Die islamische Unterwelt: ein Ort der Verdammten, wo das Feuer nie erlischt und die Sünder in Flammenmeeren gepeinigt werden? Denkste – auch die Hölle spürt den Klimawandel.
Aus Bibel und Koran kennen wir die Hölle als einen extrem heißen Ort, ein ständig loderndes Feuer. In einem anonymen, womöglich über 800 Jahre alten arabischen Text, dem »Kitab al-Azama – Buch der Erhabenheit (Gottes)«, fand ich neben einer ausführlichen Beschreibung der uns bekannten Hölle jedoch auch ein Fragment zum Temperaturkontrast. Der Autor konnte hier, wie immer unter dem Deckmantel der Gottesfurcht, seine sadistische Seite so richtig ausleben.
Malik ist der Wärter der islamischen Hölle. Im Koranvers 43:77 wird er kurz erwähnt, wenn die Gefolterten ihn fragen, ob der Herr ihnen nicht den Garaus machen kann. Nein, ist die Antwort, ihr bleibt hier! Darauf baut der nachfolgende Auszug aus dem Buch auf. Ein Hinweis vorab: Er ist freie Fantasie eines uns unbekannten Autors und nicht Bestandteil gängigen islamischen Gedankenguts.
Da kommen die Schergen der Hölle hervor, um die Tore wieder zu schließen. Die Bewohner der Hölle toben laut, weinen bitter und sagen: Malik, warum hast du beschlossen, die Tore wieder zu schließen? Er antwortet: Es ist notwendig, sie zu schließen und zu vernageln, denn in Gehenna gibt es nur Enge und Bestrafung; es ist stockdunkel und voller Bestrafungen und Fesseln. Da toben sie laut und sagen: Malik, zeige uns doch etwas, was die Folterung erleichtern kann.
Er antwortet: Betet zu eurem Herrn, dass er die Fessel nicht noch fester anzieht. Das tun sie, aber jedes Mal, wenn sie beten, wird das siedende Wasser noch heißer für sie und die Schergen werden zornig und Feuerzungen schießen aus gegen sie, bis sie elend dran sind. Da flehen sie alle zusammen um Hilfe: Herr, foltere uns, wie Du willst, aber sei nicht zornig mit uns! Dann sagen sie: Malik, gib uns etwas zu trinken, was unsere Eingeweide erquicken kann.
Aber er sagt: Ihr Elenden, in Gehenna gibt es nur siedendes Wasser, flüssiges Kupfer und Ekelkost. Sie sagen: Dies halten wir nicht aus! Er sagt: Ob ihr es aushaltet oder nicht, macht keinen Unterschied; euch wird nur vergolten, was ihr getan habt. Sie toben alle durcheinander und rufen: Malik, Malik! – hundert Jahre lang. Darauf antwortet er: Was ist los, ihr Elenden? Da sagen sie: Malik, bring uns in die Kälte! Die Schergen führen sie in die Kälte, die besteht aus Löchern, Tälern, Höhlen, Grotten, Särgen und Schluchten. Sie schleppen sie aus den Seen des Höllenfeuers und führen sie in die Kälte.
Erfreut kommen sie an bei den Bergen aus dem Schnee und dem Eis der Kälte, bei den Löchern in der Kälte und den Hügeln der Kälte, die von Gottes Zorn sind. In der Kälte gibt es einen Wind, Sarsar mit Namen, der sie mitführt und sie über die Hügel zerstreut und ihr Fleisch ausbreitet, es abschneidet und es in die Kälte wirft. ‘Abdallah Ibn Salam sagte: Bei ihm, in dessen Hand meine Seele ist, die Schergen hören nicht auf, ihr Fleisch abzuschneiden mit Messern von Gottes Zorn, während das Blut aus ihren Körpern strömt und sie nackt und barfuß in der Kälte sind.
Die Folterung durch die beauftragten Schergen endet nie. Hundert Jahre lang rufen sie: Malik, Malik! Aber er sagt zu den Schergen: Gießt etwas Wasser aus der Kälte über ihre Köpfe! Sie tun, wie er es befohlen hat, und es gefriert an ihren Körpern. Sie schreien und toben laut und rufen wieder hundert Jahre lang: Malik, Malik! Da sagt Malik: Wie geht es euch jetzt, Ihr Elenden? Und sie sagen: Wir hatten gehofft, dass unsere Folterung durch die Kälte erleichtert würde, aber sie ist noch schlimmer geworden, also bring uns wieder zurück ins Höllenfeuer!
Da sagt Malik zu den Schergen: Bringt sie zurück ins Höllenfeuer!, und das tun sie. Wenn sie in ihren Unterkünften im Höllenfeuer ankommen, spüren sie, dass es siebzigmal heißer ist als zuvor. Sie rufen hundert Jahre lang: Malik! Da fragt Malik sie: Wie geht es euch jetzt, Elende? Und sie antworten: Bring uns zurück in die Kälte. ‘Abdallah ibn Salam sagte: Sie werden abwechselnd hundert Jahre am einen Ort gefoltert und hundert Jahre am anderen.«
Das hier verwendete Wort für »eisige Kälte«, zamharir, kommt einmal im Koran vor, in Vers 76:13. Er handelt allerdings nicht von der Hölle, sondern vom Paradies, dessen Bewohner sich bei moderatem Wetter entspannen und weder durch Sonne noch durch Kälte belästigt werden – anders als es auf der Erde der Fall ist, sollte man dazu denken. Ich habe nur einen Hadith gefunden, in dem von Kälte in der Hölle die Rede ist: »Der Prophet sagte: ›Die Hölle beklagte sich bei ihrem Herrn: Herr, Teile von mir haben andere verzehrt. Da bekam sie Erlaubnis, zweimal zu verschnaufen: einmal im Winter und einmal im Sommer. Das sind die extreme Hitze, die ihr im Sommer erleidet, und die Eiseskälte, die ihr im Winter erleidet.‹«
Daraufhin habe ich das Wort zamharir in den Korankommentaren von Muqatil Ibn Sulaiman, Tabari, Ibn Kathir und Qurtubi nachgeschlagen. Dort werden hauptsächlich Worterklärungen angeboten. Tabari und Qurtubi zitieren den obigen Hadith; überdies verweist Qurtubi auf eine Verszeile des vorislamischen Dichters Maimun Ibn Qais al-A‘sha (etwa 570 bis 625), die stark an den Wortlaut von Koran 76:13 erinnert. Kurzum, sowohl die Korankommentare als auch die Prophetenüberlieferungen zum Thema sind äußerst dünn – sie können nicht die Inspirationsquelle für die lebhafte Beschreibung im »Kitab al-Azama« gewesen sein.
Der Autor muss Zugang zu anderen Gedankenwelten gehabt haben. Ich habe einen jüdischen, einen christlichen und einen vorislamisch-persischen Text gefunden, wo es in der Hölle kalt ist. Die jüdische Legende zur Höllenfahrt Moses spricht sowohl von Kälte wie auch von Hitze: »Moses willigte ein und sah zu, wie die Sünder verbrannt wurden, die Hälfte ihrer Körper in Feuer eingetaucht, die andere Hälfte in Schnee, während Würmer, die in ihrem eigenen Körper ausgebrütet waren, über sie her krochen ...« In der Hölle, wie sie in der christlichen »Paulusapocalypse« (Visio Sancti Pauli, nach 400) beschrieben wird, ist zumindest ein kalter Ort vorhanden: »Und wiederum erblickte ich dort Männer und Weiber mit zerschnittenen (oder: abgeschnittenen) Händen und Füßen und nackt an einen Ort von Eis und Schnee gestellt, wo Würmer sie verzehrten.«
Ebensowenig mangelt es in der Hölle des zoroastrischen Buchs »Arda Wiraf« (wohl um 600) an Kälte. Auch hier dient der Kontrast zwischen heiß und kalt als Foltermethode: »Dann sah ich die Seelen der Sünder, die ewig Strafen erlitten, wie Schnee, Graupel, Eiseskälte und die Hitze eines lodernden Feuers, Gestank und Steine und Asche, Hagel und Regen und viele andere Übel ... Auf die Seelen derjenigen, die in die Hölle gefallen waren, wurde von unten Rauch und Hitze geblasen und ein kalter Wind von oben.«
Die Vorstellung einer kalten Hölle war in der Antike also ausreichend verbreitet, um den Autor des »Kitab al-Azama« zu inspirieren. Aber in keiner der drei obigen Quellen werden die Kälte und der Kontrast zwischen heiß und kalt so ausgiebig ausgearbeitet wie in diesem Werk. Solange ich keine andere Quelle entdecke, betrachte ich das als einzigartig. Ein kleines Postscriptum: Klaus Gronau wies mich auf Thomas Manns »Doktor Faustus« hin, wo Adrian Leverkühn ebenfalls eine Vision hat, in der Seelen von der Hitze in die Kälte und zurück getrieben werden. Aber ich bin kein Germanist, tut mir leid, hier müssen andere weitermachen.