Jobs, Würde und soziale Gerechtigkeit. Was aus den zentralen Forderungen des Arabischen Frühlings geworden ist und warum nur ein Sektor seitdem blüht.
Vor einem Jahrzehnt erklangen die Stimmen der jungen Generation in den Straßen von Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Syrien und Bahrain: Sie forderten Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit. Sie sehnten sich nach anständigen Jobs und waren bereit, hart zu arbeiten. Sie gingen auf die Straße, weil sie den alten, unsozialen Gesellschaftsvertrag ablehnten. Denn der vermochte es, anders als in vorherigen Jahrzehnten, nicht mehr, Arbeitsplätze, Bildung und Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.
Immer weniger gesellschaftliche Schichten hatten Zugang zu Absicherungen des Staates – dessen Legitimität durch mangelnde ökonomische Chancen, steigende Ungleichheit und dreiste Vetternwirtschaft ausgehöhlt war.
Wie sieht es ein Jahrzehnt später aus? Brodeln die Kräfte, die den Arabischen Frühling zum Leben erweckten, noch immer? Wie steht es um Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit? Der immense, stets wachsende informelle Sektor in vielen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas beweist die anhaltende Brisanz sozioökonomischer Ungleichheit. In Ägypten und Marokko arbeiten mehr als 70 Prozent aller Beschäftigten in der Schattenwirtschaft. In Tunesien liegt die Quote mit 63 Prozent nur geringfügig niedriger.
Was trieb diese Entwicklung voran? In vielen Ländern der Region gehörten Markteintrittsschranken zu den bevorzugten Instrumenten, um verfilzte Wirtschaftszweige vom Wettbewerb abzuschotten: Das verhinderte eine Entwicklung des Privatsektors, während privilegierte Unterstützer der Regime klangen die Stimmen der exzessiv Profite anhäuften. In Marokko rekrutierte sich dieser Klüngel hauptsächlich aus Politikern und Personen, die über enge Kontakte zur Königsfamilie sowie deren weitverzweigten Holdings und Firmengruppen verfügten.
Die Armen können sich die Arbeitslosigkeit nicht leisten und landen daher in der Schattenwirtschaft.
In Tunesien profitierten vor allem Unternehmen, die Angehörigen von Präsident Zine El-Abidine Ben Ali und dessen Frau gehörten. In Ägypten wiederum waren es Firmen mit direkten Kontakten zur Regierung und Angehörigen der Mubarak-Partei NDP -diejenigen, die Gesetze verabschiedeten, wurden mit Sitzen in Aufsichtsräten bedacht.
All dies begrenzte den Wettbewerb, abgeschottete Märkte führten zu dem, was in der Wirtschaftswissenschaft als Phänomen der »fehlenden Mitte« bezeichnet wird. Den alten und etablierten Großkonzernen steht dabei eine große Anzahl informeller Kleinunternehmen gegenüber. Was fehlt, sind innovative, junge und wachsende Firmen, die Arbeitsplätze schaffen. Dieses politisch motivierte System ist dafür verantwortlich, dass die Region inzwischen die weltweit höchste Jugendarbeitslosigkeit verzeichnet und nur der informelle Sektor nachhaltig wächst.
Hinzu kam, dass Regierungen mit marktorientierten, neoliberalen Reformen in den 1990er Jahren Einstellungen im öffentlichen Sektor erst beschränkten, seit dem Jahr 2000 sogar fast auf Eis legten. Im Staatsapparat stehen immer weniger Jobs zur Verfügung. Die Privatwirtschaft konnte diese Entwicklungen nicht abfedern – Entlassene und diejenigen, die neu auf den Arbeitsmarkt drängten, reihten sich gemeinsam in das Heer der Arbeitslosen oder informell Beschäftigten ein.
Die Armen können sich die Arbeitslosigkeit nicht leisten und landen daher in der Schattenwirtschaft. Informelle Arbeit ist in der Regel unqualifiziert und schlecht bezahlt, sie findet sich vor allem in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, im Straßenverkauf oder bei einfachen Dienstleistungen, die in erster Linie von Menschen erbracht werden, die vom Dorf in die Städte ziehen. Informelle Beschäftigung bringt also eine Lohnbenachteiligung mit sich, sie ist unsicher und begrenzt die Entwicklungschancen der Arbeitnehmer sowie deren Chance auf höhere Löhne.
In Kairo reißt die Regierung buchstäblich die Infrastruktur für den öffentlichen Verkehr ein, um mehr Platz für die Mercedes- und BMW-Karossen der Reichen zu schaffen.
Dadurch entsteht eine Unbeweglichkeit, die als »Informalitätsfalle» bezeichnet wird. Seit einigen Jahren wird die Situation durch höhere Lebenshaltungskosten verschärft, die sich in der gestiegenen Inflation widerspiegeln. Seit Beginn der Aufstände im Jahr 2010 stieg der Verbraucherpreisindex, also das durchschnittliche Preisniveau lebenswichtiger Waren, in Tunesien um 55 Prozent, in Ägypten sogar um 62 Prozent.
Zahlen aus Ägypten zeigen, dass auch der unregulierte Schwarzmarkt starken Wettbewerbsdynamiken durch immer stärker verzweifelte Arbeitnehmer ausgesetzt ist: Die niedrigsten Löhne sinken weiter – die Kluft zwischen Gutverdienern und Billiglöhnern wächst. Immer mehr Jobs für die Massen, die vom geregelten Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden, trugen zudem zur Stabilität der politischen Regime bei; denn informell Beschäftigte können keine Gewerkschaften oder Berufsverbindungen gründen. Ihre ökonomischen und politischen Sorgen bleiben meist ungehört – es sei denn, die aufgestaute Wut dindet Ausdruck in individuellem Protest, wie dem, der letztlich den Arabischen Frühling entfachte.
Die Einkommens- und Vermögensungleichheit wird immer größer, auch wenn konventionelle Indikatoren für Ungleichheit teilweise etwas Anderes behaupten. Vielen Messverfahren gelingt es nicht, die Spitzeneinkommen richtig zu erfassen. Und während die soziale Absicherung für den Großteil der Bevölkerung weiter schrumpft, wenden sich die Wohlhabenden privaten Gesundheitsversorgern und Bildungseinrichtungen zu. In Kairo reißt die Regierung buchstäblich die Infrastruktur für den öffentlichen Verkehr ein, um mehr Platz für die Mercedes- und BMW-Karossen der Reichen zu schaffen.
Das Familieneinkommen, der Bildungsgrad der Eltern, der Wohnort, das Geschlecht – alles Faktoren, die junge Leute kaum selbst beeinflussen können – bestimmen in zunehmendem Maße den Zugang zu Bildung, fließendem Wasser oder Strom, zur Grundversorgung, die nötig ist, um im Leben voranzukommen. Die Chancenungleichheit steigt – die ökonomische Wende zum Besseren blieb aus.
Die Reformanstöße aus Tunesien und Marokko sind ein Anfang. Es ist zweifelhaft, ob sie wirklich tiefgreifenden sozialen Wandel möglich machen, aber die Lage ist nicht komplett hoffnungslos.
Auf politischer Ebene entwickelten sich die Gesellschaftsverträge in Ägypten, Marokko und Tunesien unterschiedlich. In Ägypten wurde die ohnehin schon unsoziale Übereinkunft noch unsozialer. Die Armee betreibt immer mehr Unternehmen und ist zum führenden wirtschaftlichen Akteur aufgestiegen. Sie verfolgt eigene finanzielle Inte- ressen und ist daher alles andere als unparteiisch. In Marokko behielt der König seine Vorrangstellung, zeigte jedoch auch Reformwillen: Die Industriepolitik im heimischen Markt gestaltet sich inzwischen etwas inklusiver, was die Grundlage für einen breiter gefassten Gesellschaftsvertrag schaffen könnte.
Tunesien sucht einen Weg, der noch mehr gesellschaftliche Schichten einschließt. Konsens über eine klare wirtschaftspolitische Ausrichtung herzustellen, ist jedoch nicht leicht, zumal immer wieder auch Extrempositionen im Raum stehen. Auch die Corona-Pandemie und der dadurch verursachte wirtschaftliche Schaden stellen eine weitere ernsthafte Bedrohung für den Wandel in Tunesien und Marokko dar.
Die ernüchternde Bilanz lautet: Seit 2010 verzeichnet die Region kaum wirtschaftlichen Fortschritt, von dem das Gros der Bevölkerung hätte profitieren können. Für echten Wandel wären grundsätzliche Veränderungen der Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen notwendig. Die Reformanstöße aus Tunesien und Marokko sind ein Anfang. Es ist zweifelhaft, ob sie wirklich tiefgreifenden sozialen Wandel möglich machen, aber die Lage ist nicht komplett hoffnungslos.
Politische Entscheidungsträger müssen glauben, dass der nächste Arabische Frühling vor der Tür steht, sie müssen das Gefühl haben, dass ihre eigenen Positionen ständig und glaubhaft in Gefahr sind. Und darauf müssen sie reagieren – mit Reformen, nicht mit Repression.
Prof. Dr. Amirah El-Haddad ist Ökonomin und arbeitet für das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik im Forschungsprogramm »Transformation der Wirtschafts- und Sozialsysteme«.