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‬Kampf um die vierte Gewalt

‬Kampf um die vierte Gewalt

Analyse

Die Pressefreiheit ist eines der höchsten Güter der tunesischen Revolution. Doch dass die Medien sensible Fragen von Identität und Religion aufgreifen, ist vielen ein Dorn im Auge – auch in der Regierung.

Endlich sagen können, was man denkt. Zeitungen lesen, deren Artikel nicht vorhersehbar sind. Im Fernsehen Sendungen sehen, in denen kontroverse politische Diskussionen gezeigt werden, anstelle der immer gleichen, durchchoreographierten Besuche des Präsidenten in der Provinz.

 

In Tunesien gehören die erkämpfte Meinungs- und Pressefreiheit zu den am meisten geschätzten Errungenschaften der Revolution. In einer Internetumfrage wird sie, nach dem Streikrecht und den ersten demokratischen Wahlen, eine der wichtigsten Fortschritte seit dem Sturz des autoritären Regimes Ben Alis genannt. Und doch ist sie noch heute, ein Jahr nach der Revolution, alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Das mussten schon mehrere Journalisten feststellen, die die neu errungene Freiheit nach Ansicht islamistischer Gruppen ein wenig zu wörtlich genommen haben. Aber auch die Regierung versucht, auf die Berichterstattung Einfluss zu nehmen.

 

Das Land, in dem seit seiner Unabhängigkeit von Frankreich im Jahre 1956 die Rolle der Religion im öffentlichen Raum stark beschnitten worden war, erlebt einen wahren Kulturkampf. Erstmals in der neueren tunesischen Geschichte treten radikale Islamisten auffallend in der Öffentlichkeit auf, um ihre Vision der Rolle des Islams im Staat durchzusetzen. Darauf reagiert nicht nur die säkulare Elite mit Entsetzen, auch internationale Organisationen wie Reporter ohne Grenzen sehen die aktuelle Lage kritisch. Sie äußern die Befürchtung, dass nach Jahren der Unterdrückung unter Ben Ali alte Denk- und Schreibverbote nur durch neue ersetzt werden.

 

Ein Animationsfilm wird zum Stein des Anstoßes

 

Ein Beispiel für das Spannungsfeld zwischen Religion und Meinungsfreiheit, dem sich viele Medien ausgesetzt fühlen, ist der Fall des TV-Kanals Nessma. Für den tunesischen Privatsender wurde die Ausstrahlung des auch in Deutschland erfolgreichen Animationsfilms »Persepolis« im Oktober 2011 ein Fiasko. Zwar war der Film über Kinder- und Jugendjahre der Autorin Marjane Satrapi während und nach der iranischen Revolution mehrmals in tunesischen Kinos gezeigt worden ohne Proteste hervorzurufen.

 

Im Kontext der anstehenden Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung wurde seine Ausstrahlung jedoch zum Politikum, denn sie stellte offen die Frage nach der Rolle des Islams im Staat und der Gefahr einer Einverleibung der Revolution durch die Islamisten.

 

Während eine gewisse Provokation sicherlich beabsichtigt war, kam der Gegenschlag mit großer Wucht. Salafisten nahmen an der bildlichen Darstellung Gottes Anstoß und versuchten, die Sendezentrale zu stürmen. Ein Journalist des Senders sah sein Auto mit »Ungläubiger« besprüht, und gegen den Direktor des TV-Kanals wurde ein juristisches Verfahren angestrengt, das ihm auf Grundlage des vorrevolutionären Presserechts »Religionsbeleidigung«, »Erregung öffentlichen Ärgernisses« und »Verstoß gegen Anstand und Sittlichkeit« vorwirft. Die Situation eskalierte am ersten Tag der Verhandlung, als Demonstranten Journalisten angriffen, die in Solidarität zu Nessma erschienen waren. 

 

Identitätsdebatte unerwünscht

 

Neben den Religiösen reagieren aber auch andere Gruppen mit Entsetzen, wenn in den Medien an althergebrachten Tabus gerüttelt wird. Ein weithin propagierter Grundsatz ist die vermeintliche ethnisches Homogenität des Landes. Anders als andere Maghrebstaaten wie Marokko und Algerien, in denen sich Teile der Bevölkerung zu einer berberischen Herkunft bekennen, gilt Tunesien als nahezu vollständig arabisiert. Abgesehen von vereinzelten Stämmen in geografisch isolierten Gebieten im Süden des Landes, die ihre Kultur zur Unterhaltung der Touristen offen ausleben durften, ist es in Tunesien verpönt, sich den Berbern zugehörig zu erklären.

 

Die Verneinung des Beitrags der berberischen Kultur zur tunesischen Identität stammt noch aus der Zeit des Staatsgründers Bourguiba. Die Vitalität dieses Tabus musste Rym Saїdi erfahren, auch sie ist Moderatorin bei Nessma TV. Während einer von ihr geleiteten Diskussionsrunde erwähnte sie, dass sie sich den Berbern zugehörig fühle, und löste einen Skandal aus. Nicht nur musste sie sich von ihrem Diskussionspartner vorhalten lassen, dass ihr Bekenntnis »schlimm sei«.

 

Seither erhält sie Drohungen per E-Mail und auf Facebook werden Gruppen gegründet, die zu Gewalt gegen sie aufrufen. Denn obschon sich Tunesien nach außen hin immer als eine tolerante Nation gab, in der Phönizier, Römer, und Osmanen aufgegangen sind, erscheint tunesischen Nationalisten die Aussicht auf ein Wiedererstarken diverser regionaler Identitäten als Angriff auf den Zusammenhalt der Nation.

 

Zweifelhafte Personalpolitik in den staatlichen Medien

 

Polemiken um die religiöse und ethnische Identität des neuen Tunesiens schlagen hohe Wellen und polarisieren die Gesellschaft. Doch anstatt die Pressefreiheit zu verteidigen und derartige gesellschaftliche Diskussionen in gemäßigte Bahnen zu lenken, fallen die neuen Regierungsparteien in altbekannte Muster zurück.

 

So wurde auf der einen Seite dem Journalisten Heithem El-Mekki vom Kanal Watanya 1 gekündigt, da er nicht politisch neutral sei und dies mit der Arbeit bei einem staatlichen Sender nicht vereinbar sei. El-Mekki hatte auf seinem Blog und in von ihm moderierten Radiosendungen die islamische Regierungspartei Al-Nahda scharf kritisiert. Watanya 1, dem früheren Propagandakanal Tunisie 7 des gestürzten Regimes, ging dies zu weit.

 

Während viele Journalisten die Rückkehr der alten Kader Ben Alis fürchten, sorgte auf der anderen Seite die einseitige Besetzung von zentralen Posten in staatlichen Medien durch den Nahda-Premierminister Hammadi Jebali, unter Umgehung der zuständigen unabhängigen Organe, für Protest. Laut einem Interview auf Atlasinfo.fr mit Larbi Chouikha, Mitglied der Instanz zur »Reform der Informations- und Kommunikationstechnologien«, unterliegt »jede politische Macht der Versuchung zu kontrollieren. Daher ist es notwendig, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen.«

Von: 
Johanne Kübler

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