Der wichtigste iranische Aktienindex hat seit Anfang des Jahres seinen Wert um über 350 Prozent gesteigert. Gleichzeitig ist die Wirtschaft des Landes in der größten Krise seit langem. Wie passt das zusammen?
Während Iran eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen seit langer Zeit durchmacht, schwingt sich die Teheraner Börse zu fantastischen Höhen auf. Dabei hat der Wechselkurs am 22. Juni den Negativrekord von 190.000 iranischen Rial für einen US-Dollar gebrochen, die Inflation schnellte 2019 nach oben und stabilisiert sich nur langsam, während US-Sanktionen und Corona-Krise die iranische Wirtschaft in die Zange nehmen.
Dennoch erlebt die iranische Börse, die Tehran Stock Exchange, einen ungeahnten Aufschwung. Der iranische Aktienindex TEDPIX, an dem die größten Unternehmen des Landes gelistet sind, hat seit Anfang des Jahres seinen Wert um über 350 Prozent gesteigert. Eine wirtschaftliche Krise und ein Boom an der Börse: Wie passt das zusammen?
Die Antwort: Gar nicht. Zumindest nicht nach der einfachen ökonomischen Theorie. Der zufolge sollte sich der Preis einer Aktie danach richten, wie viele Zahlungen, zum Beispiel Dividenden, eine Investorin erwartet. In einer gesunden, wachsenden Wirtschaft erwartet sie, dass die Unternehmen insgesamt Erfolg haben und deshalb in Zukunft hohe Dividenden ausschütten. Investoren setzen auf erfolgreiche Aktien, also steigt deren Preis. Ein steigender Aktienindex bedeutet also, dass die Investoren an wirtschaftlichen Erfolg und Wachstum glauben. Doch in Iran liegt die Wirtschaft in Trümmern, während der Wert des TEDPIX weiter steigt.
Inflation frisst Ersparnisse
Das Phänomen lässt sich durch das Prinzip von Angebot und Nachfrage erklären. Hohe Nachfrage nach Aktien bedeutet einen hohen Preis der Aktie. Das heißt, der TEDPIX erreicht derartige Höhen, weil die iranischen Investoren eine sehr starke Nachfrage nach Aktien mitbringen. Aber warum setzen Investoren gerade jetzt unbedingt auf Aktien?
Ein Grund ist, dass sie derzeit nur noch auf dem Aktienmarkt wirklich Gewinne machen könnten, erklärt Mohammad Farzanegan, Wirtschaftsprofessor an der Universität Marburg. 2019 sei der Goldpreis um 30 Prozent gestiegen, der Devisenhandel mit US-Dollar sei um 20 Prozent gewachsen und Immobilien hätten ein Wachstum von 62 Prozent versprochen – auf den ersten Blick beeindruckende Zahlen. Doch im gleichen Zeitraum wurde die Währung um 40 Prozent entwertet. Gold wurde so trotz seines steigendens Werts zu einem Verlustgeschäft. Ganz im Gegensatz dazu ist der Wert der Teheraner Börse von Juni 2019 bis Juni 2020 um unglaubliche 500 Prozent gestiegen.
Doch nicht nur Investoren wollen ihren Gewinn maximieren. Die iranische Bevölkerung steht unter enormen Druck. Die galoppierende Inflation frisst den Menschen die Ersparnisse weg. Dabei konnten die Menschen nicht auf das klassische Modell bei den Banken setzen. Denn ein Sparbuch wirft in Iran derzeit zwar bestenfalls 15 Prozent Zinsen ab. Das bringt nicht viel, wenn die Inflation wie im Juni bei 30 Prozent liegt.
Laut Farzanegan bedeutet das Verhältnis von Zinsen und Inflation, dass »das Bankensystem nicht mehr fähig ist, die Kaufkraft der Iraner abzusichern. Das bringt sie dazu, nach Alternativen zu suchen«. Etwa an der Börse. Doch auch andere Faktoren als die Angst vor der Inflation treiben die Iraner auf den Aktienmarkt. Der Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmensberater Bijan Khajehpour schätzt, dass der Aufschwung an der Börse auch symbolischen Wert hat, denn »die junge und gebildete Stadtbevölkerung möchte weg vom traditionellen Sparmodell ihrer Großmütter – Gold, Schmuck, oder wertvolle Teppiche. Ein Investment am Aktienmarkt ist für mich ein Zeichen der Modernisierung«.
Doch nicht nur die iranischen Sparer sind für die Hausse an der Teheraner Börse verantwortlich. Die Zentralbank hat den Leitzins sukzessive heruntergesetzt, sodass Banken immer weniger Zinsen auf Spareinlagen anbieten können. Gleichzeitig kündigte die Regierung an, große Staatsunternehmen zu privatisieren – und zwar über die Kapitalisierung an der Börse. Im April erbrachte der Börsengang des staatlichen Sozialversicherers Shasta den höchsten Profit in der Geschichte der Teheraner Börse – der wanderte direkt in die Staatskasse.
Der Staat heizt die Börse weiter an
Doch warum heizt der Staat die Börse weiter an? Laut Ökonom Farzanegan setzt die Regierung auf die Kapitaltransaktionssteuer. Bei jeder Transaktion auf dem Aktienmarkt fallen nämlich 0,5 Prozent Steuern auf den Wert der gehandelten Aktien an. Eine Hausse an der Börse bedeutet: mehr Steuereinnahmen. Und der Aufschwung an der Börse fällt zusammen mit dem ebenso steigenden Volumen des Handels mit Wertpapieren. Während iranische Investoren 2015 noch Aktien im Wert von 8,5 Milliarden US-Dollar verschoben, waren es 2019 fast 66 Milliarden US-Dollar. Davon profitiert der Staat.
Und die Regierung füttert die Börse weiter an. Erst vor einigen Monaten gab Präsident Hassan Ruhani bekannt, die »Justice Shares« zum Handel freizugeben. Das sind Anteile an Staatsunternehmen, die seit 2006 an einkommensschwache Familien verteilt werden. Mit den Anteilen sollten sie von den jährlichen Dividenden der riesigen Staatsbetriebe profitieren. Aufgrund der Flutung des Marktes mit diesen Papieren rechnet der Chef der Teheraner Börse mit einem weiteren Aufschwung des TEDPIX.
Währenddessen sieht die Regierung wegen Sanktions- und Ölpreiskrise ihre Einkünfte einbrechen. Die Regierung plant – auch zum Wiederaufbau der Wirtschaft in der Zeit nach der Corona-Pandemie – nun mit einem Haushaltsdefizit von 15 Prozent. Selbst die Bundesregierung, die eines der weltweit größten Hilfsprogramme geschnürt hat, sieht nur ein Haushaltsdefizit von etwas über sieben Prozent vor.
Das riesige Loch muss gestopft werden. Laut Ökonom Farzanegan kann der Staat dafür auf den Aktienmarkt zugreifen. Denn von einer florierenden Börse kann der Staat doppelt profitieren: ein Mal über die Steuern auf den Handel, dann noch über die Privatisierungen in einem sowieso schon angeheizten Markt. Manche Kommentatoren sprechen auch von einem »manipulierten Boom«. Mit diesen Maßnahmen, insbesondere der Freigabe der »Justice Shares«, würden bald 70 bis 80 Prozent aller Iraner ihr Vermögen an der Börse wiederfinden – und von dem Boom profitieren.
Der Kapitalmarkt nimmt schizophrene Züge an
Aber wie lange geht diese Rechnung noch auf? Die iranische Wirtschaft ist tatsächlich in einem desolaten Zustand – und es gibt keine Aussicht auf Besserung. Seit der einseitigen Aufkündigung des Atomabkommens durch die USA schrumpfte Irans Wirtschaft 2018 um über fünf Prozent, 2019 um fast acht Prozent und dieses Jahr wohl nochmal um sechs Prozent. Die Arbeitslosigkeit liegt – trotz geschönter Zahlen – bei über zehn Prozent. Dennoch strömen die Menschen weiter mit ihrem Vermögen an die Börse. Die wirtschaftlichen Aussichten haben sich von den Preisen an der Börse scheinbar entkoppelt und der Kapitalmarkt nimmt schizophrene Züge an.
Wirtschaftsprofessor Farzanegan denkt, dass Expansion und Wachstum sich für den Index durchaus als nachhaltig erweisen könnten, »Doch für Iran ist das aktuell nicht der Fall.« Die Sanktionen und die Krise durch die Pandemie seien daran schuld. Auch Bijan Khajehpour glaubt: »Faktisch steht die Performance der Teheraner Börse im starken Kontrast zu den allgemeinen ökonomischen Trends in Iran.«
Doch noch profitieren alle Beteiligte. Die hohe Nachfrage steigert die Profite, was wiederum die Nachfrage erhöht. Die Börse schraubt sich immer weiter hoch. Die Preise richten sich nicht mehr nach langfristigen Dividenden. Die Investorin schaut auf kurzfristigen Profit aus Kauf und Verkauf – und die Sparerin wird durch die Inflation auf den Kapitalmarkt getrieben. Doch das hat nichts mit tatsächlichem Wachstum der Wirtschaft zu tun. Was für alle Beteiligten aus individueller Sicht rational scheint, läuft von außen betrachtet auf eine Blase hinaus.
Sollte die platzen, drohen katastrophale Konsequenzen. Denn der Aktienmarkt bietet für arme Haushalte eine Möglichkeit, um über die Runden zu kommen. »Viele Iraner gingen an die Börse, hatten aber wenig Ahnung vom Finanzmarkt – hauptsächlich, weil sie dem Trend gefolgt sind«, analysiert Farzanegan. Im Fall von Marktschwankungen könnten sie ihr gesamtes Erspartes verlieren und noch tiefer in die Armut rutschen. Dabei ist gerade der ärmere Teil der Bevölkerung mit den »Justice Shares« an die Börse gelockt worden. Khajehpour hingegen sieht die seit Jahren schwindende iranische Mittelschicht in Gefahr. Für ihn ist das auch eine Bedrohung für die internationale Sicherheit, da »eine starke Mittelschicht immer das Rückgrat einer reformorientierten und moderaten Politik gewesen ist.«
Doch der Iran-Kurs der US-Regierung und die Corona-Krise werden die Wirtschaft in Iran weiter schwächen. Zusätzlich treiben hohe Inflation und die Maßnahmen der Regierung immer mehr Menschen an die Börse. Wenn die iranische Regierung nicht verantwortungsvoll einschreitet, wird auch bald am Aktienmarkt die Einsicht kommen, dass keine weiteren Gewinne zu erwarten sind. Die Börse würde stagnieren. Die Menschen werden ihr Vermögen sichern und vom Markt abziehen wollen. Die Blase platzt.