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Kursverfall, Inflation und politische Proteste in der Türkei

Die Lira-Schockwelle

Analyse
Recep Tayyip Erdoğan
Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der Türkei. Foto (verändert): Presidencia de la República Mexicana / CC BY

Kursverfall, Inflation und politische Proteste: Bebt die türkische Wirtschaft, wackeln auch Montagehallen und Bankgebäude in Europa.

Hunderte Demonstranten marschierten im Dezember in der türkischen Millionen-Metropole Istanbul und in der Hauptstadt Ankara. Sie fordern ein Umdenken in der Wirtschafts- und Sozialpolitik des Landes, ihr Slogan: »Es reicht!«. Die Ordnungskräfte greifen hart durch und nehmen nach Medien-Angaben 90 Personen fest. Aufgerufen hatte die linke Gewerkschaft DİSK. Die Proteste zum Jahresende 2021 spiegeln den Unmut vieler Menschen über die wirtschaftliche Situation in der Türkei wider, und die Ängste von Millionen, in die Armut abzurutschen.

 

Doch wie passt diese Angst zum Wachstum der türkischen Wirtschaft? Tatsächlich legte die Volkswirtschaft seit fünf Quartalen in Folge zu – im Schnitt um 9,8 Prozent. Industrieproduktion und Exporte stiegen ebenfalls und das Land zog Investitionen aus dem Ausland in Milliardenhöhe an. Im zweiten Quartal 2021 stieg das Bruttoinlandsprodukt gar um sagenhafte 22 Prozent.

 

Dennoch sind die Abstiegsängste vieler Türken berechtigt. Denn die hohen Wachstumsraten erkaufte sich die Regierung durch günstiges Geld von der Notenbank. Bereits vor der Covid-19-Pandemie waren die Zinsen für einwöchige Darlehen der Zentralbank gesenkt worden – ein bis heute anhaltender Trend. Die Folge war eine Entwertung der Landeswährung Lira, teure Importe und Angebotsinflation. Dazu kamen Produktionsengpässe in Folge der Pandemie, so entstand eine Nachfrageinflation, die das Realeinkommen breiter Bevölkerungsschichten dahinschmelzen ließ.

 

Seit Ende 2019 ist die Inflationsrate in der Türkei zweistellig, derzeit liegt sie bei rund 36 Prozent. Die Arbeitslosenquote beträgt 11,2 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit über 20 Prozent. Der Währungsverfall feuert außerdem die Energiepreise an, da die Energieträger aus dem Ausland importiert werden müssen. Das wiederum sorgt für eine zusätzliche Angebots- und die Nachfrageinflation. Die Folge: In vielen Haushalten schwindet der Wohlstand, ebenso das Vertrauen in die Regierung.

 

Innerhalb weniger Monate stieg der Wechselkurs von Lira zu US-Dollar von 1 zu 9,5 auf 1 zu 20,2. Neben der Zinssenkung der türkischen Notenbank reagiert der Devisenmarkt damit auch auf die sprunghafte Geldpolitik von Präsident Erdoğan und die innenpolitische Instabilität. Die Türkei ist zudem von mehreren Konfliktherden umgeben und teilweise auch in diese verwickelt, etwa in die Bürgerkriege in Syrien und Libyen oder den Gasdisput mit Griechenland und weiteren Ostmittelmeer-Anrainern.

 

Die Wirtschaftslage trifft eine Bevölkerung, die ohnehin bereits politisch polarisiert ist. Der Druck auf den Präsidenten wächst, die Führungsriege des Landes wird mit jedem Tag sichtbar nervöser. In regierungsnahen Medien ist von einem »Befreiungskrieg gegen die Zinslobby« und »imperialistischen Mächten« die Rede. Andere wiederum plädieren für die Ausrufung eines Notstands, um eventuell drohendes politisches Chaos abzuwenden. Zudem erwägt die Regierung auch eine erneute Verfassungsänderung, die Präsident Erdoğan weitere Befugnisse zusichern würde – in der Hoffnung, dass er sich so bei den für 2023 angesetzten Wahlen gegen die jüngst erstarkte Opposition durchsetzen kann.

 

Würde die Türkei tatsächlich in politische Schieflage geraten, wären die potenziellen Folgen wohl auch in der Europäischen Union zu spüren. Heute leben rund vier Millionen syrische Geflüchtete in der Türkei, die sich dann Richtung EU aufmachen könnten. Politischer Sprengstoff für viele Regierungen und Gesellschaften in der EU. Auch eine Eskalation der Konflikte mit Syrien und Griechenland wäre denkbar, sollte Ankara unter Zugzwang geraten.

 

Erdoğan untergräbt die Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank

 

Doch die Entwertung der Lira kennt auch Gewinner. Der türkische Aktienindex etwa ist auf einem Rekordhoch angekommen. Er war am 16. Dezember 2021 auf 2.185 Punkte gestiegen, ein Plus von 48 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Denn: Die Istanbuler Börse BIST100 wird von exportorientierten Unternehmen dominiert. Sie profitieren von der Inflation, weil so ihre Produkte im Ausland wettbewerbsfähiger werden.

 

Seit langem ist die Türkei ein attraktiver Standort für Investoren aus der EU, den USA und anderen Ländern. Die Produktionskosten sind gering, die Infrastruktur gut ausgebaut und das Geschäftsklima unternehmerfreundlich. Hinzu kommt die historisch attraktive Lage an der Schnittstelle von Europa, Asien und Afrika. So ist die Türkei das ideale Sprungbrett für westliche Unternehmen, die im Nahen Osten, dem Kaukasus oder Zentralasien operieren wollen. Der Kursverfall macht deren Geschäft nun noch lukrativer.

 

Doch Erdoğans Entscheidung für Niedrigzinsen weckte bei ausländischen Investoren Zweifel an seiner Entschlossenheit, die Inflation effektiver zu bekämpfen. Und je stärker Erdoğan die Geldpolitik an sich zieht und Zinssenkungen aus politischem Kalkül anweist, desto mehr untergräbt er die Unabhängigkeit der Zentralbank.

 

Verfechter von Erdoğans Niedrigzinspolitik gehen dabei vom folgenden Szenario aus: Sinken die Zinssätze, steigt zunächst die Inflation – und die Lira verliert an Wert. In Folge dessen werden türkische Waren günstiger und der Export steigt. Gleichzeitig sinkt der Import, weil Waren aus dem Ausland teurer werden – die türkische Industrie wird also teure Zwischenprodukte aus dem Ausland mit inländischen Gütern ersetzen.

 

Am Ende, so die Argumentation, steigt auch die Industrieproduktion. Gleichzeitig ist eine schwache Lira ein Anreiz für ausländische Investoren und Touristen. Mehr Devisen durch den starken Zustrom von Touristen und steigende ausländische Direktinvestitionen und die Ausweitung des Exports werden dann die negative Leistungsbilanz ausgleichen und die Lira wieder aufwerten – die Inflation sinkt.

 

Doch diese Annahmen erscheinen aus mindestens drei Gründen unwahrscheinlich. Erstens ist die türkische Wirtschaft stark von Energie-Importen und hochtechnologischen Zwischenprodukten aus dem Ausland abhängig. Fällt die Lira, werden diese teurer und der erhoffte Wettbewerbsschub bleibt aus. Zweitens sind nicht alle Importwaren – etwa große, enorm komplexe Maschinen oder Anlagen – durch die inländische Industrie ersetzbar. Drittens ist angesichts der wirtschaftlichen Lage in den Hauptabsatzmärkten der Türkei, also der EU, Großbritannien und der MENA-Region, fraglich, ob durch billigere türkische Produkte die Nachfrage in gleichem Maße steigen wird.

 

Erdoğans Niedrigzinspolitik wird von Teilen der Wirtschaft unterstützt. Bauunternehmer profitieren von günstigen Krediten und lukrativen Bauprojekten. Exporteure erhoffen sich mehr Wettbewerbsfähigkeit auf dem internationalen Markt.

 

Bebt die türkische Wirtschaft, wackeln auch Montagehallen und Bankgebäude in Europa

 

Immerhin: Der Abwärtstrend der Lira hat sich seit dem 22. Dezember 2021 umgekehrt, die Kursverluste der vorhergehenden vier Wochen wurden wettgemacht und über eine Milliarde US-Dollar in türkische Lira umgetauscht. Erdoğan hatte zuvor in einer Fernsehansprache verkündet, die Bankeinlagen türkischer Sparer vor Wechselkursschwankungen schützen zu wollen. Die Regierung würde einspringen, sollten die Verluste den von der Zentralbank zugesagten Zins übersteigen. Ist die türkische Wirtschaft also auf Weg der Gesundung?

 

Experten bezweifeln die Nachhaltigkeit von Erdoğans Plan. Am Ende bedeute das Versprechen nichts anderes als eine verdeckte Anhebung des Zinses, analysierte die türkische Wirtschaftszeitung Dünya. Kritiker verweisen außerdem auf die absehbare Belastung des türkischen Haushalts und den zu erwartenden Inflationsdruck. Am Ende könnte die Nachfrage nach US-Dollar erneut drastisch steigen. Bereits in der ersten Januarwoche hat der Dollarkurs erneut zugelegt und ist auf 13,8 TL gestiegen – zum Jahresende lag er bei 10,9 TL. Ozan Demircan, Handelsblatt-Korrespondent in Istanbul, fasste es kurz vor Weihnachten so zusammen: »Erdogan wird mit seinem Experiment an den Märkten scheitern.«

 

Klar scheint, dass die strukturellen Probleme der türkischen Wirtschaft – das Handelsdefizit, die Abhängigkeit von Kapitalzufuhr, Energieeinfuhren und der Import von Zwischenprodukten – nachhaltigem Wachstum im Weg stehen. Die Gefahr einer Wirtschaftskrise schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Land.

 

Ein Kollaps der türkischen Wirtschaft hätte erhebliche Auswirkungen auf die EU. Noch profitieren viele westliche Unternehmen vom Lira-Kurs, denn ihre Produktion in der Türkei wird günstiger, Immobilien sind einfacher zu finanzieren und türkische Unternehmen können preiswert übernommen werden.

 

Doch eine Reihe europäischer Banken, insbesondere aus Spanien, Frankreich und Italien, haben Forderungen in Höhe von mehr als hundert Milliarden Euro angehäuft. Allein spanische Geldhäuser haben 80 Milliarden Euro im türkischen Bankensektor investiert. Eine Pleitewelle oder ein Zusammenbruch des türkischen Bankensystems würde nicht nur Spanien, Frankreich und Italien, sondern den gesamten europäischen Wirtschaftsraum in Bedrängnis bringen.

 

Verliert die Lira weiterhin an Wert gegenüber Euro und US-Dollar, schwindet die Kaufkraft türkischer Unternehmen und Privathaushalte – was die europäische und insbesondere die deutsche Exportwirtschaft hart treffen könnte. Der deutsch-türkische Handel betrug 2020 rund 38 Milliarden US-Dollar. Der EU-Türkei-Handel beläuft sich auf 143 Milliarden US-Dollar, davon Exporte im Wert von 73 Milliarden US-Dollar in die Türkei. Bebt die türkische Wirtschaft, wackeln auch Montagehallen und Bankgebäude in Europa.


Dr. Yasar Aydin ist Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule in Hamburg und Senior Researcher am Foreign Policy Institute. Neben Fachbeiträgen zu Türkei und Migration schreibt er Kommentare für türkische und deutsche Zeitungen. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Türkei. Analyse politischer Systeme«.

Von: 
Yasar Aydin

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