Lesezeit: 6 Minuten
Ein Jahr nach dem Sturz Ben Alis

Das verflixte zweite Jahr

Feature

Ein Jahr nach dem Sturz Ben Alis hadern viele Tunesier mit dem Gang ihrer Revolution. Wirtschaftliche Stagnation und der Konflikt um die neue politische Ordnung stellen das Land auf die Probe. Doch etwas Entscheidendes hat sich geändert.

Dicht an dicht stehen die Menschen an diesem 14. Januar auf der Avenue Habib Bourguiba in Tunis. Dort, wo ein Jahr zuvor Tausende den Sturz des Regimes forderten, feiern die Tunesier ihre Revolution. Doch während auf den ersten Blick die Freude über die Befreiung vom Regime Ben Alis überwiegt, kommt es am Rande der Veranstaltung zu Misstönen, denn die neue politische Ausrichtung des Landes wird kontrovers diskutiert.

 

Nach den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung am 23. Oktober vergangenen Jahres, die mit einer für tunesische Verhältnisse beispiellosen Wahlbeteiligung zu großer Euphorie geführt hatten, sind nun die Flitterwochen vorbei. Zum einen ist ein Jahr nach der Revolution die wirtschaftliche Lage weiter angespannt – und das nicht nur im Süden des Landes. Die wirtschaftliche Situation Tunesiens hat sich im letzten Jahr nicht verbessert, ausbleibende Touristen und die Eurokrise führten 2011 zu einem Nullwachstum gegenüber von 4 Prozent Wachstum im Jahr zuvor. Gerade im benachteiligten Süden Tunesiens, in dem die Revolution begann, mehren sich Streiks und Forderungen nach einer gerechten Verteilung der Einkommen aus den Exporten von Bodenschätzen.

 

Neben der schlechten wirtschaftlichen Bilanz des vergangenen Jahres befindet sich Tunesien außerdem politisch an einem Scheideweg. Vor allem die Frage nach Menschenrechten und nach der Rolle des Islams bewegen die tunesische Gesellschaft. Es steht die Befürchtung im Raum, die Islamisten der Nahda könnten von der Zerschlagung der autokratischen Strukturen im Land Abstand nehmen, um sie stattdessen mit Vertretern ihrer Partei zu besetzen.

 

Fragwürdige Manöver des neuen Führungsduos

 

So beklagt die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen, dass Ministerpräsident Hamadi Jebali kürzlich eigenständig die Ernennung neuer Chefredakteure der öffentlichen Medien veranlasste, obwohl ein im November verabschiedetes Gesetz das Vorschlagsrecht einer unabhängigen Agentur überschreibt.

 

Des Weiteren droht die Rückkehr der Zensur. Zwar wurde die tunesische »Agentur für externe Kommunikation«, die zu Zeiten Ben Alis dazu diente, missliebige Berichterstattung über das tunesische Regime in der Auslandspresse herauszufiltern, offiziell geschlossen. Allerdings durften vor Kurzem zwei französische Wochenmagazine nicht in Tunesien verkauft werden, da eine von ihnen eine Abbildung des Propheten enthielt und die andere als Titel »Fragen und Antworten zur Existenz Gottes« versprach.

 

Vorgänge wie diese nähren den schwelenden Konflikt zwischen Säkularen und Islamisten, in dem jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird. So kam es, dass eine eher beiläufige Bemerkung des derzeitigen Übergangspräsidenten wütende Proteste auslöste. Moncef Marzouki hatte in seiner Neujahrsansprache erwähnt, dass die Neujahrsfeier nicht Teil der arabisch-islamischen Traditionen der Tunesier sei. Von einem Mitglied der Nahda-Partei hätte man eine solche Aussage erwarten können, aber nicht von Marzouki, dem Vorsitzenden der »Congrès pour la République« (CPR), einer sozialliberalen und säkularen Partei. Viele säkulare Tunesier legten ihm dies als eine Anbiederung an die Islamisten aus.

 

Die Diskussion über die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit ebbt nicht ab, spätestens seit Islamisten einen Fernsehsender wegen der Ausstrahlung des Films Persepolis attackierten und radikale Islamisten über einen Monat lang den Eingang der Universität Mabouba blockierten, um zu erreichen, dass Studentinnen in Vollverschleierung der Zugang gewährt und ein Gebetsraum eingerichtet wird.

 

Keine Angst mehr, für die Überzeugungen auf die Straße zu gehen

 

In dieser stark emotional aufgeladenen Atmosphäre fühlen sich Teile der Bevölkerung zunehmend von der Politik enttäuscht. Laut einer von »TBC Partners« online durchgeführten Umfrage geben 57,6 Prozent der 1383 befragten Internetuser an, ihre Stimmentscheidung bei der Wahlteilnahme zur verfassunggebenden Versammlung zu bereuen. Als Hauptgründe hierfür werden die Bildung von Allianzen zwischen Parteien mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung, nicht eingehaltene Wahlversprechen und Doppelzüngigkeit genannt.

 

Obschon diese Umfrage nicht repräsentativ ist, zeichnet sie ein Bild des starken Vertrauensverlusts zumindest derjenigen, die das Internet benutzen. Als größte Errungenschaft der Revolution werden hingegen das Streikrecht und der soziale Dialog, der Erfolg der ersten demokratischen Wahlen und die freie Meinungsäußerung genannt. Auf der anderen Seite geben nur 15 Prozent der Befragten an, mit der Bekämpfung die Korruption zufrieden zu sein.

 

Somit sehen sich viele Tunesier mit der Situation konfrontiert, dass sie, anstatt neue Rechte einzufordern, die ihnen unter der Diktatur versagt geblieben waren, für den Erhalt von sozialen Errungenschaften, wie die Rechte der Frauen, kämpfen zu müssen. Eines aber kommt ihnen dabei zugute: Die Angst, für ihre Überzeugungen auf die Straße zu gehen, hat die Bevölkerung seit der Revolution vor einem Jahr verloren.

Von: 
Johanne Kübler

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.