerparlament »Budget participatif« in La Marsa sind Beweis genug, dass Europa sie jetzt nicht fallen lassen darf.

Von: 
Mirco Keilberth

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